Begriffs-Hijacking

Der Gebrauch bestimmt die Bedeutung der Worte, so oder so ähnlich hat Ludwig Wittgenstein es formuliert. Dies ist der Hintergrund dafür, dass Worte bzw. Begriffe auch missbraucht werden können. Konkret heißt das, positiv besetzte Begriffe werden genommen, und mit einer neuen Bedeutung verwendet. Wenn das konsequent genug gemacht wird, dann ist nach einiger Zeit der bislang akzeptierte Sinn eines Begriffs verloren und ein neuer etabliert. Dies ist – nebenbei bemerkt – eine Strategie, wie sie von Populisten gern verwendet wird (siehe „Anleitung zum Populismus“).


In letzter Zeit ist diese Art des Begriffs-Hijackings an zwei Beispielen besonders gut zu beobachten:


Querdenker: Bis vor einigen Jahren stand dieses Etikett für Leute, die in der Lage waren oder dafür gehalten wurden, „out-of-the-box“ zu denken. Alles in allem waren das eher Menschen, denen – in meinen Augen – positive Eigenschaften zugeschrieben wurden wie Kreativität usw. Jetzt aber hat sich die Bedeutung gewandelt. Mir graut bei der Vorstellung, dass meine Enkelkinder irgendwann googlen und meinen Namen mit diesem Begriff assoziiert sehen könnten. Sie denken dann wahrscheinlich, Opa war ein Nazi mit Alu-Hut...


Liberal: Das zweite Beispiel ist „liberal“, verbunden mit „Freiheit“. Im Moment scheinen durch den – ja eigentlich bescheidenen – Wahlerfolg der FDP einige Personen, die sich als Verteidiger der Freiheit (und daher No-Vaxxer usw.) einen Adrenalinschub erhalten zu haben. Sie gründen liberale Plattformen und wettern gegen die Corona-Maßnahmen. Dabei vertreten sie – und hier verwischen sie den m.E. gravierenden Unterschied – klar libertäre Positionen. Sie wollen den Staat in seiner Macht begrenzen (wogegen im Prinzip nichts einzuwenden wäre), aber sie berufen sich auf Autoren wie Ayn Rand, einer der Vordenkerinnen der libertären Tea-Party in den USA, die wiederum Vorläufer des Trumpismus war, der wiederum von Techno-Milliardären wie Peter Thiel finanziell massiv unterstützt wird, der sich nicht nur gerade den ehemaligen kindlichen österreichischen Kaiser Kurz gekauft hat, sondern auch ein künstliches Inselreich plant, wo nur noch die Freiheit des Unternehmers gelten soll, weil es keine staatliche Macht mehr geben soll.
Generell lässt sich sagen: Wer sich als liberaler versteht und gleichzeitig z.B. die Bücher von Ayn Rand bewirbt (wie das auf Twitter geschieht), der kennt entweder den Unterschied zwischen liberal und libertär (= Marktfundamentalismus, Deregulierung in allen Bereichen des Lebens, „jeder ist sich selbst der Nächste“, Entsolidarisierung der Gesellschaft, weil es ja – wie Thatcher sagte – keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen und Familien usw.) nicht, oder er fährt eine paradoxe Strategie, die unter dem proklamierten Slogan, die Freiheit des Individuums zu erhalten, der weiteren Machtübernahme der großen, weltweit agierenden Tech-Konzerne den Weg bahnt.