Sounds of Science / Steve Ayan - update gesellschaft – Was man noch sagen darf

"Wer abwartet, kommt heute notorisch zu spät." So formuliert Matthias Eckoldt, Herausgeber der neuen Essay-Reihe update gesellschaft im Carl-Auer Verlag, das Motto dieser Edition.
Sounds of Science hat in diesem Interview den Journalisten und erfolgreichen Sachbuchautor Steve Ayan zu Gast. Er ist Autor des brandneuen Essays bei update gesellschaft: Was man noch sagen darf – Die neue Lust am Tabu.
Woher die Empörungen, wenn es um Gendern geht, um Rassismus, Corona, Waffenlieferungen und andere heiße Themen? Der permanente Disput um moralische Exklusivität lässt die Fronten verhärten, nicht zuletzt in hämisch geführten Debatten in den sozialen Medien. Welches Spiel wird da gespielt? Mit welchem teils offenen, teils verdeckten Gewinn für Status und Selbstaufwertung - auf Kosten der Abwertung anderer? Wie gewinnt man stattdessen einen gelasseneren und geprüfteren Blick auf dieses Spiel, um sich selbst davor zu schützen, es vielleicht zu entschärfen und, nicht zuletzt, auch den Humor nicht zu kurz kommen zu lassen?



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Transkription des Interviews


Ohler Hallo lieber Steve Ayan. Ich freue mich, dass du hier zu Carl-Auer zum Gespräch gekommen bist heute als Autor eines, wie ich finde, fulminanten Essays: Was man noch sagen darf, Untertitel Die neue Lust am Tabu, der ganz bald als Buch erscheint, ist schon in der Druckerei. Aber mal ehrlich gesagt, man kann doch alles sagen, oder irre ich mich da?


Ayan Ich denke schon. Ja, ich werde mich auf jeden Fall bemühen, hier alles zu sagen, was mir in den Kopf kommt. Freue mich sehr, hier zu sein. Ich bin auch schon eine Weile in Heidelberg, aber hatte bislang noch nicht das Vergnügen, den Carl-Auer Verlag mal zu besuchen. Jetzt bin ich da, habe sogar ein Buch in petto und freue mich, dass das jetzt bald erscheint. Ja, genau, kann man alles sagen – oder nicht? Der Impuls zu diesem Essay war, dass das heute anscheinend eine Frage ist, die sich sehr viele Leute stellen. Es gibt offensichtlich viele Bedenken in allen möglichen Kontexten und Situationen, wo sich Menschen fragen: Ist das jetzt eigentlich okay? Darf man das noch so sagen? Muss ich gendern? Wie verweise ich auf andere Personen, wenn ich über sie rede? Also angefangen natürlich bei dem Klassiker, dem N- Wort, wo uns doch allen meistens noch klar ist, dass das nicht okay ist, das N-Wort zu nutzen. Aber es gibt ja auch Kontexte, vielleicht historische Zitate aus der Zeit der Sklaverei, wo dann eben das N-Wort vorkommt. Ist das dann okay, das zu benutzen, oder sollte man das komplett vermeiden? Es gibt viele Umfragedaten darüber, dass man bestimmte Dinge nicht äußern sollte, seien es bestimmte Sprachgebräuche, aber auch bestimmte Aussagen, vor allen Dingen zum Beispiel in Bezug auf Patriotismus oder Einwanderung, dass es da eine steigende Zahl von Menschen gibt in den letzten Jahren, die große Bedenken haben. Vom Institut für Demoskopie in Allensbach gibt es zum Beispiel große Umfragen, in denen etwa zwei Drittel der Menschen der Aussage zustimmen, man muss sehr vorsichtig sein, was man sagt, was man äußert. Wie wir ja täglich in den Medien erfahren, oder auch vielleicht am eigenen Leib erfahren, hat sich in sozialen Medien, in denen viele Menschen unterwegs sind, so eine Art Empörungskultur breit gemacht über bestimmte Aussagen, bestimmte Sprachverwendungen, diese zu identifizieren und abzuwerten und sich darüber zu empören, dass man so etwas auf keinen Fall sagen darf. Ein prominentes Beispiel ist die die Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling, die sich skeptisch übers Gendern geäußert hat und über Formulierungen wie "Menschen, die menstruieren", statt einfach "Frauen" zu sagen. Die dafür ja teils schlimme Anfeindungen im Internet erlebt hat. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Das gibt es auch im deutschsprachigen Raum natürlich en masse. Und da gibt es ja doch eine wachsende Polarisierung zwischen den einen, die diese Sprachgebote sehr offensiv vertreten, dort auch sehr moralisierend auftreten und Menschen, die dem nicht zustimmen oder die, sei es aus Unachtsamkeit oder aus Überzeugung, sich dem widersetzen. dann abwerten, zusammenstauchen, diffamieren, und andererseits aber auch Menschen, die sagen, es gibt da so eine Sprachpolizei – das Wort "Sprachpolizei" ist ja bei der Wahl das Unwortes des Jahres auf dem zweiten Platz dieses Jahr gelandet – und die sich darüber empören, bzw. sagen, da wird mit der politischen Korrektheit übertrieben, wir brauchen wieder eine neue Meinungsfreiheit. Manche gerieren sich tatsächlich, gerade im rechten politischen Spektrum, als Vertreter oder als letzte Speerspitze der Freiheitsbewegung. Und mein Buch positioniert sich in dieser Gemengelage und versucht da ein wenig Klärung zu schaffen.


