Weibliches Begehren - endlich Schluss mit dem Zauber

Die Pharmaindustrie lässt nicht locker bei der weiblichen Sexualität. Das  Hormonpflaster Intrinsa hat sich nicht nennenswert durchgesetzt. Die Entwicklung und  Marktzulassung des zentralnervös ansetzenden Flibanserin (das nur als Dauermedikation wirken soll) dümpelt vor sich hin, nachdem Boehringer Ingelheim es aufgegeben hat. Beide Medikamente wurden von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration - der Name amüsiert mich jedesmal aufs Neue) bisher abgelehnt.


Nun ist ein aktueller Kandidat unterwegs, der Frauen sexuelle Lust machen soll. Die niederländische Firma, die mit weitsichtigem Blick auf das Marketing „Emotional Brain“ heisst, informiert mit einer gut gemachten Website (www.emotionalbrain.nl) über das Medikament und die Forschung dazu. Sie ist jetzt soweit, dass sie im Sommer bei der FDA antanzen will und zwei ähnliche Medikamente zulassen möchte, Lybrido heisst das eine, Lybidros das andere.


Das Wirkkonzept lehnt sich an das von John Bancroft am Kinsey-Institut entwickelte Dual-Control-Modell der sexuellen Erregung an. Demzufolge werden für Lust (desire) und sexuelle Hemmung (inhibition) zwei unterschiedliche Mechanismen verantwortlich gemacht. Bei der Hemmung gibt es wiederum zwei Subtypen: Hemmung durch Unempfindlichkeit für sexuelle Reize und Hemmung durch negative Erfahrungen.


Lybidro und Lybidros sind nun die Medikamente zum Dual-Control-Modell: Sie sollen (a) die sexuelle Lust fördern und (b) die Hemmung durch Unempfindlichkeit (Lybidro) oder durch negative Erfahrungen (Lybidros) abbauen.


Ich habe keine prinzipiellen Einwände gegen aphrodisische Substanzen. Meine Hauptbedenken gelten deshalb nicht der Luststeigerung (wenn sie denn wirkt), sondern dem pharmakologischen Abmähen sexueller Hemmungen. Dass Hemmungen legitim sein können, dass sie als Ressource zum Schutz der körperlichen Integrität dienen können, dass sie zur Nähe-Distanz-Regulierung helfen können, dass, auf den Punkt gebracht, sexuelle Hemmungen nichts Pathologisches sein müssen, sondern als funktionale und authentische Kompetenzen bewertet werden können – das geht mit der Augen-zu-und-durch-Mentalität dieser  Pillen völlig verloren.


Wer es einfach erklärt haben will und den Entwickler Adriaan Tuiten im Originalton lesen möchte, der gehe auf den Link:


http://www.blick.ch/news/die-lustpille-ja-sie-kommt-id2315871.html


Wer mehr Hintergrund spannend findet, lese den exzellenten Artikel von Daniel Bergner in der New York Times und die Hunderte von Kommentaren dazu:


http://www.nytimes.com/2013/05/26/magazine/unexcited-there-may-be-a-pill-for-that.html?pagewanted=1&_r=1&smid=fb-nytimes&