Wissen als Konstruktion

Plädoyer für Komplexitäts-Akzeptanz in Zeiten von Corona/Covid-19


Realität versus Wirklichkeit


Wer in diesen Zeiten auf den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus verweist, der muss aufpassen, dass er nicht als Realitäts-Leugner bewertet und entsprechend missverstanden wird (siehe etwa hier). Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass der Konstruktivismus nicht die Realität leugnet, sondern im Gegenteil, dass er geradezu eine Hochachtung vor dieser hat. Allerdings werden damit zugleich unsere Grenzen als Wissende markiert. Denn in der Konfrontation mit der realen Welt ist es uns nicht möglich, diese Realität, wie sie „an sich“ (im Sinne von Immanuel Kant) ist, abzubilden. Es lassen sich jedoch Wirklichkeiten „für uns“ konstruieren, die sich zwar unter den realen Restriktionen der Welt bewähren müssen, aber niemals zur Deckung mit der Realität „an sich“ gebracht werden können.


Die Unterscheidung von Realität „an sich“ und Wirklichkeit „für uns“ ist für den Konstruktivismus zentral. Mit anderen Worten, die Wirklichkeit „für uns“ wird von der Realität „an sich“ nicht determiniert, aber begrenzt. Das heißt, dass die Realität zahlreiche Wirklichkeiten zulässt. „Viele Wege führen nach Rom“, wie es in einem bekannten Sprichwort heißt. Jedoch führen nicht alle Wege dorthin, es gibt Möglichkeiten des Scheiterns. Wenn unsere Wirklichkeiten an der Realität zerbersten, dann können wir mit Karl Popper von Falsifikation sprechen.


Falsifikation von Wirklichkeit durch Realität


Der Tod ist die extremste Falsifikation. Er konfrontiert uns mit einer Realität, die eine Wirklichkeit zum Einstürzen bringt, in der die Gefahr, die Covid-19 für bestimmte Menschen bzw. Risikogruppen hat, nicht vorkommt. Zweifellos könnten wir hier auch die Wirklichkeit der Lockdown-Verteidiger problematisieren – zumindest dann, wenn diese nicht sehen, dass die maximal-invasive Intervention in das soziale Leben der Gesellschaft nicht nur schützt, sondern auch schädigt, vielleicht sogar Menschen tötet, die in Krankenhäusern nicht rechtzeitig behandelt werden konnten, die aufgrund von Vereinsamung gestorben sind oder gar Suizid begangen haben.


Falsifikation als Scheitern einer Wirklichkeit an der Realität heißt jedoch nicht, dass wir die Realität erkennen können. Uns ist es lediglich möglich, die Grenze wahrzunehmen, die eine passende von einer unpassenden Wirklichkeit unterscheidet. Auf der Seite der Passung allerdings können wir Pluralität entdecken. Zahlreiche Wirklichkeiten lassen sich denken, die in den Grenzen der realen Restriktionen brauchbar, viabel sind, wie es mit Ernst von Glasersfeld heißt. Und das gilt vor allem in den Bereichen der bio-psycho-sozialen Welt, also dort, wo wir es mit lebenden, psychischen und sozialen Systemen zu tun haben.


Komplexe, nichttriviale Systeme


Lebende Systeme, also insbesondere Organismen, Psychen und Sozialsysteme können wir als komplexe und nichttriviale Systeme bewerten. Solche Systeme steuern sich selbst. Sie werden von der Umwelt begrenzt. Sie können scheitern, etwa als Organismen sterben. Aber auf der Seite des Lebens, des „Funktionierens“ ist vieles möglich. In der Systemtheorie wird das Prinzip, das diese Systeme in ihrer Selbstorganisation bestimmt, mit Humberto Maturana oder Niklas Luhmann Autopoiesis genannt.


Unsere bio-psycho-soziale Welt ist also komplex und nichttrivial. Wir können diesbezüglich niemals die Realität erkennen, sondern nur Wirklichkeiten konstruieren, die bestenfalls passend sind, aber auch scheitern können. Daher ist unser wissenschaftliches Wissen eine Entsprechung dieser Situation: Es ist plural, vielfältig und zum Teil widersprüchlich. Solange es jedoch nicht falsifiziert ist, es von Wissenschaftler/innen und Praktiker/innen zur Orientierung ihrer Arbeit erfolgreich genutzt wird, passt es offenbar, um etwa Theorien zu entwickeln, erhobene Daten zu interpretieren, Probleme zu lösen bzw. beobachtete Phänomene zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten.


Wirklichkeit als Beschreibung, Erklärung und Bewertung


Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen sind die Operationen, um mit Fritz B. Simon zu sprechen, die wir vollführen, wenn wir in Konfrontation mit der Realität unsere Wirklichkeiten konstruieren. Beschreibungen entspringen Beobachtungen, also bestimmten Fokussierungen der Aufmerksamkeit. Beim Beobachten schauen wir auf einen Ausschnitt der Realität, der durch uns selbst mitgeprägt wird. Wir beobachten das, was wir beobachten, obwohl wir auch anderes beobachten könnten. Diese Beobachtungspräferenz geht mit einer Bewertung einher, die etwa jenes und nicht dieses als „wichtig“ oder „relevant“ ansieht. Jedes Beobachten setzt diese bewertende Unterscheidung voraus, und zwar zwischen der Aufmerksamkeitsrichtung und dem blinden Fleck, mit dem das gemeint ist, was wir gerade nicht beobachten (können). Insofern ist jedes Beobachten eine „Reduktion von Komplexität“ (Niklas Luhmann). Die Ergebnisse unserer Beobachtungen gehen in Beschreibungen ein. Wenn wir so beschreiben, dass dabei Ursachen und Wirkungen unterschieden werden, dann kreieren wir Erklärungen. Wir nutzen den Mechanismus der Kausalität, ohne jedoch zu wissen, ob dieser der Realität selbst entspricht. Er ist unser Beschreibungsprinzip.


