Das Auferstehen der Kontrollgesellschaft

Wer in der DDR aufgewachsen ist, erlebt derzeit eine Konfrontation mit alten Erfahrungen, fühlt sich an die Zeit der realsozialistischen Kontrollgesellschaft erinnert. Ostdeutschland war eine „Diktatur des Proletariats“. Demgegenüber leben wir heute freiheitlich-demokratisch. Gerade daher ist es höchst überraschend, dass eine gesundheitspolitische Krise zu Zuständen führt, die an andere Zeiten erinnern, die die Gesellschaft und die Bürger in einer Weise verändern, wie das vor einem Jahr wohl noch keiner für möglich gehalten hat. Mit dieser Zustandsbeschreibung sollen keineswegs die Unterschiede zwischen der Gegenwart und der ostdeutschen Vergangenheit weggewischt werden – im Gegenteil: Wenn angesichts der aktuellen Erfahrungen Erinnerungen und damit Gefühle ins Bewusstsein kommen, die aus einer anderen Zeit stammen, dann ist Differenzierung angesagt, dann gilt es, das Vergangene und das Gegenwärtige zu vergleichen, um sodann das Eine vom Anderen gedanklich wieder zu trennen. Dafür müssen wir uns jedoch zunächst die Qualität der abgelegt geglaubten Gefühle anschauen.


Vor allem lässt sich Angst wahrnehmen – Angst, dass der positive Einbruch der Freiheit, den wir 1989/90 erlebten, durch den negativen Einbruch der Freiheit, also durch das aktuelle Aussetzen liberaler Selbstverständlichkeiten auf unbestimmte Zeit hin abgelöst wird. Ehemalige DDR-Bürger mögen inständig hoffen, dass ihre Angst unbegründet ist und lediglich als Nachwirkung von Traumatisierungen in einem unfreien Staat gelten können, nichts weiter sind als – psychoanalytisch gesprochen: Übertragungen aus einer anderen Zeit. Vielleicht triggert die Gegenwart lediglich alte Gefühle, was zum Vermischen des Vergangenen mit dem Aktuellen führt.


Ein wesentlicher Angsttrigger ist die Erfahrung der durchgehenden sozialen Kontrolle in der DDR-Diktatur, die einem Postulat folgte, das Lenin vertreten haben soll: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Eine solche Kontrolle auf allen Ebenen des Sozialen, angefangen mit der Geburt bis hin zum Tode, war in der realsozialistischen Welt Normalität. Es gab nichts, was der Staat nicht auszuleuchten versuchte. Hintergrund dieses Ausleuchtens war freilich ein bestimmtes Sollen, ein spezifischer Maßstab, wie etwas zu sein hat. Und wenn der Ist-Zustand davon abwich, dann wurde interveniert.


Derzeit erleben wir eine ähnliche Weise der politischen Wirklichkeitszurichtung, die mit drei zentralen Prinzipien einhergeht, und zwar erstens mit der Annahme der objektiven Erkennbarkeit der Welt, zweitens der Idee, die Welt durch zentrale Interventionen zielgerichtet gestalten zu können und drittens der Diskursexklusion von all jenen, die den ersten beiden Konzepten nicht folgen, es sogar wagen, diesen zu widersprechen.


Dass die Welt objektiv erkennbar sei, kann als Grundlage nahezu aller materialistischen Weltanschauungen gelten. Das massenmediale Reporting des Pandemiegeschehen folgt dieser Auffassung konsequent. Die Prämisse ist, dass die menschliche Beobachtung die Welt so spiegele, wie sie wirklich ist. Die marxistische Feststellung, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, ist damit sowohl eine erkenntnistheoretische als auch gesellschaftstheoretische Annahme, die das Handeln, alle Veränderungsversuche, mithin die Interventionen in Natur und Gesellschaft festlegen. Dass aber die Beobachtung das Beobachtete beeinflusst, wird tendenziell ignoriert oder klein geredet.


