Der größte Haufen, der Teufel und der radikale Individualismus der Systemtheorie

Angesichts eines kürzlich publizierten Beitrags auf einer Social Media-Plattform zu einer systemtheoretischen Deutung der Corona-Maßnahmen und der gescheiterten politischen Kontroll-Hybris (etwa der No- und Zero-Covid-Strategien) sowie der individuellen und sozialen Selbstorganisationspotentiale zur Krisenbewältigung überraschte mich die Diskursdynamik. Nachdem ein nicht unbekannter Influencer, der sich wahrscheinlich selbst nie in dieser Weise bezeichnen, geschweige denn bewerten würde, einen ersten, extrem kritischen bis abwertenden Kommentar zum Beitrag postete, entstand eine Flut weiterer Kommentare, die die Sichtweise des ersten Kommentars bestätigten. Es war offenbar durch den ersten Kommentator ein Framing oder gar Priming gesetzt worden, das alle weiteren Kommentare orientierte. Es gab auch andere, positive und befürwortende Kommentare, diese blieben jedoch in einer Minderzahl.
 
Anhand dieses Beispiels können wir sehr gut den so genannten Matthäus-Effekt beobachten, nach dem es eine bestimmte, nämlich den ersten Beitrag bestätigende Orientierung der weiteren Interaktion gibt – oder mit den Worten, die ich häufiger von Fritz B. Simon hörte, um diesen Effekt zu beschreiben: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.
 
Um diese Analogie hier nicht weiter zu bemühen, sondern einmal nüchterner auf diesen Effekt zu schauen, könnten wir das beobachtete Phänomen auch als ein Beispiel für einen kybernetischen Attraktor bewerten, als einen Eigenwert im Sinne Heinz von Foersters, der sich sehr schnell aufgrund der Diskurskraft des ersten Kommentators eingestellt hat. Jeder weitere Kommentar, der in dieser Weise abgesetzt wird, verstärkt den Attraktor und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Folgeinteraktionen vor allem in diese Richtung gehen. Mit Michel Foucault wird hier diskursive Macht deutlich: Alle, die sich dagegenstellen, die anders votieren, positiv kommentieren, werden beobachtet und möglicherweise mit abwertenden Kommentaren sanktioniert. Allein die entsprechende Befürchtung der potentiell Kommentierenden reicht aus, um die Diskursmacht derjenigen zu stärken, die dem Attraktor des ersten Kommentars folgen. So meldeten sich mehrere Mitlesende per Privatnachricht, die weder den Blogbeitrag liken noch kommentieren wollten, aber ihre Zustimmung signalisierten und sich dafür entschuldigten, dass sie schweigsam bleiben.
 
Was ist die Quintessenz aus dieser Begebenheit?
 
Wenn wir tatsächlich wollen, dass offen diskutiert wird, dann sollten wir uns unserer eigenen Wirkung bewusst sein sowie strategisch und zeitlich klug unsere Beiträge setzen. Möglicherweise hat der Influencer genau dies getan, seinen Beitrag entsprechend positioniert, weil er es so wollte, wie es dann tatsächlich gekommen ist. Dies wiederum verweist auf eine andere Frage, die ich hier nicht diskutieren, sondern abschließend nur benennen will: Wie halten wir es mit der Pluralität der Positionen und wie ernsthaft nehmen wir auch in der aktuellen Krise das zur Kenntnis, was wir mit der Systemtheorie hinsichtlich der Dynamik von komplexen bio-psycho-sozialen Systemen ansonsten teilen und verlautbaren lassen?
 
Wer die Systemtheorie dafür nutzt, um normative Positionen zu begründen, wie etwa bestimmte Pandemie-Maßnahmen, etwa einen allgemeinen Impfzwang oder das Gegenteil davon, etwa die Impfablehnung, betreibt Ideologie. Denn bei solchen Begründungen wird in der Regel nicht offen theoretisch abgewogen, sondern es werden bereits zuvor getroffene normative Entscheidungen nachträglich theoretisch zu erhärten versucht. Zugleich erscheint es in diesem Zusammenhang von biologischen Faktoren nicht passend, mit der Konstitution sozialer Systeme zu argumentieren, beispielsweise deren Erhalt zu thematisieren. Denn dabei wird übersehen, dass diese Systeme gerade nicht auf die Körper durchgreifen, sondern dass ihre Operationen in der Umwelt dieser rein kommunikativ zirkulieren.
 
Wer etwas Körperliches zu begründen oder zu kritisieren versucht, der sollte die Systemreferenz beachten, um die es hier geht, eben die bio-medizinische, die rein körperlich individuelle. Wie Niklas Luhmann selbst deutlich gemacht hat, ist es ein Effekt seiner Theorie, dass Individuelle ernster zu nehmen als dies in anderen soziologischen Modellen geschieht, nämlich gerade deshalb, weil menschliche Körper der Umwelt sozialer Systeme zugerechnet werden. In diesem Sinne schließe ich mit einem Zitat Luhmanns, in dem er unmissverständlich äußert, dass „die Theorie autopoietischer, sich-selbst-ausdifferenzierender Systeme eine radikal individualistische Theorie ist, weil sie ihre Individuen nicht nur durch konkret einzigartige Merkmalskombinationen, sondern außerdem noch durch jeweils eigene, selbstkonstruierte Umweltperspektiven, also durch jeweils anders konstruierte Welteinschnitte kennzeichnet". [1]


[1] Niklas Luhmann (1995): Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 165.