Jan V. Wirth/Heiko Kleve: Die postmoderne Ermöglichungsprofession. 128 Leitsätze für die systemische Soziale Arbeit

Jan V. Wirth und ich schreiben gerade an 128 Leitsätzen für die systemische Soziale Arbeit. Es sollen Sätze sein, die wie Axiome bestimmte Grundaussagen des systemischen Modells für die Soziale Arbeit pointiert zusammenfassen. Die Sätze wollen wir zudem knapp erläutern und damit für die praktische Nutzung, konstruktive Anregung und manchmal auch für die Provokation veranschaulichen. Über kritische Kommentare freuen wir uns!


Hier der erste Leitsatz:


Die Welt ist nicht, wie sie scheint und vor allem ist sie nie so, wie sie noch sein könnte.


Dieser Leitsatz enthält drei systemische Anregungen:


Erstens: Wahrnehmungen können überwältigen, blenden, faszinieren, so dass wir uns von besonders intensiven Wahrnehmungen vereinnahmen lassen. Daran ist nichts auszusetzen. Allerdings sind es Wiedererkennbarkeiten, Dauer, Häufigkeiten, Muster und Wiederholungen, die der Wirklichkeit ihre Struktur verleihen und auf die sich unterschiedliche Menschen in ähnlicher Weise beziehen.


Zweitens: Wenn wir Wirklichkeit beobachten, stellen wir fest, wie sie aus unserer Sicht ist. Wir nehmen sie als gegeben an, um in dieser Welt mit einer gewissen Sicherheit zurechtzukommen und hinreichend schnell, erwartbar und enttäuschungssicher Zugangschancen zu sozialen Systemen zu bekommen. Hier entsteht der Wirklichkeitssinn, indem wir anerkennen, wie die Wirklichkeit konstruiert ist. Um einen Weg zu gehen, müssen wir  anerkennen, dass er da ist. Dieser Wirklichkeitssinn ist notwendig, aber nicht hinreichend. Der gewählte Weg könnte sich als Irrweg erweisen. Um den Weg in Frage stellen zu können, brauchen wir unseren Möglichkeitssinn. Der Schriftsteller Robert Musil schreibt:


„Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“


Durch die aktive Anwendung des Möglichkeitssinns können wir den Fokus auf das richten, was für das professionelle Arbeiten unerlässlich ist: auf ein probeweises Umgestalten der präsentierten Wirklichkeit, das Aufstellen von kreativen Beschreibungen, das Fantasieren von Gelegenheiten und Chancen, die es noch nicht gibt. Dieser Möglichkeitssinn kann durch andauernde Konflikte, Krisen oder schlicht durch die Kraft der Wirklichkeit verschüttet werden. Hier liegt die Erkenntnis der nächsten Botschaft.


Drittens: Der Möglichkeitssinn ist für Veränderungsanliegen äußerst relevant. Er lässt sich einerseits bezeichnen als Kraft und Impuls, um Leiden zu begrenzen, zu lindern oder zu beenden. Der Möglichkeitssinn kann andererseits zum Beweggrund und Treiber werden für die Suche nach Ideen, anderen Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Es ist diese unablässige Spannung und manchmal nicht aushaltbare Ambivalenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die uns zu tiefen inneren Konflikten oder auch zu sozialen Unruhen führen kann. Ob es unerfüllte Bedürfnisse, ein geschwächter Selbstwert sind oder das ständige, vielleicht ideenarme Appellieren an die Lebensführung: stets liegt hier ein negativ bewertetes und daher unerwünschtes Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit vor. Diese Spannung ist vergleichbar mit der Spannung von Elektrizität, die bekanntlich nur zwischen Plus und Minus fließt. Das ist der Treibstoff für soziale und individuelle Entwicklung. Er ist permanent verfügbar, wir sind auf ihn angewiesen. Wir können ihn stets im konkreten Fall freilegen oder anregen, wahrnehmen und sprachlich konkretisieren, damit der Erlebens- und Handlungsstrom in die gewünschte Richtung fließt.