Aufgrund der komplexen Realität und unserer Fähigkeit, über Beobachten, Beschreiben, Erklären und Bewerten Wirklichkeiten zu konstruieren, leben wir in pluralen Verhältnissen, die es auszuhalten gilt. Das trifft mindestens für all jene Wissenschaften zu, welche sich mit Menschen und ihren sozialen Verhältnissen befassen.


Grenzen des Erkennens und Ambivalenz des Wissens


Wer jetzt fragt, woran wir denn erkennen können, dass das Wissen, das uns als wissenschaftlich präsentiert wird, vertrauenswürdig ist, der sollte genau beobachten, ob die Wissenschaftler/innen ihre eigenen Grenzen reflektieren. Wer um die eigenen Grenzen seines Wissens weiß, sucht geradezu die Kritik der anderen, sehnt sich nach Falsifikationsversuchen, um seine Wirklichkeit zu konkretisieren, zu differenzieren, zu erweitern bzw. zu korrigieren. Zudem sind solche Wissenschaftler/innen hinsichtlich von Prognosen abstinent. Denn komplexe Realitäten können wir in ihren Dynamiken mit unseren Wirklichkeitskonstruktionen nur äußerst begrenzt vorhersehen. Daher tritt eine in dieser Weise reflektierte Wissenschaft mit äußerster Bescheidenheit auf.


Und so gilt auch heute bzw. wird sogar noch deutlicher sichtbar als in den Hochzeiten der Entwicklung der konstruktivistischen Erkenntnistheorie in den 1980er Jahren, was Wolfgang Welsch pointiert: „Ambivalenz ist das mindeste, womit man bei den gegenwärtigen Verhältnissen rechnen muß. […] keine Wirklichkeitsbeschreibung […] ist tragfähig […], die nicht zugleich die Plausibilität der Gegenthese verfolgt“ (W. Welsch: Identität im Übergang, in: W. Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1990, S. 192).


Was heißt dies nun aber für den Umgang mit der Realität von Corona/Covid-19 und unseren diesbezüglichen Wirklichkeiten?


Akzeptanz von Pluralität als Lernvoraussetzung


Zunächst gilt es anzuerkennen, dass wir angesichts der Corona-Pandemie ebenfalls unterschiedliche Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen auszuhalten haben, die alle in ihrer jeweiligen Reichweite begrenzt sind. Sie bilden die reale Komplexität der bio-psycho-sozialen Verhältnisse nicht ab, sondern sind bestenfalls brauchbare Modelle, die bestimmte Fragen beantworten, andere jedoch nicht. Daher sind sichere Prognosen der Pandemie-Entwicklung nicht möglich. Sowohl die Schwarzmaler, die zweite oder dritte Wellen kommen sehen, als auch die Optimisten, die behaupten, dass die Pandemie bereits zu Ende ist, sollten mit äußerster Skepsis betrachtet werden. Komplexe systemische Zusammenhänge lassen hinsichtlich ihrer dynamischen Entwicklung nur Vermutungen zu - nicht mehr und nicht weniger.


Im Umgang mit dem Virus scheint ein iteratives Vorgehen angemessen, ein permanentes Überprüfen von eingeleiteten Maßnahmen, ein "Reflection in Action" (D. Schon). Zudem sollten die unterschiedlichen Perspektiven und möglichen Reaktionsweisen auf die Pandemie anhaltend intensiv diskutiert und überprüft werden, so dass die Maßnahmen aus der Entweder/oder-Logik zwischen Lockdown und Normalisierung befreit werden können. Es sind kreative Zwischenlösungen notwendig (siehe dazu etwa hier). Und diese Lösungen sollten die spezifischen Realitätsdimensionen der unterschiedlichen Weltregionen beachten, etwa hinsichtlich der ökologischen Bedingungen und der sozialen, etwa gesundheitlichen Infrastrukturen, die nicht adäquat mit identischen Wirklichkeitsmodellen bewertet werden können. Somit zeigt sich der in Deutschland nun eingeschlagene Weg der dezentralen Bearbeitung des Corona-Problems als aktuell passende Strategie.


Schließlich laufen all diese Perspektiven auf die These hinaus, dass die Gesellschaft im Umgang mit dem Virus ihre Lernfähigkeit vor allem dann steigern wird, wenn sie die Pluralität der realitätsgesättigten Wirklichkeitskonstruktionen achtet und einbezieht. Kann sich doch so die Wirklichkeit in der Konfrontation mit der Realität in einer Weise differenzieren, die Möglichkeiten hervorbringt statt zu eliminieren (siehe weiterführend dazu hier). Diese plurale Differenzierung erscheint nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie die soziale Immunität gegen all jene Kommunikationen stärken könnte, die derzeit eine "Verschwörung" von wem oder gegen wen auch immer in den Äther schicken.