„Stille Nacht, laute Nacht“

 Weihnachten ist vorbei. Sekt und Champagner sind bereits für den Jahreswechsel kalt gestellt. Zwar begegnet einem noch gelegentlich der eine oder andere (vor-) weihnachtliche Duft. Gute Tannenbäume halten bekannter weise ihren charakteristischen Duft bis zum Dreikönigsfest. Lebkuchen, Dresdner Stollen, Zimtsterne und Honigkuchen erfreuen nicht nur den Gaumen sondern auch über die Millionen von Geruchszellen das Unterbewusstsein des Menschen. Bei jedem natürlich individuell sehr unterschiedlich.


Die Nase und der Geruchssinn arbeiten ununterbrochen 24 Stunden pro Tag. Das olfaktorische System (Riechsystem) ist dabei ein uralter Bereich in der Gehirnarchitektur. Das Riechen hat also einen basalen Einfluss, ohne dass wir uns als kognitiv geprägte Neuzeitmenschen dessen bewusst sind. Jeder Duft, aber wem erzähl ich das hier, ist mit einer Emotion gespeichert und beim erneuten Geruch holen wir die Emotion und das gefühlte Bild aus dem alten Gedächtnisspeicher ungewollt, unmittelbar hervor.


Advents- und Weihnachtszeit sind bekannt für ihre einzigartigen, zahlreichen und so seltenen Gerüche. Gerüche, die es in der Regel nur in dieser Zeit gibt. Wahrscheinlich nicht ohne Grund. Ermöglichen sie doch gerade die tiefe emotionale Verankerung (weihnachtlicher) Erfahrungen. Und natürlich verstärkend, jedes Jahr aufs Neue, durch die Wiederholung derselben, eine einzigartige Überzeugungskraft.


Im Unterschied zu anderen sensorischen Reizen triggert der Geruchssinn die emotionale Wirkung unmittelbar / direkt und mit höherer Gedächtnis-Intensität als es bei den anderen Sinnen der Fall ist. Und, man kann, außer man verschließt seine Nase, dem Reiz nicht entgehen. Man „muss“ riechen, auch wenn man nicht will. Auch wenn man es nicht bemerkt.


Vielleicht hilft ja das Wissen um den Vorgang der olfaktorischen Empfänglichkeit sowie Überzeugungskraft ein Phänomen zu erhellen, das so mancher vielleicht noch erinnert.


Es war Weihnachten, ich glaube Anfang der 70er Jahre, als ich in der politisch kritischen Zeitschrift PädExtra einen Artikel über das weihnachtliche, typische Verhalten vieler WG-Bewohner las. Man hätte, so die vielfach vorgetragene Kritik am doch so bürgerlichen Familienfest, unterstrichen durch die lautstarke Überzeugungs-Betonung, Weihnachten hinter sich gelassen. Man sei einfach drüber weg. Und man wolle sich nicht mehr einreihen wollen in die kleinbürgerliche Idylle von „Stille Nacht, heilige Nacht“.


Man verzichtete auf den obligatorischen Besuch im elterlichen Zuhause und fühlte sich dadurch bestärkt, dass die andern in der eigenen WG es ebenso hielten.


Bis auf einen kleinen Unterschied. - Der Autor des Artikels, ein guter Freund von mir, beschrieb dann nämlich eindrücklich und mit einem süffisanten Humor garniert, wie jeder auf seine Art dem Geruch der familiären Erfahrungswelt zu entkommen suchte. Einer drehte die Musik in seinem Zimmer überraschenderweise lauter auf als sonst und rockte bis spät in die heilige Nacht. Ein anderer begann ganz emsig, wie sonst nie zuvor, sein Zimmer aufzuräumen und zu putzen und verlor sich dabei fast im Detail der alternativen WG-Ästhetik. Ein anderer wiederum hatte demonstrativ viele Bücher auf seinen Schreibtisch platziert, um gerade an diesem Abend den großen wissenschaftlichen Wurf zu landen. Aber..........


...........Jeder für sich. Eingekapselt in seinem Zimmer. Schweigend. Insgeheim aber von einem seltsamen Wissen erfüllt, dass in der WG darüber NIE geredet werden dürfte.