Wir gratulieren unserem Wegbegleiter Helm Stierlin

Helm Stierlin hat ganz wesentlich zur Etablierung und Weiterentwicklung der systemischen Therapie in Deutschland beigetragen. Und das nicht nur, weil er 1989 den Carl-Auer Verlag mitgegründet hat …

Gunthard Weber, ebenfalls Mitgründer des Carl-Auer Verlags und über Jahrzehnte in kollegialer Arbeit und in Freundschaft mit Helm Stierlin und dem Heidelberger Team eng verbunden, hat persönliche Worte zum 95. Geburtstag des großen Forschers, Philosophen und Therapeuten verfasst:

„Helm Stierlin wird heute 95 Jahre alt. Ich habe ihn vor einigen Tagen in seiner Wohnung in Heidelberg besucht und saß eine ganze Weile nahe bei ihm. Ich hielt seine Hand und erzählte ihm von den alten gemeinsamen Zeiten wie den Kongressen in den USA, Teamausflügen nach Venedig und Paris oder gemeinsamen Skiurlauben in Norwegen und Schweden. Immer wieder schaute er mir mal liebevoll, mal fragend in die Augen, als erinnerte er sich. Ich hatte das Gefühl, als freute er sich über den Kontakt. Sein Gesicht strahlt die Würde des hohen Alters aus. Er sitzt im Rollstuhl und redet nur noch wenig, wirkt dabei aber sehr zufrieden und dankbar. Nach einer Stunde wurde er müde, und ich saß noch eine Stunde mit seiner Frau Satuila zusammen und wir plauderten.

Vor über 55 Jahren ist Helm Stierlin mit Satuila und den beiden Töchtern aus den USA nach Heidelberg gekommen und hat von 1974 bis 1991 als ärztlicher Direktor die Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Psychosomatischen Universitätsklinik in einem Zweifamilienhaus in Heidelberg geleitet. Diese Abteilung hatte neben gelegentlichen zeitlich begrenzten Drittmittelstellen immer nur einen Oberarzt- und eine Assistenzarztstelle und wurde unter Helm Stierlins Leitung dennoch im Bereich der Familienforschung, der Familientherapie und ab 1980 auch im Bereich des systemischen Denkens und der systemischen-konstruktivistischen Therapie in Deutschland und darüber hinaus eine der einflussreichsten und innovativsten Institutionen. Durch seine Teamorientierung, die er aus den USA mitgebracht hatte, gelang es ihm, in Heidelberg ein erstaunlich gut zusammenarbeitendes und kreatives Team zu formen (Ingeborg Rücker-Emden-Jonasch, Arnold Retzer, Gunther Schmidt, Jochen Schweitzer-Rothers, Fritz B. Simon, Gunthard Weber, Michael Wirsching), die ihrerseits wiederum durch Veröffentlichungen, Forschungs- und Weiterbildungsaktivitäten zur Verbreitung des systemischen Denkens beitrugen. Dazu hat dann auch der Carl-Auer Verlag, der 1989 von Helm Stierlin und neun Mitarbeiter:innen gegründet wurde, wesentlich beigetragen. Alle Mitgründer einschließlich ihm selbst haben jeweils mehrere Bücher im Carl-Auer Verlag veröffentlicht. 2002 wurde dem Jubilar zu Ehren in einer traditionsreichen Villa oberhalb des Heidelberger Schlosses das Helm-Stierlin-Institut (HSI) gegründet.

Für mich war die Zeit in der Abteilung Helm Stierlins (1977 bis 1993) die einflussreichste in meiner beruflichen Laufbahn. Nie wieder habe ich so intensiv, gleichberechtigt und innovativ wie von 1982 bis 1990 mit Helm, Fritz B. Simon und Gunther Schmidt in dem Forschungsprojekt zur Familientherapie psychotischen Verhaltens zusammengearbeitet. Ich blieb ihm auch nach seiner Emeritierung und bis heute sehr eng und freundschaftlich verbunden. Die Entwicklung der systemischen Familientherapie und der Carl-Auer Verlag verdanken Helm Stierlin eine Menge. Auch ich verdanke ihm sehr viel.

