Ich bastele mir meinen wissenschaftlichen Hellseher

Was wäre in Zeiten von Corona die Politik ohne ihre Wissenschaftler? Sie braucht deren Expertise, ist man doch als Politiker durch dieses kleine Virus völlig auf dem falschen Fuß erwischt worden.


An der Hand von beredten Wissenschaftlern fühlt sich das Fahren auf Sicht im Nebel einfach besser an. Die mahnende oder phasenweise auch ermutigende Einschätzung von Wissenschaftlern stützt sich auf Zahlen, Szenarien und Rechenmodellen, die üblicherweise in der Welt der Wissenschaft zu heftigen Diskursen führen. Das gehört eben zum Wissenschaftsbetrieb. Die Intensität der Temperatur eines solchen Diskurses heizt den Beteiligten ganz schön ein. Nun, das gehört eben dazu. Später, irgendwann dann, werden die Karten auf den Tisch der Öffentlichkeit gelegt. Politik und Öffentlichkeit können sich bedienen oder auch nicht. Seit Beginn der Coronakrise findet ein solcher Diskurs aber in Echtzeit in aller Öffentlichkeit statt. Soziale Populationen beteiligen sich jedoch mit ihrer eigenen Wahrnehmungsbrille an einem solchen Diskurs. Diese Wahrnehmungsbrillen sind jedoch bekanntlich sehr unterschiedlich.


In Zeiten von Corona scheinen sich Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in einer Notgemeinschaft zu befinden. Der Eine braucht den Andern. Wissenschaftlicher Diskurs, Politische Meinungsbildung und (öffentliches) Medientheater sind auf einmal nicht mehr unterscheidbar. Der Eine treibt den Andern. Der Andere übertrumpft den Einen. Und alle können doch der sehr kurzen Halbwertzeit ihrer jeweiligen Positionierung nicht entgehen. Man tritt sich dabei eben auch auf die Füße und stolpert eher als gedacht. Mit einem lauten Aufschrei zeigt man dann mit dem medialen Zeigefinger auf die jeweils anderen. Ganz nach dem Motto „ich bin, wenn Du nicht bist“.


Ist doch auch klar, könnte es heißen, wenn man im Nebel auf Sicht fährt. Mal ist die Sicht 2o m, mal 50 m, mal 197 m. Ist doch auch klar, könnte es andererseits heißen, wenn Wissenschaftler (und ich unterscheide hier deutlich zwischen Wissenschaft und Wissenschaftlern) wissenschaftliche Expertise und Selbstüberschätzung verwechseln. Ist doch auch klar, wenn Menschen sich in Zeiten tiefster Verunsicherung ein Packende herbeisehnen. Nur wie unterscheidet man ein solches Packende, das ich mir auch manchmal wünsche, von einem „Glauben-Wollen“, an etwas, was sich auch immer gerade als Glaubensinhalt anbietet?


Wie kann man, so frage ich mich dann, diese manchmal bizarre Gemengelage verstehen, die sich auftut zwischen wissenschaftlich notwendiger Expertise, politischer Handlungsfähigkeit (wenn auch nur auf Sicht) und dem aus der Verzweiflung geborenen Bedürfnis nach einer neuen, Hoffnung und Erlösung suggerierenden „Religion“?


Man könnte sagen, ein wissenschaftlicher Diskurs (über Corona usw) sollte im dafür vorgesehen wissenschaftlichen Raum stattfinden. Man könnte sagen, die Rollen von Wissenschaft und Politik und Medien seien nicht hinreichend geklärt. Man könnte sagen, wissenschaftliche Expertise müsste für Jedermann klar zwischen Untersuchungsergebnis und wissenschaftlicher Meinung unterscheiden. Man könnte die Auffassung vertreten, dass Politik ….. Man könnte meinen, dass ……..Man müsste, ……usw


Wenn denn nicht auf dem Weg hin zu mehr diesbezüglicher Klarheit ein turbulentes Wirkungsgewitter entstehen würde. Ganz nach dem Motto: „Wirklichkeit ist was wirkt“. Dies Gewitter, so scheint es, macht Wissenschaftlern zu Predigern, Politiker zu Gefolgsleuten und Menschen zu Sektenanhängern (damit meine ich nicht nur die Verschwörungsgläubigen).


Wie werden wir uns in Zukunft in einem gesellschaftlichen Gebilde einrichten, das uns ständig den Spiegel vor Augen hält? Einen Spiegel, in dem wir nach Antworten suchen. Dieser Spiegel ähnelt zunehmend einer riesigen Kristallkugel, in die wir Wissenschaftler zu Hellsehern machen und Politiker zu virtuellen Eltern, die uns aus Alpträumen erretten sollen. Wir schauen fasziniert und gebannt täglich, stündlich, angefeuert durch sog Push-Nachrichten, in den Medienspiegel und verlieren den Rest an Sicherheitsgefühl oder Zuversicht, die wir noch besitzen Aber wehe, wenn sie nicht unsere Erwartungen erüllen.


Bei genauer Betrachtung sehen wir uns nur selbst in diesem Spiegel. Wir erfahren dabei, wie wir im Grunde unserer Seele selbst gestrickt sind. Wir sehen uns ungeschminkt und wollen dies nicht wahrhaben.