Ohler Das ist ein wichtiges Stichwort für mich. Du bietest ja tatsächlich – wir können natürlich nicht alles besprechen, man kann es ja auch lesen – du bietest eine andere Form von Perspektive an. Natürlich auch mit viel Humor und mit Spitzen. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, ist auch eine Beobachtung drin, nicht nur zu sagen: Die einen sagen dies, die anderen sagen dies, und das und das ist umstritten. Sondern: Welchen sozialen Stellenwert hat man in diesen Streitigkeiten, Status oder so. Das fände ich ganz schön, wenn du dazu noch mal kurz etwas sagst, weil ich das unheimlich griffig finde, und auch provokant, aber es ist offensichtlich nötig, das zu thematisieren.


Ayan Genau, man kann viele solcher Sprachgebote oder -verbote allein auf einer inhaltlichen Ebene betrachten. Das wird ja auch viel getan. Wie verhält sich zum Beispiel der Gebrauch von verschiedenen Genderformen zu unseren gesellschaftlichen Verhältnissen? Wie denken wir dann anders über bestimmte Berufe, wenn wir nicht nur von Bäckern reden, sondern von Bäckerinnen und Bäckern, oder Journalistinnen und Journalisten, oder Forschenden statt Forschern, und solche Dinge? Ich finde aber, es ist wichtig zu bedenken, dass diese ganzen Debatten, die sich sehr viel im Internet zutragen, nicht zu verstehen sind, wenn man nicht auch die symbolische Ebene, die das hat, bemerkt. Also das Moralisieren, das Abwerten von anderen oder sich selbst aufwerten, dadurch, dass man bestimmte hehre Vorsätze promoted und sich für die stark macht. Man kommt der Sache nicht auf den Grund, wenn man das nicht auch auf einer symbolischen Ebene betrachtet, weil natürlich vieles von dieser Empörung auch eine Pose ist, in der man sich gefällt. So gibt es auch die Beobachtung, dass sich diese beiden Fronten, von denen ich gerade gesprochen –diese Sprachpolizei auf der einen Seite, und auf der anderen die selbst ernannten Freiheitverfechter – dass sich die auch gegenseitig bestärken. Das ist eine Dynamik, die dazu führt, dass sich diese Fronten gegenseitig aufschaukeln und in einer innigen Hassliebe verbunden sind, die teilweise – für mich jedenfalls – sehr komische Züge hat, auch wenn es eigentlich tragisch ist und da auch viel böses Blut entsteht, bis hin zu wirklichen üblen Anfeindungen. Aber im Grunde ist diese Art der Auseinandersetzungen, sich zu empören über Dinge, über die man auch auf eine gelassene Art und Weise sich verständigen könnte, sehr verwunderlich. Und ich habe in dem Buch versucht, auf der Basis von vielen Erkenntnissen zum Beispiel aus der Moralpsychologie zu zeigen, dass uns die moralische Abwertung von anderen und die eigene moralische Aufwertung oft sehr intuitiv, ohne dass wir bewusst ein böses Spiel spielen, unterläuft. Und dass das ein Merkmal ist, das gerade in der Onlinekommunikation sehr stark um sich greift und die Debattenkultur insgesamt in der Gesellschaft immer mehr zu beeinflussen scheint. Und ich fand es wichtig, da mal einen teils augenzwinkernden, aber auch ernsthaft beruhigenden Versuch zu machen, dieses Feld zu sichten, weil ich glaube, dass man dem nicht beikommt, wenn man sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Man muss beide Seiten abwägen, und man muss die Argumente, die auf beiden Seiten existieren, also das, was tatsächlich zum Beispiel an Verletzungen durch Sprache ausgelöst werden kann, beachten, ohne daraus einen kategorischen moralischen Imperativ zu machen, etwa "Man darf aber nur so und so". Das sind zum Teil wirklich sehr subtile Differenzierungen, die dann vorgenommen werden. Ich kenne das zum Beispiel aus dem medizinisch-psychiatrischen Bereich: Wie bezeichnet man Menschen mit Autismus? Darf man Autist sagen? Soll man Autist sagen? Oder sind es „Menschen mit Autismus“? Oder sind es "neurodiverse“ versus „neurotypische" Menschen? Solche Worte werden oft mit einer Absolutheit und mit einem starken moralischen Anspruch verhandelt, wo der Grad der Empörung in keinem Verhältnis zu dem Inhalt der Debatten steht. Und ich fand wichtig, sich mal ein bisschen entspannt zurückzulehnen. In dem Buch kommen natürlich viele Beispiele aus diesem Bereich vor, aus dem Gendern, aus der Medizin, aber auch aus anderen gesellschaftspolitischen Fragen, wo ich versuche, ein wenig Ruhe in diese Debatte zu bringen.


