Sachsen

Gestern und vorgestern wurde wieder einmal in Sachsen (Chemnitz) Jagd auf ausländisch aussehende Menschen gemacht.


Wie lässt sich das erklären?, frage wahrscheinlich nicht nur ich mich. Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass Sachsen sich in der Hinsicht hervor getan hat. Unter den sogenannten Neuen Bundesländern geht es Sachsen am besten. Ökonomisch brummt es - zumindest in den großen Städten (und auf dem Land ist woanders auch nicht viel los). Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie noch nie, und Ausländer gibt es nur in geringer Zahl, wenn man das mit anderen Bundesländern vergleicht. Es gibt also, so könnte man folgern, keine objektiven Gründe dafür auf die Strasse zu gehen und andere Menschen zu verprügeln.


Natürlich habe ich auch keine zwingende Erklärunge, sondern kann nur Hypothesen anbieten.


Mir scheint, man muss die gesamte Situation in der ehemaligen DDR im historischen Kontext sehen. Während in der neu gegründeten Bundesrepublik zumindest nach den Auschwitz-Prozessen (aber auch vorher schon zum Teil) ein allgemein beeinträchtigtes Verhältnis zum Deutschsein verbreitet war, da man sich (zumindest als in oder nach dem Krieg geborener junger Mensch) darüber klar war, dass die Identität "deutsch" nichts war, worauf man angesichts der Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangen worden waren, stolz sein konnte (=Täterkultur), wurde in der DDR der Mythos gepflegt, dass die alten Nazis alle in der BRD wohnen, aber die DDR-Bürger alle Antifaschisten und Opfer (!) des Naziregimes waren und von Faschisten umzingelt sind.


Damit wurde womöglich die Grundlage für die Selbstdefinition von DDR-Bürgern (sicher nicht allen, aber doch genügende) als Opfer gelegt. Diese Opferrolle wurde dann noch durch einen - im Vergleich zum Westen - nicht funktionierenden Staat unterstrichen. Er bespitzelte und kontrollierte nicht nur seine Bürger und schränkte sie in ihrer Bewegungsfreiheit ein, sondern er war nicht mal in der Lage, für anständiges Klopapier zu sorgen.


Gemeinsamer Nenner beider Faktoren ist, dass man als Opfer (!) immer den Entscheidungen anderer ausgeliefert zu sein schien, die dementsprechend als Feind oder Gegner erlebt wurden (und werden). Ein Schema der Komplexitätsreduktion, dass hilflos macht und mit Wut beantwortet wird.


Als dann endlich die sehnlichst erhoffte Wiedervereinigung kam, wurden die wahrscheinlich grandios übersteigerten Hoffnungen auf ein Leben in Wohlstand und Freiheit nicht so erfüllt, wie es die Idealisierungen versprachen. Was ist von der DDR geblieben?: das Opferschema. Der Schuldige für ein nicht zufriedenstellendes Leben ist immer außen, und wenn dann Leute von Außen nach innen kommen, dann hat man die Schuldigen ganz konkret vor sich und kann sie jagen...


So ähnlich könnte ich mir die Mechanismen vorstellen, die dazu führen, dass in Sachsen Menschen gejagt werden. Allerdings erklärt das noch in keiner Weise, warum das in Sachsen mehr als woanders geschieht. Vielleicht geht es den Leuten zu gut. Wenn es mehr ökonomische Probleme gäbe, hätte man andere Sorgen und würde seine Zeit nicht mit Migrantenklatschen vertreiben. Aber zufriedenstellend ist solch eine Hypothese natürlich in keiner Weise...


Bleibt noch die politische Ebene: Seit der Wiedervereinigung haben die sächsischen Regierungen (allen voran Kurt Biedenkopf) geleugnet, dass es ein Problem mit rechtsradikalen in Sachsen gibt, ja, überhaupt geben könnte. Das hat diese Leute und ihr Handeln legitimiert, denn, wenn es keine Rechtsradikalen in Sachsen gibt, dann sind eben all die "besorgten Bürger", die kurz mal vermeintliche Migranten zusammenschlagen, auch keine "Rechten". Dass es in der Polizei genügend Sympathisanten gibt, im Landeskriminalamt, beim Verfassungsschutz usw. ist seit dem NSU-Prozess (allerdings wiederum nicht nur für Sachsen) hinreichend bekannt und belegt.