Lieber Helm, wir gratulieren Dir von ganzem Herzen zu Deinem 95. Geburtstag und wünschen Dir einen gesegneten und möglichst beschwerdefreien Lebensabend. Wir bleiben Dir und Satu sehr verbunden.“

In der von Michael Reitz verfassten Biographie Helm Stierlin – Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie ist der bedeutsame und wirkungsreiche Lebens-, Denk- und Arbeitsweg Helm Stierlins spannend erzählt. Es ist auch eine epistemologische Biographie, paradigmatisch verbunden mit denen anderer, die Helm Stierlin beeinflussten und die er beeinflusste.

Als die Universitäten im Jahre 1945 wieder ihre Pforten öffneten, immatrikulierte sich Helm Stierlin an der Universität Heidelberg für das Studium der Medizin. So oft es möglich war, besuchte Stierlin philosophische Vorlesungen von Karl Jaspers, was ihm hin und wieder einen Spagat abverlangte, da die Vorlesungsorte der medizinischen Fakultät, wo Pflichtvorlesungen und Seminare stattfanden, und der philosophischen Fakultät entfernt voneinander lagen. Hegels Dialektik blieb darüber hinaus für Stierlin ein lebenslang leitende Denkfigur.

Ab 1957 arbeitete und forschte Helm Stierlin insbesondere über die Psychopathologie der Schizophrenie, psychotische und psychosomatische Erkrankungen, den Ablösungsprozess in der Adoleszenz und die jüngsten therapeutischen Erfahrungen in der Familientherapie mit den erweiternden therapeutischen Konzepten im Rahmen systemtheoretischer Denkansätze.

Von 1965 bis 1973 leitete er am National Institute of Mental Health in Bethesda, Maryland, die Abteilung für Familientherapie. Während seiner Jahre in Amerika wurde er weltweit zu Gastdozenturen, Gastprofessuren und Gastvorlesungen eingeladen.

Stierlin lernte während seiner Zeit in den USA die wichtigsten Pioniere auf dem Forschungsgebiet der Familientherapie kennen, darunter Gregory Bateson, Milton H. Erickson, Jay Haley, Margaret Mead, Salvador Minuchin, Virginia Satir, Paul Watzlawick und John Weakland.

1974 erhielt Helm Stierlin den Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie in Heidelberg. Helm Stierlin und sein Team organisierten in Heidelberg immer wieder besondere Forschungsformate sowie große und vielbeachtete interdisziplinäre Forschungs- und Praxiskongresse, zu denen Mediziner, Psychologen, Neurobiologen, Molekularbiologen, Soziologen, Kybernetiker, Informatiker, Kommunikationswissenschaftler, Linguisten und weitere interdisziplinär forschende Wissenschaftler kamen und sich mit Kollegen und Studierenden austauschten und auch auseinandersetzten. Eine Tradition, die die Carl-Auer Akademie wieder aufgenommen hat und mit ihren Kongressen weiterführt. Stierlin ist Mitgründer der Zeitschrift Familiendynamik und war bis 1995 auch deren Herausgeber, gemeinsam mit Joseph Duss-von Werdt.

Heute wird Helm Stierlin 95 Jahre alt und wir sind in Gedanken ganz nah bei ihm und seiner Frau Satu. Empfehlen können wir den Dokumentarfilm „Helm & Satu“ von 2017. Der Regisseurin Laura Strümpfel ist ein berührendes Beziehungsportrait dieses außergewöhnlichen Paares und ihrer über 50-jährigen Ehe gelungen.

Das gesamte Carl-Auer Team gratuliert Helm Stierlin ganz herzlich zum Geburtstag und wünscht ihm alles Gute und natürlich auch Gesundheit und Zufriedenheit!