Ohler Ich finde es unheimlich erfrischend. Und nicht nur das, sondern ich habe das Gefühl, da ist eine besondere Beobachtungsnuance drin. Eckart von Hirschhausen hat über eines deiner früheren Bücher - du hast ja schon einige Sachbücher veröffentlicht, mit viel Erfolg – mal sinngemäß gesagt – korrigiere mich, wenn ich falsch zitiere –: Steve Ayan beobachtet uns, oder etwas in uns, auf eine Weise, die wir gar nicht so gern haben, aber hinterher nicht drum herum kommen es anzuerkennen und vielleicht einen Schritt weiterzukommen. Ich würde mal sagen, das ist die Perspektive, die du auch anbietest.


Ayan Genau. Ich fand das ganz passend damals, als ich ihn mal angefragt hatte. Ich habe von Eckart die Kolumne in "Gehirn und Geist" – die Zeitschrift, bei der ich arbeite – betreut und hatte dadurch regelmäßigen Kontakt mit ihm. Ich hab ihn dann gefragt, ob er nicht zu dem Buch, das ich damals in der Planung hatte, gern ein Statement abgeben würde. Das war letztlich dann: "Steve Ayan schreibt gern über Dinge, die wir nicht hören wollen, aber hören sollten." Das ist ein Kompliment, was ich schön eckartisch augenzwinkernd fand und was die Sache auch gut trifft. Das passt auch zu der Thematik der Tabus und der Moralisierung, weil dieses Spiel um moralischen Status, der ja vielen dieser Diskussionen zugrunde liegt, maßgeblich darauf basiert, dass man sich nicht die Blöße geben darf, dies als bloßes Spiel darzustellen. Das ist etwas, was man nicht hören mag, wenn man sich moralisch echauffiert über irgendeine Sache, die ein vermeintlich irgendwie dummer oder unaufgeklärter oder gar boshafter Mensch im Internet postet, dass man das benutzt, um sich selbst besser zu fühlen. Platt gesagt. Man kann noch sehr viel mehr dazu sagen und das ausdifferenzieren. Aber dieses Streben, sich selbst einen persönlichen Status der moralischen Integrität zuzuschreiben, was sehr stark darauf basiert, dass man den Status von anderen abwertet, das ist ein Spiel, das sich auch in Studien sehr häufig zeigt. In der psychologischen Forschung spricht man von moral selfenhancement, also moralischer Selbstaufwertung. Und dieses Muster gründet maßgeblich darauf, dass man dieses Spiel nicht transparent macht. Wenn ich zu erkennen gebe, dass ich das nur zum Zwecke tue, um mich aufzuwerten, um mich gut zu fühlen, dann konterkariert das den ganzen Ansatz. Insofern ist es tatsächlich so, schon wenn ich etwas als Tabu bezeichne, kommen Leute, die sagen: Na ja, aber das ist ja kein Tabu, es verbietet dir ja keiner, so zu sprechen; es gibt nur gute Gründe, es nicht zu tun, weil du damit andere verletzt, weil das sozusagen historisch vermintes Gelände ist, und so weiter. Es gibt ja durchaus inhaltliche Erwägungen, die man ins Feld ziehen kann. Aber wenn man sich auf so einen absoluten Wahrheitsanspruch einlässt und gar