Angesichts der täglich gemeldeten Infektionszahlen können wir schnell sehen, dass hier der Einfluss der Beobachtung auf das Beobachtete getilgt wird. Es wird so getan, als seien diese Zahlen objektiv. Dabei wird ausgeblendet, dass die Testaktivität, also die Anzahl der Tests die Zahl der positiven Ergebnisse beeinflusst. Weiterhin wird in der täglichen Präsentation der Zahlen, zumindest in den Medien, nicht mitkommuniziert, wie viele Getestete tatsächlich krank, also symptomatisch und wie viele asymptomatisch, also möglicherweise kerngesund sind. Und ganz grundsätzlich wird verschwiegen, dass die Einstellung der PCR-Tests, also wie viele so genannte Zyklen diese durchlaufen, um Virenpartikel erkennbar zu machen, entscheidend dafür ist, wie die Infektiosität eines Menschen bewertet werden kann.


Die Annahme, dass die Welt objektiv erkennbar ist, leitet direkt über zur Idee, dass sie durch Interventionen zielgerichtet geplant, beeinflusst und damit kontrolliert werden könne. Es scheint so, als seien all jene, welche glauben, dass ein respiratorisches Virus effektiv eingedämmt werden kann, dem Machbarkeitswahn anheimgefallen. Obwohl zahlreiche Virologen diese Kontrollierbarkeit grundsätzlich infrage stellen, lässt die Politik sich vor allen von denen beraten, die der Auffassung sind, dass die Virusdezimierung in Richtung Zero oder No COVID möglich sei. Welche Hybris sich dahinter verbirgt, sollten zumindest alle Komplexitätsforscher wissen, denen klar sein dürfte, dass die Ausbreitung und Evolution von Viren mit komplexen bio-psycho-sozialen Dynamiken einhergehen, die genauso wenig kontrolliert wie prognostiziert werden können. Daher erwiesen sich die medienwirksamen Modellrechnungen, die seit Anfang der Pandemie angefertigt werden, regelmäßig als fehlerhaft.


Wer allerdings auf die Ungereimtheiten der Pandemiebeobachtung und -bekämpfung hinweist, deren Problematik konstatiert und die politischen Maßnahmen kritisiert, muss mit einem Diskursausschluss rechnen, so dass weder die öffentlich-rechtlichen Medien noch die Politik diesen Leuten noch Gehör schenken. Wer dem politisch und massenmedial konstruierten Corona-Narrativ widerspricht, gilt schnell als Corona-Leugner. Allein die Tatsache in diesem Zusammenhang von einem „Narrativ“ zu sprechen, wirkt möglicherweise verdächtig. Denn Narrative sind keine objektiven Beschreibungen, sondern immer auch anders mögliche Erzählungen, in denen ausgewählte Beschreibungen mit Erklärungen und Bewertungen der beobachteten Welt sinnhaft verbunden werden.


Zentrale Erkenntnisse der Geistes- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts scheinen derzeit über Bord geworfen zu werden. Seit den 1980er Jahren waren die großen Erzählungen, die Metanarrative, wie sie der französische Philosoph Lyotard genannt hat, auf dem Rückzug. Die positive Variante der Postmoderne war angebrochen: Die Welt entwickelte sich seitdem sehr erfolgreich. Die Wohlstandsdynamik trug globale Früchte. Überall ging die Armut zurück. Die Kindersterblichkeit sank. Die Welt wuchs zusammen.


All diese Entwicklungen sind nun – zumindest vorerst – gestoppt. Und es ist erstaunlich, wie schnell dies erfolgte. Die neue große Erzählung, die die Welt orientiert, scheint ein Gesundheitsnarrativ zu sein. Und damit entblößt sich eine negative, dystopische Variante einer postmodernen Gesellschaft, in der die letzten Unverfügbarkeiten der Moderne ausgemerzt werden sollen. Die Frage ist jedoch, welchen Preis wir dafür zu zahlen haben. Die emotionalen Kosten, die die Menschen spüren, die diktatorische Staaten wie die DDR erlebt haben, können vielleicht als Retraumatisierungen entziffert werden, als ein Wiedererstarken von Ängsten aus längst vergangenen Zeiten. Die sozio-ökonomischen Kosten für unsere Gesellschaft, die damit einhergehenden psycho-sozialen Probleme der Menschen und die Aufweichung der als sicher geglaubten liberalen Freiheitsrechte sind jedoch ganz real und entspringen nicht einer fernen Zeit, sondern unserer derzeit unwirtlichen Gegenwart.