2021 – Die Bundestagswahlen aus Perspektive Komplexitätsmanagementfähigkeiten in der Bevölkerung

Für diejenigen, die mit dem Komplexitätsmanagement-Modell (C2M) und KonfliktFORMenanalyse vertraut sind, kommt das Wahlergebnis nicht überraschend.
Es spiegelt die Komplexitätsmanagementfähigkeiten der deutschen Bevölkerung gut wider.


Gehen wir es im Einzelnen durch:


Diejenigen, die gesellschaftliche und politische Komplexität weitestgehend nur auf Komplexitätsstufe 0 (K0) bewältigen können, fällen ihre Entscheidungen über den Symmetrischen Konflikt und nach sehr einfachen Kriterien: Sicherheit, Stabilität, Wut, Zorn, Angst.


Auf K0 wirkt noch die ganze Kraft vor allem männlicher Dominanz, aber auch die weiblicher Fürsorgestabilität.
Angela Merkel verkörpert für K0 die ewige, fürsorglich dominierende Stammesmutter, die als sexuelle Frau nie wirklich stattgefunden hat und deshalb nie wirklich zur Gefahr geworden ist.


Die CDU/CSU hat mit Armin Laschet für Komplexitätsstufe 0 die falsche Wahl getroffen. Laschet, mehr Kind als patriarchale Sicherheitsgestalt, kann K0 nicht die Gefühle vermitteln, die hier benötigt werden, um die Wahl in seine Richtung zu fällen. Dass dennoch Viele CDU/CSU gewählt haben, für deren Wahlverhalten zu beschreiben keine anderen FORMen als K0 nötig sind, dürfte mehr damit zu tun gehabt haben, dass sie immer schon CDU/CSU gewählt haben und sie deshalb Laschet zumindest Sympathiepunkte zugesprochen haben, um ihn zu wählen und ihn darüber ins K0-Raster zu pressen.


Ferner hat die CDU/CSU stark auf eindimensionalen Wahlkampf gesetzt und mit redundanten Hinweisen auf die Gefahren aus Richtung Grüne („Verbote! Verbote! Verbote!“) und Linkspartei („Gefährliche Außenpolitik!“) gesetzt und damit direkt das Bedürfnis von K0, aber auch von K1 befriedigt, sich über den Symmetrischen Konflikt abgrenzen zu können.


CDU/CSU-Wähler, die ihre Entscheidungen eher auf Komplexitätsstufe 1 fällen, werden sich eher traditionell an die Inhalte des Parteiprogramms gehalten haben und trocken konservativ gewählt haben.


K0 hat keinen übergeordneten Werteapparat. Diese Stufe folgt nur ihrem einfachen Leitwert.
K1 kann elaborieren, aber K1 hat ein Leitsystem. Wenn alle Stricke reißen, fällt K1 darauf immer wieder zurück und versucht, andere Perspektiven darunter zu orientieren.
Daraus ergibt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass K0 seine politischen Anschauungen ändert, relativ gering ist. K0 kann von Laschet auf AfD umschwenken.
K1 kann allerdings bei gründlicher Überlegung dazu kommen, dass er/sie Die Grünen wählen muss. Ein Argument dafür könnte sein, dass Armin Laschet außenpolitisch einfach nur peinlich wäre.


Die Bereitschaft von K0 und K1 sich anders als gewohnt zu entscheiden, ist ein gutes Stück niedriger als bei K2, K3 und so weiter.
K0 kann – egal unter welchen Bedingungen – auf seinem Film bleiben, K1 hingegen auf die Stabilität, auf die Gewohnheit seiner eigenen Erfahrungen setzen. Ausschließen, dass sie ihre Sichtweisen ändern, können wir generell nicht. K0 hat dazu tatsächlich aber keine rationale Chance.


Um das tun zu können, müsste K0 dazu in der Lage sein, andere Dimensionen anzulegen. So werden einige CDU-Wähler sich bei dieser Bundestagswahl für Olaf Scholz (und nicht unbedingt für die SPD) entschieden haben, weil sie Armin Laschet keine Kontinuität und keine Führungsstärke zutrauen, während sie bei Olaf Scholz Merkel-Tradition einkaufen: die Stabilität eines Papierlochgeräts, das seit vielen Jahren ohne große Überraschungen funktioniert. Hier spielen auch die Korruptionsfälle eher keine Rolle: Auf K0 vor allem, aber auch auf K1 wirkt der politisch-ideologische Instinkt stark und ist eher bereit, Lüge, Betrug und Korruption zu entschuldigen, als Stabilität aufzugeben.