keine Differenzierung mehr vornimmt, weshalb etwas vielleicht gesagt wurde ... Also ein gutes Beispiel sind solche Fragen wie "Woher kommst du denn?", wenn man jemanden, der schwarz ist oder asiatisch aussieht, fragt. Da kommt häufig: Solche Fragen gehen einfach gar nicht, weil das eben Rassismus ist. Abes es kann auch jemand einfach so eine offensichtliche Differenz im Aussehen wahrnehmen und dann mit Interesse nachfragen, woher jemand oder die Familie ursprünglich mal kam. Das ist für manche totales NoGo und wird sehr stark angegriffen. Und diese Art des Angriffes, der letztlich dazu dient, sich selbst in einem moralisch positiven Licht zu zeichnen, das ist ein Muster, das im Buch eine große Rolle spielt. Ich habe viel in anderen Kontexten über Selbsterkenntnis und Selbstaufwertung geschrieben und begegne sehr oft diesem Phänomen, dass Menschen nicht akzeptieren können oder es ihnen intuitiv einfach Unbehagen bereitet, anzuerkennen, dass wir nahezu alle einen starken "positivity bias", also eine positive Verzerrung in unserer Selbstwahrnehmung haben. Und wenn man Studien darüber anführt, dann sagen die: Ja, aber das wurde ja alles mit Amerikanern gemacht, die Amis sind sowieso alle so narzisstisch oder stellen sich halt gerne toll dar, aber ich kann mir das bei mir selbst ganz und gar nicht vorstellen. Aber es gibt verschiedene Formen, sich selbst zu erheben. Manche Leute finden sich so bescheiden, wie kaum jemand anders dazu in der Lage ist. Man kann sich auch für seine Bescheidenheit loben, oder? Oder das Phänomen der spirituellen Selbstaufwertung. Mit meinen Yogaübungen, da bin ich einfach doch viel weiter als die meisten Leute, die machen Yoga nur so als Fitnessprogramm nebenher. Und solche Selbstbilder sind einfach extrem verbreitet. Und die prägen eben auch solche Diskussionen über Sprachregeln.


Ohler Die brauchen auch immer dieses Gegenüber, damit das Spiel überhaupt gelingt, hast du schön gezeigt, diese Perspektive. Ich habe es übrigens gemerkt, was das Hirschhausen-Zitat meint, wenn ich manchmal gedacht habe: Will ich eigentlich nicht wissen. Aber ist es gut, dass ich es jetzt weiß oder gut, dass ich dieses Angebot kriege, so auf mich selbst zu schauen und auch, in welchen Umfeldern ich lebe oder mich bewege. Noch eine Frage hätte ich an dich, die typische Carl-Auer Sounds-of-Science-Frage, aber vorher noch eine andere kurz, ohne ein großes Fass aufzumachen. Es gibt ja nun wirklich Anlass genug zurzeit, und schon länger, für genau diese Debattenformen, für diese Selbstaufwertungen und dieses Entweder-oder. Was glaubst du ist derzeit – wenn du das beantworten willst – eine Art von größtem Tabu und macht besonders Schwierigkeiten in diesen Auseinandersetzungen. Wo würdest du das verorten? Zum Beispiel im politischen Bereich. Es gibt es sicher einige ....


