Heimat ist eine originale Fälschung

“Impfen tötet“, „die Presse lügt“, „alle Politiker sind korrupt“, „Bill Gates hat das Virus in Umlauf gebracht“, „es klingt esoterisch, aber hast du es schon einmal mit Meditation probiert “, „wir da unten, die Bürger“ usw.


Wer kennt nicht diese Sprüche, diese Parolen, die seit einiger Zeit immer radikaler vorgetragen werden. Sei es durch Menschen, die einem Verschwörungsglauben anhängen oder sei es durch Mitglieder oder Sympathisanten der AfD oder anderer rechtsnationaler Gruppierungen. Wie damit umgehen? Wie darauf reagieren? Kann man überhaupt mit Argumenten darauf eingehen? Fragen über Fragen, die viele Menschen beschäftigen. Fragen, die nach Antworten suchen. Fragen, die mir jüngst in einer besonderen Art und Weise begegnet sind, als ich mit einem sehr erfolgreichen, umweltbewussten, kreativ tätigen und eher zurückhaltenden Mann zu Mittag aß.


Kulinarische Köstlichkeiten in der Kantine des Herrn Schneider


Ich nenne ihn Herr Schneider, hatte vor einiger Zeit über längere Zeit mit ihm zusammengearbeitet. Sein Unternehmen mit einer Größe von ca. 700 Mitarbeitern ist international sehr erfolgreich. Er selbst ist wach, aufmerksam aber zurückhaltend, ein kritischer, selbstreflektierter Mann, freundlich einladend und humorvoll eloquent, wenn man ihn privat oder beruflich spricht. So kannte ich ihn, bis vor einiger Zeit. Gut ein Jahr nach Beendigung unserer Geschäftsbeziehung hatte er mich zum Mittagessen eingeladen. In 2022 war es damals noch üblich, eine FFP II Maske zu tragen. Wir begegneten uns also im Erdgeschoss, dem Empfang seines Unternehmens. Ich freute mich auf das Wiedersehen und das Mittagessen, zumal die Küche in seiner Kantine für Ihre kulinarischen Köstlichkeiten berühmt war. Ich war noch nicht richtig angekommen als Schneider mir schon wild gestikulierend, auf seine Maske zeigend entgegenkam und sich mit einem fast nicht enden wollenden Redeschwall über Gott und die Welt beschwerte. Mal ging es allgemein um die Politik, mal um das Corona Virus, um den Lockdown. Mal um die Restriktionen der Regierung, mal um die wirtschaftliche Entwicklung in der Welt, mal um..... Er beklagte sich, er beschwerte sich. Er empörte sich. Es schien mir, als wäre es ein völlig anderer Mensch, der heute zu mir sprach, ganz im Unterschied zu dem Herrn Schneider, den ich ihn vor zwei Jahren kennen gelernt hatte. Er war sichtlich aufgebracht, emotional außer sich und in seinem Redeschwall überhaupt nicht mehr zu bremsen. Ich fühlte mich nicht nur total unwohl, sondern saß vor ihm, sprachlos und wie hypnotisiert. Mir blieb das Essen im Hals stecken. Meine Gedanken rasten, ohne dass ich ein Packende sah, seinen Monolog zu unterbrechen, um mit ihm reden zu können. Mal nickte ich fassungslos schwach wie automatisch, ohne ihm zuzustimmen, mal schwieg ich. Mal nahm ich einen Anlauf, um einen Satz zu beginnen, der aber schon im Keim erstickt wurde, bevor ich ihn ausgesprochen hatte. Am liebsten wäre ich aufgestanden und rausgerannt. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, oder ihm den Kopf gewaschen, um ihn an den Herrn Schneider zu erinnern den ich vor gut einem Jahr kennen- und schätzen gelernt hatte. Nichts dergleichen.


Empörung über Empörung (nichts als Empörung?)


