Der Einbruch der Freiheit – revisted

Die Illusion vom Kollabieren der Ost-/West-Unterscheidung in der Corona-Krise


Wenige Tage ist es her, da erinnerte ich mich wieder an den so genannten „Tag der Republik“. Der 7. Oktober war in der DDR ein Nationalfeiertag. Damit wurde an die Staatsgründung an eben diesem Tage im Jahre 1949 erinnert. Für mich ist dieser Herbsttag jedoch emotional vor allem verbunden mit meiner Teilnahme an der Freiheitsdemonstration in Berlin am 7.10.1989. Wir trafen uns an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz, liefen mit Zwischenstation am Palast der Republik, wo die Staatsführung geneinsam mit Michail Gorbatschow den 40. Jahrestag der DDR feierte, weiter zur Gethsemanekirche im Stadtteil Prenzlauer Berg. Diese Kirche hatte sich, wie viele ähnliche Orte in der gesamten DDR, zu einem Zentrum der friedlichen Proteste entwickelt. Von solchen Stätten, die es in der DDR der 1980er Jahre einige gab, ging die friedliche Revolution aus, die schließlich zum Einbruch der Freiheit in ein autoritäres realsozialistisches System führte.


Diesen positiven Freiheitseinbruch erlebten viele Menschen nicht nur meiner Generation euphorisch, hoch emotionalisiert und mit dem Willen, die neu gewonnenen Möglichkeiten des Lebens nicht nur zu genießen, sondern etwas daraus zu machen sowie sehr wachsam zu behüten. Daher erfuhr ich im März 2020 mit dem Ausrufen des ersten Lockdowns und den beginnenden Pandemie-Strategien der Politik, der Medien und Teilen der Wissenschaft geradezu eine Re-Traumatisierung, die ich in essayistischen Reflexionen zu bearbeiten versuchte (insbesondere hier: https://kure.hypotheses.org/846). Neben dem Gefühl, dass wir gerade in der Gefahr stehen, etwas zu verlieren, was wir DDR-Bürger erst 1989/90 durch friedliche Proteste errungen haben, nämlich die Freiheit, beschlich mich die Hoffnung, dass wir auch etwas gewinnen könnten, nämlich das Kollabieren der Ost-/West-Trennung. 


Ich vermutete, dass durch die aktuelle kollektive Erfahrung der Corona-Krise die Differenz zwischen Ossis und Wessis mehr und mehr eingeebnet wird. Diese uns sehr prägenden Erlebnisse der politischen und medialen Reaktionen auf eine Pandemie, so dachte ich, werden uns im Osten und Westen zusammenführen, auf ein Gemeinsames hin ausrichten. Die letzten noch trennenden Barrieren zwischen den Ost- und Westdeutschen werden damit einbrechen, und wir werden in einer jetzt endlich gefühlten Einheit, in neuer Gemeinsamkeit in eine Zukunft gehen. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass diese Hoffnung wie eine Seifenblase zerplatzt ist. Die These vom Kollabieren der Ost-/West-Trennung im Kontext der gemeinsamen Bewältigung der Pandemie hat sich als Illusion offenbart.


Die Verarbeitung der pandemischen Freiheitseinschränkungen sowie die Bewertung der staatlichen Maßnahmen und ihrer Protagonisten in der Politik und in ihrer medialen Verkündigung scheinen im Osten und Westen jeweils recht unterschiedlich zu sein. Während ich die Verhältnismäßigkeit der Pandemiebekämpfung seit März 2020 grundsätzlich infrage stellte und mitbekam, dass diese in den neuen Bundesländern tatsächlich auch laxer umgesetzt wurde als in den alten, überkam mich schnell das Gefühl, dass hier alte Erfahrungen offenbar nach wie vor Wirkung entfalteten. Der Corona-Alltag fühlte sich in den neuen Bundesländern weniger rigide und anstrengend an als in den Ländern der alten BRD. Während man im Osten auch mal maskenlos öffentliche Innenbereiche betreten konnte, ohne gleich zur Ordnung gerufen zu werden, erlebte ich im Westen eine extreme Disziplin und bürgerliche Alltagsaufsicht beim Befolgen der so genannten AHA-Regeln.


Mein Vergleich zwischen der DDR und der gegenwärtigen deutschen Pandemie-Republik offenbart drei Muster, die ich als Gemeinsamkeit zwischen diesen Zeitepochen identifiziere und auf die Ostdeutsche, die die Freiheitserfahrung von 1989/90 bewusst erlebten, feierten und nutzten, mit äußerster Skepsis bis Ablehnung reagieren dürften (ausführlich dazu: https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/das-auferstehen-der-kontrollgesellschaft):


Erstens erlebten wir in der DDR und spüren auch jetzt die politische wie mediale Vorstellung, dass es möglich sei, komplexe bio-psycho-soziale Zusammenhänge objektiv zu erkennen und genauestens zu quantifizieren; nichts anderes wird uns mit absoluten, nicht ins Verhältnis gesetzten Corona-Zahlen unterschiedlichster Art nach wie vor täglich vergegenwärtigt.


