„Warum sind die Verhältnisse so hartnäckig?“ - zum Gedenken an Helmut Willke

„In einer Epoche der akuten Selbstgefährdung gesellschaftlicher Systeme ist es an der Zeit, die immer feiner ziselierten Detailforschungen in vielen Disziplinen mit Forschungsperspektiven zu ergänzen, welche die systemischen Merkmale und Zusammenhänge der beteiligten Gesellschaften und ihre globalen Vernetzungen im Blick haben.“ (Willke 2023)


Der Soziologe Prof. Helmut Willke ist kürzlich im Alter von 78 Jahren verstorben. Ein Herzinfarkt riss ihn, wie die Familie mitteilte, mitten aus dem Leben. Wer ihn kannte und damit wusste, wie sportlich und sportbegeistert Willke war, wird womöglich noch überraschter sein von dieser Nachricht. Mit ihm verliert die Soziologie und speziell die soziologische Systemtheorie einen der bekanntesten Gesellschafts- und Steuerungstheoretiker. Geboren wurde Helmut Willke am 30. Mai 1945 in Tailfingen, Kreis Balingen und wuchs in Stuttgart auf. Nach seinem Jura- und Soziologie-Studium promovierte er 1974 in Tübingen. Es folgte eine Assistententätigkeit an der Universität Köln, die er 1983 mit der Habilitation in Soziologie abschloss. Von 1983 an bis zu seiner Emeritierung hatte Willke zunächst eine Professur für Planungs- und Entscheidungstheorie und dann ab 2002 eine Professur für Staatstheorie und Global Governance an der Universität Bielefeld inne. Anschließend wechselte er an die Zeppelin Universität Friedrichshafen mit einer Professur für Global Governance. Seine nicht nur in den Gesellschaftswissenschaften, sondern auch in der Management- und Beratungspraxis breit rezipierte Forschungen wurden 1994 mit dem Leibniz-Preis gewürdigt.


Zu Willkes bedeutendsten Lehrern gehörten der Tübinger Rechtsgelehrte Günther Dürig und der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann. Gerade Letztgenannter übte einen starken Einfluss auf sein Denken aus. Willke war immerzu ein Vermittler und Entwickler der Systemtheorie. Zum einen war er bestrebt, die Systemtheorie über Einführungswerke zu vermitteln, zum anderen arbeitete er über Jahrzehnte daran, die Theorie in den Bereichen Intervention, Steuerung und Governance konzeptionell voranzutreiben. Generationen von Studierenden wurden in seinen Vorlesungen mit Ideen zur Kontextsteuerung vertraut gemacht: Steuerung gelingt, kurz und knapp zusammengefasst, sobald Kontextbedingungen im zirkulären Operationsmodus eines Systems Irritationen auslösen, also ein gesteuertes System aus seiner Umweltbeobachtung heraus systeminterne Informationen und Bedeutungen generiert, welche seine Operationen in einer bestimmten Weise verändern. Mit dieser Idee füllte er nicht nur eine Leerstelle der Luhmannschen Systemtheorie, er lieferte auch das Basiskonzept für systemisch orientierte Beratungsformen bis hin zur Entwicklungshilfe. Als durchaus streitbarer Geist hatte er in Fortbildungsveranstaltungen eine Freude daran, Praktikern zunächst die Trivialität ihrer Steuerungsideen vorzuhalten, um dann zu zeigen, wie sie intelligenter und wirksamer intervenieren können.


Schaut man auf sein Werk mit mehr als 20 Büchern, so fällt eine These besonders auf, an der Willke ab den 1980igern Jahren bis ganz zum Schluss gearbeitet hat: die wachsende Diskrepanz zwischen Steuerungsbedarfen und Steuerungskapazitäten in modernen Gesellschaften. In seinen späteren Büchern zeigte Willke, wie sich die Probleme staatlicher Steuerung weiter verstärken, wenn die Funktionssysteme atopisch operieren, territoriale Grenzen keine Rolle mehr spielen und das Wissen kontingenter wird. Leider – muss man angesichts sich verschärfender globaler Krisenlagen konstatieren – sind Willkes Gesellschaftsdiagnosen aktueller denn je. Es bleibt zu hoffen, dass politische Entscheidungsträger sich auch in Zukunft an Willkes Arbeiten erinnern, zum Beispiel an sein letztes 2023 erschienenes Buch „Klimakrise und Gesellschaftstheorie“, um zumindest die Wahrscheinlichkeit gelingender Intervention zu erhöhen.


Torsten Groth