Nur die FDP konnte, wie schon bei den letzten Wahlen, vor allem auf K1 punkten, indem sie sich zum Zünglein an der Waage des Machtspiels platzierte und mit Christian Lindner – sich selbst ohne Rücksicht auf mehrdimensionale, komplexere Herausforderungen treu an den neoliberalen Kurs haltend – mit typischem K1-Nivellismus da abholend, wo die CDU/CSU mit Laschet auf „blöd“ gesetzt hatte, wohl hoffend, dass Sympathie auf K0 vor patriarchaler Stabilität punktet.


Hätten CDU/CSU auf Markus Söder, ja sogar auf Friedrich Merz gesetzt, die Ergebnisse sähen heute wohl deutlich anders aus. Söder, noch mehr als Merz, spielt voll und ganz auf Macht und Charisma – beides Punkte, die insbesondere bei K0 ziehen, während Friedrich Merz auf K1 Stimmen von der FDP hätte abholen und damit von der Seite her mehr Druck auf die kommende/zu verhandelnde Koalition ausüben können.


Stimmen von Komplexitätsstufe 2 an aufwärts, also mit der Fähigkeit höher zu dimensionieren und den eindimensionalen Tunnel zu verlassen, dürfte es bei CDU/CSU-Wählern eher nicht geben. Sie fallen auch kaum ins Gewicht, weil es nur Wenige gibt, die dazu in der Lage sind, und von ihnen werden Viele gar nicht wählen gehen (K2 vor allem), außer, es handelt sich um Führungskräfte, die von dort aus darauf setzen, K0/K1-Verhalten regulieren zu können. Ich schätze, dass im Augenblick etwa 10% der Bevölkerung im politischen Diskurs K2++ halten kann und dass der größere Teil von K2 an der Auseinandersetzung psychisch verzweifelt.


Was K3 angeht, lässt sich beobachten, dass der eine oder andere Politiker der CDU durchaus dazu fähig ist Komplexität höher zu managen, Ruprecht Polenz ist da ein gutes Beispiel.
Aber auch Polenz hat im Wahlkampf voll auf Eindimensionalität gesetzt (ob absichtlich (K3) oder als Stressresultat (K1), vermag die Autorin nicht zu entscheiden) und damit Viele verwundert, aber im Allgemeinen ist der stumpfblinde pleistozäne Konservativismus der CDU/CSU den meisten Menschen, die mehrdimensional konzeptualisieren können, eher unsympathisch. Mit ihm lässt sich das vielgestaltigere, buntere Universum von K2++ nicht fassen, wenn auch K3 mit der ruhigeren Herangehensweise situativ und bewusst die Entscheidung fällen kann, CDU/CSU zu wählen, um beispielsweise außenpolitische Stabilität zu erhalten.


Wir dürfen davon ausgehen, dass Angela Merkel immer wieder Einige, für deren Wahlverhalten wir FORMen aus K3 zur Beschreibung benötigen, dazu motivieren konnte, ihr (und nicht unbedingt der CDU) die Stimme zu geben.
Die wenigen K4 fallen politisch nicht ins Gewicht, und auch über K5 müssen wir hier nicht sprechen.


Was die SPD betrifft, wird dieses Jahr die Wahl was K0 und K1 angeht vor allem zwischen Laschet und Scholz – und zwar pro Scholz – gefallen sein. Menschen, die politisch mit, beziehungsweise auf höheren Komplexitätsmanagementstufen entscheiden, werden vor allem Die Grünen und die Linkspartei gewählt haben. Auch K1er, die auf Grundlage ihres Orientierungsmodells die Notwendigkeit des gesellschaftlichen und industriellen Wandels einsehen, werden wahrscheinlich gewechselt haben und das auf Grün.


Die Grünen, die höhere Zahlen erhofft haben werden, sind, was das angeht, an ihrem eigenen Idealismus gescheitert. Sage ich es so trocken, wie es nötig ist: K0 – und durchaus auch K1! – können wegen ihrer Eindimensionalität ihre eigenen atavistischen Reaktionen nicht reflektieren: Die Meisten werden sicherlich strikt ablehnen, dass sie, was Die Grünen mit Annalena Baerbock angeht, sexistisch entscheiden, aber insbesondere auf K0 wirken die Archetypen stark, und von dort aus betrachtet war die Entscheidung, eine junge, hübsche Frau mit heller Stimme in einen Dinosaurierkampf zu schicken, einfach nicht die richtige.


