Impfordnungen: widersprüchliche Rationalitäten

Es wird ja gerade diskutiert, die Priorisierung der Covid-Impfungen zu ändern, regional oder auch generell. Das ist ein guter Anlass, ein wenig über die Rationalität solcher Kampagnen zu philosophieren.


Zunächst: Es gibt keine absolute Rationalität. Wörtlich bedeutet Rationalität ja nicht mehr und nicht weniger als „Verhältnismäßigkeit“. Und damit sind wir bei den Verhältnissen, d.h. der Frage, was da ins Verhältnis gesetzt wird. Antwort: Das ist systemspezifisch, oder mit anderen Worten: Rationalität ist immer nur für ein bestimmtes System – und dessen Ziele und Existenzbedingungen – rational.


Das bedeutet für die Impfordnung, dass sie sich an den Zielen messen lassen muss, denen sie dienen soll.


Nehmen wir als Beispiel die Priorisierung der alten und vulnerablen Menschengruppen. Das ist offenbar rational, um die Zahl der Covid-Toten zu reduzieren. Zumindest kurzfristig. Ob das langfristig noch stimmt, ist in Frage zu stellen.


Denn, wenn es darum geht, die Entwicklung von neuen, tödlicheren Mutanten zu vermeiden, wäre es rational, die jungen Leute, die viele Kontakte haben und potenziell als Superspreader fungieren, zu impfen. Am besten sollten dann in erster Linie Clubbesucher geimpft werden. Impfzentrum Berghain. Doch dabei geht es dann eher um die Überlebenseinheit Gesamtbevölkerung, nicht um die Einheit Altenheimbewohner.


Wenn es um die (wirtschaftliche) Überlebenseinheit Touristikindustrie ginge, dann müssten alle Leute geimpft werden, die nach Mallorca wollen. Ähnliches könnte man mit den Besitzern von Theater- oder Konzertabonnements machen, um die Theater offen zu halten usw.


Stellt sich noch die Frage, welcher Systemrationalität die Idee entspringt, man müsse um der Gerechtigkeit willen, auch alle Geimpften daran hindern, ihre ansonsten garantieren Rechte als Bürger wahrzunehmen, auch wenn dadurch nicht andere Leute gefährdet werden. Mir scheint, es geht dabei um ein unterstelltes Gleichheitsbedürfnis, das eher ideologisch als rational zu begründen ist. Schließlich haben – schon aufgrund körperlicher Eigenschaften – Menschen immer schon ungleiche Möglichkeiten: Die einen sind schön, andere sind hässlich, was Auswirkungen auf ihre Partnerwahl haben kann und auch sonst unterschiedliche Lebensmöglichkeiten eröffnet, einige sind groß und können Basketball spielen, andere sind klein und können ohne Knieeschaden Langstreckenflüge in Charterflugzeugen absolvieren, einige sind intelligenter als andere usw. Der Gerechtigkeit halber, müsste man sie irgendwie alle auf ein Gleichmaß stutzen, so scheint die Idee...


Kurz gesagt: Um gleich mehreren Systemrationalitäten gerecht zu werden, d.h. die Durchimpfung der Bevölkerung zu erhöhen und die Todesrate zu senken, ist es sicher nützlich, die Impfung durch die Rückerstattung bürgerlicher Freiheitsrechte zu „belohnen“.