Er entrüstete sich in Empörung, empörte sich lautstark entrüstend und verstrickte sich in einem unendlichen Gewirr von, wie mir schien, fast verzweifelten Selbst-Offenbarungen. Diese spiegelten mir jedoch eher seine tiefe, trotz Wortschwall sprachlose, ohnmächtige Not. Schließlich sagte er mit bedrückend klingender Stimme, er wolle weg, am liebsten weg aus Deutschland. Ich fragte ihn, wohin er denn gehen wolle und er wiederholte noch entschiedener (oder war es verzweifelter?), dass er einfach nur wegwollte, wegwollte, wegwollte aus Deutschland. Erneut setzte ich an, um zu erfahren was das Ziel seines Bemühens sein würde, ob es vielleicht ein Land in Europa sei oder gar Neuseeland, das weit genug vom Geschehen in Deutschland wäre. Er schwieg und blickte mich regungslos an. Nichts half mit ihm darüber zu reden. Er wollte weg. Er wollte weg, wollte weg. – Und wusste nicht wohin. Ich spürte seine Verzweiflung, in Not gefangen zu sein, nämlich nirgendwo auf der Welt einen geschützten, sicheren Ort finden zu können. Ich spürte seine schier drängende Verzweiflung, die seiner Rastlosigkeit in der immer lauter werdenden Empörung einen überwältigenden Ausdruck bekam. Er konnte dieser Macht, dieser Bemächtigung durch seine unerfüllbare Sehnsucht nach „diesem Ort“ nicht entkommen, so verzweifelt er zu entfliehen bemüht war. Er überwältigte sich selbst durch die eskalierende Betonung seiner Verzweiflung mir gegenüber und in dem echolosen öffentlichen Raum in der Kantine seiner Unternehmung. Und er überwältigte mich als sein Gegenüber, indem er mich „denkunfähig“, sprachlos und hypnotisch gebannt, zu vereinnahmen bemüht war. Dabei wollte ich doch nur mit ihm zu Mittag essen. Dabei war ich ihm doch wohlgesonnen.


Dort, wo es gut ist


Dieser überraschende Moment am gemeinsamen Mittagstisch weckte spontan all meine Sinne und verhalf mir nach einer endlos wirkenden Stunde zu einer Erwiderung. „Suchen Sie einen Ort, der ihnen Sicherheit und Schutz gibt?“ Er nickte zögernd, wortlos deutlich und schaute mich dabei völlig verblüfft an. „Ist es etwa ein Ort, an dem Sie sich zuhause fühlen würden, ein Ort, der mit einem Heimatgefühl verbunden ist?“ Er wurde still. Reglos schaute er mich an, nickte und es begann sich (endlich) ein Gespräch zwischen uns über etwas zu entfalten, was man Zuhause, Heimat oder einen sicheren Ort nennen könnte. Einen Ort, wo es einfach gut ist. Ich konnte auf einmal gut nachvollziehen, wie es ihm wohl gehen würde, was ihm unterschwellig und doch so sichtbar, so spürbar keine Ruhe gibt. Ich dachte an all die Schwierigkeiten während der Coronazeit, an die Verwerfungen in der Gesellschaft, an die Krisen in der Welt (es war noch vor dem Ukrainer Krieg) und die Zukunft, die in einer immer weiteren Ferne zu verschwinden begann.


Was ist Heimat?


