Beidhändigkeit.
Der knappe Stand der Dinge. Teil 1

Ein keineswegs taufrischer Lösungsvorschlag - Robert Duncan prägte den Begriff „ambidextrous“ immerhin schon 1976 - wird seit kurzer Zeit kontrovers wie nie zuvor diskutiert. Die einen sagen (zu meiner Überraschung) „damit beschäftigen sich aktuell alle großen deutschen Unternehmen“, die anderen sagen, „das ist nichts Neues, unser Unternehmen hätte nicht all die Jahrzehnte so sehr erfolgreich überlebt, wenn wir nicht schon immer beidhändig operiert hätten“. Vielleicht haben beide Recht? Das werden wir hier herausfinden.


Nach intensivem Eintauchen in die Beidhändigkeit in einem innovativen Projekt der Kompetenzentwicklung in Teams für einen großen Autobauer lässt mich das Thema nicht mehr los. Hier meine knappe Einschätzung was erfolgskritisch zu wissen ist.


Worum geht‘s, in Kürze?


Um ein ewiges Thema seit Menschen wirtschaften. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, optimiere dein Geschäft, steigere deine operative Effizienz (Exzellenz) versus wage mit unternehmerischem Geist etwas Neues, eine strategische Innovation, fresh thinking, neue Geschäftsmodelle. So gesehen bezeichnet Beidhändigkeit bildhaft die Verbindung der zwei wichtigsten Fähigkeiten sehr erfolgreicher Unternehmer. Werner von Siemens hat in beeindruckender Weise sowohl Innovationen vorangetrieben als auch für den Aufbau einer effizient operierenden globalen Organisation gesorgt.1 Apple‘s atemberaubender Welterfolg ist unbestreitbar klar dem innovativen Genie von Steve Jobs zuzuschreiben - und untrennbar in gleichem Maß der operativen Verlässlichkeit und Effizienz die Tim Cook in den Laden gebracht hat.2 Eine strategisch glorreiche Geschäftsidee haben bzw. auszuprobieren ist die eine Sache. In wenigen Jahren aus der Idee eine weltweit erfolgreich operierende Organisation aufzubauen die ganz andere, siehe Amazon. In allen 3 Erfolgsbeispielen macht Beidhändigkeit den Unterschied.


Früher und heute immer noch werden die (1) sequenzielle Beidhändigkeit praktiziert, d.h. auf Phasen der Erneuerung folgen Phasen der Konsolidierung oder vice versa, bzw. (2) die simultane oder strukturelle Beidhändigkeit, d.h. Innovationen werden strukturell in Start-Ups ausprobiert. Der BMW i3 etwa wurde in weitgehend eigenständigen Strukturen beschleunigt entwickelt.


Neu - ausgelöst durch das dramatisch gestiegene Veränderungstempo seit Werner von Siemens‘ Zeiten - und sehr viel anspruchsvoller und sozial innovativ ist (3) die kontextuelle Beidhändigkeit, die von beidhändig kompetenten Menschen und Teams praktiziert wird. Über diese neue Fähigkeit der Beidhändigkeit sprechen wir hier.3 Sie wird zunehmend dringend gebraucht - in sehr viel mehr Kontexten und Aufgabenbereichen - um das Geschäft der Zukunft zu sichern und schnell genug zu gestalten.


Sie ist die tief gehende Antwort auf die landauf landab beschworene disruption. So einfach und so dramatisch ist die Sache. Die Erkenntnis ist klar, die daraus folgenden Entscheidungen auf dem Weg der Verwirklichung sind es ganz und gar nicht.


Warum verdient die kontextuelle Beidhändigkeit als anspruchsvoll und sozial innovativ bezeichnet zu werden?


Das folgende Bild gibt einen ersten Eindruck über das Zusammenspiel zwischen Modus 1 Exploit und Modus 2 Explore.4



Es geht um zwei grundlegend verschiedene Arbeitsweisen und Arbeitsatmosphären. Für sie sind bisher in der klassischen funktional-hierarchischen Organisation im Wesentlichen verschiedene Abteilungen und hierarchische Ebenen zuständig. Aber beim beidhändigen Arbeiten geht‘s, wie der Begriff schon sagt, um „Sowohl-als-auch, hier und jetzt“, innerhalb jeder Person und in jedem Team, weil das Geschäft schnell bzw. schneller gehen muss, auf Dauer. Im ganzen Unternehmen, und nicht nur in wenigen darauf spezialisierten Bereichen.


