Warum wir Konfliktpartei in der Ukraine sind...

Man kann den Krieg in der Ukraine auf unterschiedliche Weise beschreiben, was dann zu unterschiedlichen Handlungskonsequenzen führt:


Version 1: Es ist ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, d.h. zwischen zwei Staaten, wobei der eine den anderen (Russland die Ukraine) mit Waffengewalt zu unterwerfen versucht. Solche kriegerischen Auseinandersetzungen entstehen generell, wenn zwischen zwei sozialen Einheiten keine Einigkeit über ihre Beziehungsdefinition besteht. Die eine Konfliktpartei möchte eine komplementäre Beziehung (Herrscher/Unterworfener-Beziehung), der andere Partner akzeptiert dieses Beziehungsangebot nicht und wehrt sich. Das paradoxe Resultat des Versuchs, Komplementarität in der Beziehung herzustellen, ist eine symmetrische Beziehung. Diese Symmetrie besteht, solange der Streit nicht entschieden ist. Das macht manchmal das Einfrieren von Konflikten attraktiv, weil die Symmetrie so auf Dauer gestellt wird und die Beziehungsfrage unentschieden bleibt.


Im schlechteren Fall kommt es zur symmetrischen Eskalation: der potenzielle Unterwerfer (wie aktuell Russland) greift zur Gewalt und steigert sie, wenn sie nicht zur Kapitulation der anderen Partei führt. Beide Seiten rüsten hoch, um entweder zu versuchen, die jeweils andere Seite zu unterwerfen, oder aber – das reicht schon –, weil keine Seite bereit ist, sich zu unterwerfen. Die Komplementarität wird nicht akzeptiert. Solange eine der beiden Seiten glaubt, sie könne sich doch noch irgendwie oder -wann durchsetzen und/oder beide Seiten überzeugt sind, die Niederlage verhindern zu können, wird der Konflikt/Krieg fortgesetzt. Das gilt nicht nur für bewaffnete Konflikte, sondern generell für Konflikte.


Im Klartext heißt dies: Gegen den Frieden hat jede Seite das Vetorecht bzw. – wahrscheinlich besser formuliert – die Möglichkeit, ihn zu verhindern. Man kann den Frieden nicht einseitig erzwingen, was seine Störung als Ausdruck der Autonomie so attraktiv macht.


Als nicht direkt an den feinseligen Aktionen Beteiligter (im Russland-Ukraine-Beispiel: z.B. Deutschland) kann man sich neutral zeigen. Man ist nach dieser Beschreibung dann nicht Teil des Konflikt-Systems und kann sich als außenstehend definieren und „heraushalten“. Im besten Fall kann das dann die Grundlage einer Vermittlerrolle sein (Allerdings nur, wenn alle beteiligten Kriegs-Parteien zu dem Schluss kommen, dass sie nicht gewinnen, aber ihre Niederlage verhindern können; nur dann kommt ein Mediator ins Spiel; Dritter könnte auch eine übergeordnete und militärisch überlegene, hierarchische Macht sein, die sich von außen mit Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung einmischt und beide Seiten zur Beendigung der kriegerischen Aktion bringt; solch eine Macht ist aber bei zwischenstaatlichen Konflikten aufgrund der Zahnlosigkeit der UNO leider nicht verfügbar).


Version 2 (und das ist die Version, die m. E. die passendere Beschreibung ist): Es handelt sich um keinen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine (obwohl alles so begonnen hat), sondern zwischen zwei verschiedenen Methoden der Konfliktregelung. Auf der einen Seite (=Russland) steht der archaisch anmutende Versuch, durch Gewalt Konflikte zu entscheiden. Es herrscht das Faustrecht, der Starke nimmt sich, was ihm gefällt, und der Schwächere fügt sich in sein Schicksal. Auf der anderen Seite (=Unterstützer der Ukraine + Ukraine) stehen die Vertreter einer zivilisierten Methode der Konfliktentscheidung. Das heißt im Klartext: Es gibt ein Rechtssystem, das als höhere Macht fungiert, der sich alle unterwerfen und nach deren Regeln Konflikte entschieden werden.


In Staaten ist diese Art der Konfliktregelung durch das staatliche Gewaltmonopol gesichert. Das ist leider beim Völkerrecht nicht der Fall (und ehe es nicht ein Gewaltmonopol auf internationaler Ebene gibt, wird es immer wieder zu Kriegen kommen).


Norbert Elias hat diese durch das Gewaltmonopol gesicherte Verrechtlichung von Konfliktentscheidungen als Merkmal von Zivilisation definiert. Es geht also – um es auf eine Formel zu bringen – im Ukrainekrieg um den Kampf zwischen einer zivilisierten und einer archaischen Weltordnung.


Auch nach dieser Beschreibung wollen beiden Seiten, eine komplementäre Beziehung herstellen. Die Unterstützer der Ukraine haben das Ziel, dass die Russen sich dem Völkerrecht unterwerfen, die Russen erstreben die Unterwerfung der Ukraine bzw. akzeptieren nicht die durch „den Westen“ vorgegebene bzw. favorisierte Weltordnung. Und auch so kommt es zur symmetrischen Eskalation.


Nach dieser zweiten Beschreibung sind wir Konfliktpartei. „Wir“ bedeutet: die große Zahl der Staaten, in denen eine repräsentative Demokratie besteht – d.h. nicht die NATO, denn zu ihr gehören auch Staaten, denen dieses Etikett nicht zugebilligt werden kann (Türkei, Ungarn, deren Unterstützung für die Ukraine dementsprechend auch nicht sonderlich überzeugend ist).


Dass die USA in den vergangenen Jahrzehnten oft genug in der Rolle dessen waren, der archaische Methoden anwendet, sei hier unterstrichen (Irakkrieg, Grenada usw.). Im Moment scheinen sie gerade mal auf der Seite der Zivilisation zu stehen. Allerdings haben sie viele Institutionen, die zu einer dauerhaften Zivilisierung der Weltordnung hätten dienen können, boykottiert (z.B. Internationaler Gerichtshof).


Dass der Krieg auf das Territorium der Ukraine beschränkt ist, liegt offenbar im Interesse aller beteiligten Parteien, denn die Regeln der Zivilisation sind den westlichen Ländern offenbar nicht so viel wert, um die eigenen Bürger in den Fleischwolf zu werfen; und den Russen ist die Beschränkung auf die Ukraine wichtig, weil sie sonst – mehr oder weniger gegen den Rest der Welt – kämpfen müssten und ihre Hoffnung, doch noch die Ukraine zu unterwerfen, endgültig aufgeben müssten.