Zweitens waren die Herrschenden in Ostdeutschland und sind es offenbar auch im pandemischen Deutschland von der Hybris getrieben, sie könnten durch autoritäre Maßnahmen komplexe Zusammenhänge kontrollieren. 


Und drittens wurden in der DDR sowie in den letzten eineinhalb Jahren grundsätzliche Kritikpositionen zu den vorherrschenden, politisch wie medial dominanten Perspektiven nicht nur aus dem Diskurs ausgegrenzt, sondern sogar moralisch, politisch und wissenschaftlich diffamiert.


Dass die Kontrolle eines respiratorischen Virus nicht möglich ist, weil dieses in komplexen bio-psycho-sozialen Zusammenhängen wirkt und jede entsprechende Kontrollintervention mit nicht-intendierten Effekten einhergeht, die grundsätzlich nicht prognostizierbar sind, offenbart das Scheitern der Zero- bzw. No-Covid-Strategien, insbesondere in Australien und Neuseeland. Ich plädiere jedoch nicht für ein Laissez-Faire im Umgang mit Corona, sondern für Maßnahmen, die kompatibel sind mit unseren gewachsenen liberal-demokratischen Prinzipien einer offenen und pluralistischen Gesellschaft (siehe dazu insbesondere die Vorschläge der Gruppe „Corona-Aussöhnung“, mit denen ich weitgehend übereinstimme: https://coronaaussoehnung.org). Das gilt schließlich auch für die Impfstrategie.


Wer das Impfen wie in der aktuellen Weise bewirbt, es mit Verlockungen wie kostenlosen Bratwürsten, rigiden Sanktionen wie 2-G-Regeln oder angedrohtem Lohnstopp bei Quarantäne durchzusetzen versucht, muss sich nicht wundern, wenn die Menschen skeptisch werden, mit Ablehnung und Zweifel auch hinsichtlich dieser Maßnahme reagieren. Gerade im Osten, nicht nur Deutschlands, sondern in ganz Osteuropa, werden wir dann besonders vorsichtig und widerständig, wenn der Staat unsere persönliche Integrität infrage stellt, wenn er uns zu etwas zwingen will, wozu wir uns letztlich nur selbst, durch eigene rational reflektierte und emotional abgewogene Entscheidungen durchringen können, etwa zum Impfen. Und wenn wir uns dagegen entscheiden, dann erwarten wir, dass dies akzeptiert wird.


Wenn wir derzeit auf die Impfquoten der ostdeutschen Bundesländer oder der osteuropäischen Staaten schauen, dann können wir sehen, dass hier die Skepsis gegen diese bio-medizinische Maßnahme offenbar viel größer ist als in den westlichen Bundesländern und westeuropäischen Staaten. Ein Grund dafür scheint die Staatsskepsis zu sein, die Vorsicht gegenüber behördlich angepriesenen Maßnahmen, die in ihrer Rationalität offenbar vermischt sind mit anderen, etwa machtpolitischen oder pharmakologischen Interessen.


Mehr als eineinhalb Jahre nach Beginn der Corona-Krise wird deutlich, dass das Kollabieren der Ost-/West-Trennung keine Folge dieser Krise sein kann, wie ich im März 2020 noch hoffte. Was könnte dann ein positiver Ausblick sein in einer Zeit, die von weiteren Spaltungen, etwa zwischen geimpften und ungeimpften Menschen, belastet ist? Vielleicht ist es die Tatsache, dass die kommunikative Aufmerksamkeit innerhalb der hochkomplexen Gesellschaft wieder in andere Richtungen gehen wird. Das, was uns trennt, sind zumeist unsichtbare Grenzen, sind psycho-soziale Unterscheidungen, Marken, die wir selber setzen. Daher haben wir in unseren sozialen Begegnungen und Gesprächen die Macht, die Aufmerksamkeit in andere Richtungen zu lenken, das Verbindende zwischen uns, das, was uns aneinander sympathisch ist und positiv auffällt, zu fokussieren. Genau dieser Fokus, für den wir uns selbst in jedem Hier und Jetzt jeweils neu entscheiden können, nährt meine Hoffnung. Denn die Freiheit beginnt mit unseren eigenen Wahrnehmungen und ihren sozialen Wirkungen.