Luhmann, seine Theorie und das trojanische Pferd

Nach Nikolaus Kopernikus (die Sonne und nicht die Erde steht im Mittelpunkt unseres Universums) und Charles Darwin (der Mensch ist ein mit den Primaten verwandtes Säugetier) hat Sigmund Freud die dritte so genannte Kopernikanische Wende in unserem Weltbild ausgelöst: Das, was der Mensch als seine besondere Stärke bewertet, die Vernunft bzw. Rationalität, also die intellektuelle Kontrolle über seine Kognition, ist gegenüber der Emotion, insbesondere den unbewussten gefühlsmäßigen Prägungen sekundär. Nicht einmal im eigenen Hause, bezüglich seiner eigenen Persönlichkeit, ist der Mensch Herrscher über das, was er denkt, fühlt oder tut. Geprägt sind seine Psyche, seine Emotionen und sein Verhalten von den tendenziell nicht bewussten Motiven, die aus seiner Lebensgeschichte, insbesondere seinen frühen oder auch späteren, dann besonders existenziellen Erlebnissen entspringen. Diese schreiben sich gar hirnorganisch ein, verändern also gewissermaßen die Hardware der menschlichen Denk-, Gefühls- und Handlungsprozesse.[1] Wenn wir uns rational zu erkennen trachten, dann tun wir dies eingebettet in emotionale Prozesse, die die Vernunft nicht ausleuchten, reflektieren oder gar beiseiteschieben kann. Die blinden Flecken lassen sich nur partiell aufhellen; permanent entstehen jedoch neue.


Niklas Luhmann, der bezüglich dieser psycho-emotionalen Prägungen ins Visier genommen wird, hat gar eine vierte Kopernikanische Wende ausgelöst,[2] indem er nämlich den Menschen aus der Gesellschaft „verbannt“ hat. Sozialsysteme, wie die Gesellschaft, Organisationen und Interaktion, bestehen demnach nicht aus Personen, sondern aus Kommunikationen. Menschen als Einheiten biologischer und psychischer Systeme gehören zu deren Umwelt.[3] Aus dieser Theorieentscheidung folgen sehr umfangreiche Veränderungen der soziologischen, ja, der gesamten sozialwissenschaftlichen Modellbildung – zumindest dann, wenn diese Entscheidungen angenommen und zum weiteren Beobachten und Erklären die Welt genutzt werden.


Luhmann hat eine soziologische Systemtheorie entwickelt, nach der die Gesellschaft aus strikt voneinander separierten Systemen besteht (wie etwa Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien, Recht etc.), die nicht zentral gesteuert werden können, sondern sich jeweils selbst organisieren sowie sich gegenseitig in ihrer Selbstentwicklung sowohl begrenzen als auch ermöglichen.[4]


Indem Luhmann jedoch die Gesellschaft in dieser Weise beschreibt, verändert er sie, zumindest dann, wenn seine Beschreibungen innerhalb der Gesellschaft aufgegriffen werden und zur Beobachtung und möglicherweise sogar zu Veränderungsversuchen sozialer Strukturen und Dynamiken genutzt werden. Obwohl der 1927 in Lüneburg geborene und bis 1994 an der Universität in Bielefeld lehrende Soziologe soziale Systeme lediglich beschreiben und erklären wollte, hat er dennoch, sogar mit vorsichtiger Intention, an deren Veränderung gearbeitet. Dies hat er, insbesondere hinsichtlich der Ökologiebewegung, selbst gesehen und durchaus mit Sympathie betrachtet. Ihm war es recht, wenn Gesellschaftsgestalter:innen mit seiner Systemtheorie „eines Besseren belehrt werden“,[5] wenn sie also reflektierter, vielleicht auch bescheidener, auf jeden Fall weniger naiv an ihre Veränderungsversuche herangehen.


„Die Theorie wirkt dann, politisch, als trojanisches Pferd“.[6]


Ein „trojanisches Pferd“ könnten jedoch auch Luhmanns frühe Lebenserfahrungen im deutschen Faschismus sein; diese beeinflussten, womöglich kaum bemerkt, seine Theoriearbeit und färbten seine Publikationen entsprechend ein. Ein paar Hinweise dafür lassen sich in den Interviews finden, die Luhmann in den letzten Jahren seines Lebens (er starb 1998) zahlreich gegeben hat.