Schauen wir mal „nur“ mit der neurobiologischen Brille auf das Phänomen. Exploitation ist Verhalten, das die Leistung in den laufenden Aufgaben optimiert bzw. das operative Geschäft ausschöpft. Hingegen ist Exploration als ein Verhalten zu verstehen das als Abkoppeln oder Sich-Befreien von laufenden Aufgaben funktioniert um Alternativen zu suchen. In der Fachliteratur ist vom Exploration-Exploitation-Dilemma6 die Rede. Das ist nicht übertrieben, weil die zwei kognitiven Aktivitäten in verschiedenen Regionen des Gehirns stattfinden, d.h. sie sind mit verschiedenen Entscheidungsmustern und Belohnungsreizen assoziiert. Allein das macht deutlich wie anspruchsvoll es ist, die Kompetenz der Beidhändigkeit zu erwerben bzw. im Team zu organisieren. Diese nüchterne Einschätzung scheint mir überaus notwendig um haltbare Entscheidungen zu treffen. Ein lauwarmes „wir sollten auch mit-tun, weil es andere (angeblich) tun“ ist die schlechteste aller möglichen Entscheidungen.


Eine Prognose, ohne Umschweife: Die Zukunftsmusik wird in „beidhändig operierenden Teams“ gespielt werden.


Die Prognose mag gewagt klingen, ist jedoch nur folgerichtig. Jeder weiß, dass nur sehr wenige Führungskräfte sowohl den Exploit- als auch den Explore-Modus gleich gern und gekonnt in sich vereinen. Hingegen haben fast alle, gut zusammengestellten Teams das Potenzial über die ganze Breite. Wohlgemerkt, das Potenzial. Um die volle Kompetenz zu erwerben braucht es eine sorgfältig-geduldige Teamentwicklung der wirklich innovativen Art. 7


Vier zusammenfassende Erkenntnisse



  1. Die Kompetenz beidhändig zu agieren aufzubauen scheint mir eine große soziale und kulturelle leadership challenge für sehr viele Unternehmen zu werden. Dies gilt vor allem für global operierende Unternehmen.

  2. Jedes Unternehmen muss wohl seine eigene, maßgeschneiderte Beidhändigkeit finden und Co-Creation liegt nahe.

  3. Kein Team wird von dieser, heute oft noch als Zumutung zurückgewiesener, Herausforderung „verschont“ bleiben, ja, es kann sogar Spaß machen. Selbst Teams, deren Hauptaufgabe auch in Zukunft zu 80 % oder mehr auf operative Exzellenz und Optimieren gerichtet bleibt, werden ihren eigenen Weg finden müssen in ihrem Arbeitsfeld Innovationen on the go reaktionsschnell einzubauen.

  4. Die Frage „Pro oder Kontra Beidhändigkeit?“ spiegelt das klassische Bei einem dezidierten oder schleichenden Nein werden Sie nie erfahren wogegen Sie sich entschieden haben.


Mit einem „Ja, für das Sie sich voll engagieren“ folgen Sie der Erkenntnis von Stuart Crainer: „Die Erfolgsgeschichten von heute sind die riskanten Entscheidungen von gestern“ - oder beruhen ganz unheroisch auf einem gut genutzten Zufall, meint der Autor.


 


1 von Siemens, Nathalie, Hg. (2016): Werner von Siemens. Der brodelnde Geist in Briefen


2 Walter Isaacson (2011): Steve Jobs. „Ich verstand, dass es immer meine Aufgabe war sicherzustellen, dass das Team hervorragend war. Wenn ich es nicht tat, dann würde es keiner machen.“ (Seite 664)


3 O’Reilly /Tushman (2013): Organizational Ambidexterity: Past, Present, and Future. The Academy of Management Perspectives, Vol. 27, No. 4, 324-338.


4 Die mir mit Abstand wichtigste Quelle zum Verständnis der Gleichzeitigkeit der beiden Modi für das langfristige Überleben von Organisationen ist das Lebenswerk von James G. March. Hier nur eine Leseempfehlung: Zwei Seiten der Erfahrung. Wie Organisationen intelligenter werden können. Heidelberg, 2016.


5 Die 5 Begriffe / Unterschiede in den Kompetenzen im Bild sind eine shortlist. Mehr dazu in einem vertiefenden unveröffentlichten Paper.


6 Bruce Posner erklärt in seinem Blog „Balancing Exploration and Exploitation im MIT Sloan Management Review, Januar 2015, den Artikel „Understanding the Exploration-Exploitation Dilemma“ von Laureiro-Martínez, Brusoni, Canessa und Zollo, erschienen im Strategic Management Journal.


7 Das Kairos®-Gruppenpotenzial-Profil dient hervorragend als „Einstiegsinstrument“ in diese innovative Teamentwicklung. Mehr dazu in einem eigenen Beitrag. Nur so viel sei hier zum Lösungsansatz verraten. Mit Hilfe von vier Balanceakten bzw. Interaktionsmustern kann das beidhändige Arbeiten im Team exploriert, geübt und gemeistert werden.