Frau Baerbock war – ohne Frage – in den meisten Auseinandersetzungen sachlich überlegen, aber das mehrdimensionale Argument ist auf K0 und K1 eh schon der Gegenseite verdächtig, die K2-Attitüde der Grünen unkalkulierbar und leicht auf „Verbote! Verbote! Verbote!“ runterzubrechen, und sich dann auch noch von einer jungen Frau führen zu lassen? ... geht ... gar ... nicht.


In einer besseren Gesellschaft hätte Baerbock die Wahl sein müssen, aber das ist nicht die Gesellschaft, in der wir leben. Baerbock hat Draht zu Fakten und Jugend, die noch am Anfang ihrer Zukunft steht, die wir gerade zerstören. Sie sollte diejenige sein, die eine bessere Gesellschaft wählen würde. Das Dumme ist nur, wir leben in der schlechteren Gesellschaft, die ihren Kindern ihre Zukunft stiehlt. Und diese schlechtere Gesellschaft will natürlich niemanden haben, der das besser machen will – erst recht keine junge, attraktive Frau. Hier wäre die pragmatische Entscheidung zugunsten Habecks oder – für K3++ sicherlich noch attraktiver – zugunsten Cem Özdemirs gefallen.


Über die Linkspartei können wir sagen: „Wer?“ Die Partei hat sich im Wahlkampf nicht hervortun können, ihre Angriffe waren schlapp und für K0 langweilig, und gerade dort hätte sie eigentlich großes Potenzial. Doch anstatt Armut und Klimakrise zu tacklen und mit Redundanz zu punkten, ließ sich die Linkspartei einfach im Staubesdunst des Kampfs der Dinos beiseite schubsen und hatte keinerlei rhetorische Kraft, um K0 oder K1-Wähler für sich zu interessieren, obwohl ihr die AfD eine Steilvorlage nach der andere geliefert hat, sich daran deutlich abzugrenzen.


Und was die AfD angeht: Diese Partei hat im Laufe der Jahre alles, was K0 in Sachsen und Thüringen will, hinter sich versammelt, voll auf das Bildungsproblem in der Bundesrepublik gesetzt und sich ihre stabilen 10,3% geholt, weil alle anderen immer noch nicht kapiert haben, wieso ihr Konzept überhaupt aufgeht: Weil sie direkt in die historischen, aber vor allem lokalkulturellen Fußstapfen von NSDAP und SED getreten ist. Die AfD ist eine Stammkneipenpartei. Wer glaubt, sie setzt auf Hass und Angst, sieht nur die eine Hälfte der Gleichung, nämlich die saubere volksnahe Arbeit vor Ort mit Bürgern, die völlig verlernt haben, wie man Komplexität mehrdimensional anpacken könnte und die deshalb – auf der Suche nach einer politisch anfassbaren Heimat – einfach evolutionär zurück in die Sicherheit der Pöbelherde gekehrt sind.


Das Ergebnis der diesjährigen Bundestagswahlen wird nicht nur für Klimaschützer enttäuschend gewesen sein – auch viele, die mehrdimensional denken möchten, werden nun Frustration empfinden und sich bang fragen: „Sind/seid wir/Ihr noch zu retten?!“


Die Antwort darauf muss lauten: Nicht, solange wir das Bildungsproblem nicht anpacken. Wahlprogramme, faktische Wahrheiten, kompetente Rundumargumente, funktionale soziale und Klimaanalysen sind samt und sonders auf K0 und teilweise K1 bedeutungslos, und ein Großteil der Bevölkerung entscheidet dort, weil er nicht (mehr) weiß, wie es anders gehen sollte. Die Fähigkeiten mehrdimensional zu entscheiden, von Evolution in jedem von uns angelegt, werden spätestens mit Eintritt in die Schule, oft aber schon vorher beschnitten. Sozial funktioniert, wer sich anpasst, und wie jeder, der sich Mühe gibt K2 zu halten, weiß: Es ist einsam da draußen.


Technologisch gesehen ist Gesellschaft in K2 eingetreten. Sekündlich flackern neue Dimensionen über Computermonitor und Smartphone, allein darin höher zu differenzieren gelingt nur Wenigen, und die wählen dann zu weiten Teilen Grün, wie an den Organisationsberatern zu sehen ist, die tatsächlich dazu in der Lage sind systemisch zu denken – oder die es zumindest versuchen.