Luhmann wurde in eine bürgerliche Brauereifamilie hinein geboren. Dort bekam er, seinen Erinnerungen nach, „eine gewisse liberale Grundeinstellung“ mit, wollte die „Möglichkeit haben, das zu machen, was ich machen will, und im Rahmen der Rechtsvorschriften und so etwas, und eine Abwehr von politischen Interventionen ins Privatleben“[7]. Allerdings war das in der nationalsozialistischen Umwelt wohl kaum möglich. Und so können wir uns vorstellen, wie er zwischen familiären Einstellungen sowie offizieller Propaganda und entsprechenden Erwartungen in der Schule, in Kinder- und Jugendorganisationen hin und her pendelte, jedenfalls in mindestens zwei Welten lebte: der privaten mit den zu dieser Zeit gefährlichen liberalen Einstellungen und der öffentlichen mit dem faschistischen Kollektivismus der deutschen Nazis.


Kurz vor Kriegsende wurde der 17-Jährige eingezogen, als Helfer bei den Flugzeugabwehrkanonen, musste also noch an die Front. Dort erlebte er Schreckliches: „Also, die ganze Kriegssituation kommt mir noch heute in Träumen wieder hoch, das geschossen wird und Bomben fallen“,[8] wie er in einem Interview im Jahre 1997 äußerte. In Träumen, so wissen wir von der Psychoanalyse, manifestiert sich in besonders anschaulicher Form das Unbewusste, die Ängste, das Unverarbeitete. Und wer etwas Dramatisches erlebte, wird dies ein Leben lang mit sich tragen; es wird ein emotionaler Grund für das eigene Fühlen und Denken: „Wenn man sieht, wie jemand, der neben einem läuft, eine Granate ins Gesicht bekommt, und wie er vorher und wie nachher aussieht, da hat man dann das Gefühl: Worüber jammern die Leute heute eigentlich …“.[9]


Angesichts dieser Erfahrungen teilte Luhmann eine Intention, die explizit so von ihm nur selten geäußert wurde, mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, nämlich zu verstehen, „wie man verhindern konnte, dass so etwas wieder passiert“.[10] Für Luhmann war klar, dass dieses Verständnis nur über die Entwicklung einer hoch differenzierten Gesellschaftstheorie möglich wird, an der er ca. 30 Jahre lang gearbeitet und sie dann publiziert hat.[11] „Denn wenn man nur immer sagt, nie wieder Auschwitz, das ist natürlich zu wenig. In der Form kommt es natürlich nicht wieder, aber es kann ja in anderen Formen kommen“.[12]


Um eine Resilienz zu gewinnen gegen jedwede Form von Einheitsgesellschaft, in der sich Systeme, die Unterschiedliches in unabhängiger Weise zu repräsentieren haben, zu eng miteinander verkoppeln oder gar amalgamieren, ist Luhmanns Theorie das beste trojanische Pferd überhaupt. Vielleicht auch (unbewusst motiviert) durch seine existenziellen und traumatischen Erlebnisse in der Nazizeit und in den Endkämpfen des Krieges hat er etwas geschaffen, was uns nicht nur hilft, die soziale Welt besser zu verstehen, sondern was auch verhindern könnte, dass diese Welt schlechter wird, abgleitet in Formen, die die Errungenschaften der Moderne ad Acta legen.


„Also, was ich als Plan hatte, war eigentlich immer eine Gesellschaftstheorie, eine Theorie für die moderne Gesellschaft.“[13] Dass diese Theorie eine Praxis sein kann, eine brauchbare Unterstützung für alle Anreger:innen des Sozialen ist das trojanische Pferd, das Luhmann selbst kaum geritten, aber galoppier- und sprungbereit in die Welt entlassen hat.


 


[1] Vgl. ausführlich dazu – nicht nur mit psychologischen, sondern vor allem neurophysiologischen Bezügen: Gerhard Roth (2007): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu verändern. Stuttgart: Klett-Cotta.


[2] Mit dieser Deutung folge ich Peter Fuchs.


[3] Vgl. paradigmatisch dazu: Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.


[4] Vgl. umfangreich dazu Niklas Luhmann (1997a): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp.


[5] Niklas Luhmann (1986): Ein trojanisches Pferd, in: Niklas Luhmann (1987): Archimdes und wir. Interviews. Berlin: Merve, S. 124.


[6] Ebd.


[7] Niklas Luhmann (1997b): Es gibt keine Biografie, in: Alexander Kluge u.a. (Hrsg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin: Kadmos, S. 22.


[8] Ebd., S. 50.


[9] Ebd., S. 51.


[10] Ebd., S. 31.


[11] Siehe dazu Niklas Luhmann (1997a), a.a.O.


[12] Niklas Luhmann (1997b), a.a.O., S. 34.


[13] Ebd., S. 35.