Was ist Heimat fragte ich mich? Ist es der Ort, an dem ich geboren bin, an dem ich meine Kindheit verlebt hab? Ist das der Ort, der durch die Erinnerung geschönt, einer heilen Welt gleich, gerade jetzt von mir Besitz zu ergreifen bemüht ist? Ist es der Schutz den ich bei der Mutter gefunden hab, wenn ich mir weh getan hatte? Ist es die allumfassende Bewunderung für meinen Vater, auch wenn wir uns später nächtelang über wichtige und belanglose Themen gerieben hatten? Was ist Heimat? Was ist ein Zuhause? T. S. Eliot versteht Heimat als das „wovon man ausgeht“. Später wird das Leben, die Welt immer fremder, verworrener und wirkt wie ein Gefüge, das eine Orientierung zunehmend schwieriger macht. Ist Heimat also ein Ort wie Deutschland oder Frankreich oder Spanien? Ein Ort, der, wenn ich zu ihm zurückkehre, mir sofort und erneut das Gefühl von Heimat schenkt? Es ist nicht nur der Ort, sondern es sind gerade auch die Geschichten, die gemeinsam erlebten Erzählungen, die uns ein Leben lang begleiten. Heimat ist etwas, was man nicht verlieren kann, auch wenn man nicht mehr an dem Ort seiner Geburt und Kindheit weilt. Nimmt man doch diese Erzählungen, diese erlebte Erzählung von Heimat mit in sein Leben. Wie mag es wohl den Millionen Flüchtlingen weltweit ergehen, die täglich erleiden müssen, unter Lebensgefahr, alles hinter sich lassen zu müssen, aus ihrer Heimat vertrieben, in eine völlig unsichere Zukunft aufbrechen (müssen). Werden sie den Ort ihrer Herkunft je wiedersehen? Werden sie bei all der Traumatisierung auf ihrem Fluchtweg, die erlebten Erinnerungen, die erlebte und vergangene Heimat in ihrem Herzen bewahren können? Heimat ist auch das Ensemble von Ritualen und Gewohnheiten, die Vertrautheit mit der eigenen Muttersprache, mit dem Klang der Stimmen, die einen umgeben. Heimat meint auch: „von etwas ausgehen“. Es meint auch das einem so Vertraute unmissverständlich hinter sich lassen zu müssen. Hinter sich z lassen, um eine eigene neue Zukunft, einen neuen Raum des Erlebens, frei und selbstbestimmt aufzubauen.


Heimat ist Zustand und Kreation zugleich


Heimat ist insoweit etwas was mir in meiner Kindheit einen Anstoß für das Leben gegeben hat, Heimat ermöglicht mir daher mein eigenes Leben selber tagtäglich mit anderen zusammen herzustellen, stets aufs neu zu gestalten, neu zu formen. Wenn es denn der neue gesellschaftliche und kulturelle Raum mir erlaubt. Der Soziologe Russell Hardin sagte einmal „Heimat ist der epistemologische Trost des Zuhauses“. Heimat ist also kein Ort, keine Sprache und nur bedingt das Ensemble von Gewohnheiten, die man sich ins Reisegepäck gesteckt hat. Es sind die Erinnerungen an früher. Erinnerungen an eine gefühlte und seelisch tief verankerte Erfahrung, die sich nie kontinuierlich vollzogen hat. Diese gefühlten, man könnte fast sagen, archaischen Erinnerungen verkörpern die Spuren der Weiterreichung von persönlich erlebter Erfahrung und denen von Generation zu Generation. Natürlich sind diese verbunden mit Verfälschungen Verformungen, Überfremdung und doch auch mit dem Trost eines Zuhauses. Heimat ist also nicht etwas Erlebtes, was einen im Leben begleitet, das einem etwa Erinnerung qua Erzählung, Schutz, Sicherheit und unausgesprochene, verlässliche Vertrautheit ermöglicht, Heimat ist immer auch der aktive Blick in die Zukunft, der mutige Blick auf das Fremde, auf das Neue, das mir selbst ermöglicht Heimat zu bewahren und gleichzeitig zu gestalten oder gar zu kreieren. Heimat ist also immer hybrid und dynamisch, gestaltet sich stets neu und verändert sich, wenn ich mich bewusst erinnere, wenn ich bewusst davon erzähle und wenn ich neuen Menschen begegne. Heimat gibt es nicht als Original und Fälschung, denn sie ist wie es in der Süddeutschen Zeitung vom 18.9.2015 geschrieben stand, immer eine originale Fälschung.


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