Menschlich gesehen aber sind weite Teile der Bevölkerung mit dieser technologischen und auch gesamtgesellschaftlichen Komplexität von K2 überfordert und reagieren in dieser Überforderung mit Emotionalitäten (Corona-Diskussion) und mit instinktiver Suche nach einfachen Sicherheiten.
Die konnte Armin Laschet nicht liefern, auch Olaf Scholz ist dazu selbst als Person nicht in der Lage, aber Scholz kommt mit Merkel-Historie und hat deshalb einer ziemlich weggedrifteten SPD wieder ein bisschen konservativen Halt geben können.


Was die Grünen angeht, lässt sich aus K3++-Perspektive sagen:


Sachlichkeit und Kompetenz sind da, die Krisen werden gut gesehen und von dort her sollte wundern, warum dieser Partei nur die schlappen 14,8% gelungen sind, wäre da nicht einfach das Problem, dass sich Klimakatastrophe und die anderen kommenden Metakrisen für K0 und K1 nicht konstruktiv fassen lassen, sondern nur konservativ. Menschen, die politisch nicht mehrdimensional denken können oder möchten, reagieren auf Druck mit evolutionär veralteten Programmen. Sie wollen dann Sicherheit, K0 besonders Führungsstärke und patriarchales Charisma. Der Volkstribun ist gefragt, nicht sachlich klare, umsichtige Argumente.


Insbesondere in und verstärkt durch Krisen reagieren K0 und K1 nicht auf Fakten mit konstruktiver Verhaltensänderung, sondern viel lieber auf leere und haltlose Versprechungen, die sie in ihrem (Aber)Glauben versichern, dass ja auch überhaupt gar keine einschneidenden Verhaltensänderungen erforderlich sind, um die kommenden Probleme, deren Eintreten nach Ansicht der Meisten ja auch noch strittig ist, zu bewältigen, mit stoischer Gleichgültigkeit.


K0 und K1 sind mit globalisierten Gesellschaften in Metakrisen völlig überfordert. Ihnen stehen einfach die Programme nicht zur Verfügung, mit denen sie solche Phänomene fassen könnten. Es fehlen ihnen die Zeichen, um in der Emergenz zu navigieren, Emergenz und Krise wirken vage bedrohlich, also braucht es sichere Führung.


Lernen können, ja müssen aus diesen Ergebnissen nicht nur Politiker der Grünen und der Linkspartei, sondern auch Führungskräfte, denn dieselben Mechanismen, die sich bei den Bundestagswahlen zeigen, wirken in den Organisationen auf die Fähigkeiten der Mitarbeiterschaft, für Metakrisen und Emergenz funktionale Programme zu schreiben, rück:


Technologische K2-Gesellschaften überfordern Menschen, die sich daran gewöhnt haben, ihre Entscheidungen auf K0 und K1 zu fällen. Sie schreiben und rhythmisieren sich in Konditionierungsprogramme, welche die Überforderung so abfedern, wie das die K0- und K1-Programme brauchen.


Gerade jetzt, wo kontinuierliche Konfrontation mit K2 in den Social Media, Homeoffice und Verluste familiärer und anderer Beziehungswerte stark verunsichern, verlieren diejenigen, die sonst stabile K1 können, rationale, intellektuelle Fähigkeiten ans soziale Gehirn. Mehr mit dem Miteinander beschäftigt, weicht Differenzierungsfähigkeit weichen Werten wie Vertrauen, Sinn, Purpose, Wertschätzung, um von dort aus die neue Komplexität (Emergenz) zu greifen.


Resultat: Sachliche Überforderung nimmt zu, analytische Kompetenz ab.


Genau das, was jetzt gebraucht wird, nämlich geistige und Konzeptklarheit, klare Rationalität und die Fähigkeit, Komplexität zu respezifizieren, geht verloren. Die Folge: Organisationen können keine krisenfunktionalen Programme mehr schreiben, weil sich die Mitarbeiterschaft schlichtweg weigert genau dort zu lernen, wo sie es müsste, nämlich im Kontext höheren Komplexitätsmanagements.


Das Bildungsproblem ist die alles bestimmende Metakrise,
An ihm entscheidet sich unsere Zukunft.
Und die Resultate der gestrigen Wahlen demonstrieren deutlich:
Es sieht nicht gut aus!