Ayan Aber ja, es gibt eine Menge Tabus. Jetzt gerade, also seit gut zwei Monaten, seit dem Ukraine-Krieg und dem Einmarsch der russischen Truppen, ist ja das Wort "Zeitenwende" in aller Munde. Und da gibt es eine Menge Punkte, die man einstmals für Riesentabus hielt oder hätte halten können. Zum Beispiel kräftige Aufrüstung der Bundeswehr, konfrontative Außenpolitik. Und dieses Stichwort der Zeitenwende hat dazu geführt, dass viele solcher Tabus ganz plötzlich neu bewertet werden. Was auch zeigt, wenn man von Tabu redet, dann hat das so diesen Touch des, wie soll ich sagen, des Ewigen. Es gibt halt Tabus, an denen könne man einfach nicht rütteln. Aber man kann durchaus an Tabus rütteln, und Tabus verändern sich auch ständig. Man denke nur an die Position zur Pädophilie und Sex mit Minderjährigen, die sich radikal geändert hat im Vergleich zu den 70er Jahren, wo es zwar nicht die Standardposition in der Gesellschaft war, aber durchaus vertretbare oder vermeintlich nicht tabuisierte Haltungen gab, die unter gewissen Umständen auch Sex mit Minderjährigen okay fanden. Und das ist heute ein ziemliches NoGo geworden. Andererseits zeigen zum Beispiel solche Dinge wie unser Verhältnis zu Militär, Militärausgaben, Bundeswehr, dass sich bestimmte Tabus – sicherlich nicht in allen Köpfen und nicht auf Knopfdruck von heute auf morgen – aber doch durchaus, wenn es Erfordernisse oder Argumente gibt, die das zweifelhaft erscheinen lassen, dann auch ändern können. Jetzt haben wir zwei Sachen angesprochen, die schon sehr stark tabuisiert sind. Ich glaube, ein Grundstrom in der Debatte zu den Fragen, die ich in dem Buch stelle, ist diese Vorstellung des unbedingten Wohlwollens und des nicht verletzenden, des sensiblen Umgangs miteinander. Das ist etwas, was ich in unserer heutigen Zeit als eine Grundströmung sehe, die vielen Tabus Energie gibt. Das ist etwas, was wir nicht zulassen wollen oder was uns sehr großes Unbehagen bereitet. Die Vorstellung, dass man jemand anderen mit einer Meinung, mit einer Haltung oder mit einer Sprechweise konfrontiert, die dem- oder derjenigen missfällt, das ist zunächst einmal eigentlich eine sehr fortschrittliche, moderne Sache. Wir wollen einander nicht zu nahe treten, wir wollen uns nichts zumuten. Aber es ist auch eine Sache, die uns in eine große, bedrohliche Lage bringt, weil ein gesellschaftliches Miteinander, gerade in einer Gesellschaft, in der sehr viele Gegensätze und Partikularinteressen bestehen, kaum möglich ist, ohne dass man sich gewisse Dinge zumutet. Oder dass man einfach damit konfrontiert wird, dass manche Menschen sich nicht für Autismus interessieren und auch keine Ahnung haben, wie sie darüber reden sollten, oder für schwarz sein, schwul sein, queer sein. Also, dieses Primat des, wie soll ich sagen, nicht antasten, anderen nicht zu nahe treten, das empfinde ich – und das lässt sich auch empirisch ganz gut fundieren – als ein starkes Grundthema, oder eine Grundströmung. Das sind Dinge, die uns gar nicht so richtig bewusst sind, da denken wir nicht explizit drüber nach, sondern das sind kulturelle Gepflogenheiten, die sich etablieren. Ich bin gespannt, ich könnte mir vorstellen, je nachdem, wie sich diese Konfrontation zwischen Russland und der "westlichen Welt", wie das immer so heißt, ausprägt, ob nicht auch diese Vorstellung, anderen nicht zu nahe zu treten, sich möglicherweise abschwächt oder dieses Tabu aufgeweicht wird, weil man sich Positionen annähert, die das manchmal erforderlich erscheinen lassen, dass man klare Kante zeigt, dass man Leuten Dinge zumutet, dass man auch wirklich Gegnerschaft explizit macht und pflegt. Vielleicht könnte das tatsächlich eine mittelfristige kulturelle Veränderung bedeuten, ohne dass ich das als gut oder schlecht bewerte, einfach als Beobachtung.


Ohler Das, finde ich, ist das Geniale an dem Essay, dass er einfach immer wieder dieses Beobachten favorisiert. Sehr witzig. Fast hätte ich gesagt: unbemüht.


Ayan Ich versuche letztlich in dem Essay mir selber über einige der Mechanismen, die dabei wirken, klar zu werden. Und habe mich tatsächlich auch bemüht, mich nicht auf die eine oder andere Seite dieser Debatte zu schlagen. Ich glaube, dass viele Menschen sich tatsächlich nicht auf diesen Extremen einordnen. Also die starke Community derer, die sehr stark bemüht sind, bestimmte Gebote zu beachten und sich viel darin engagieren, das ist eine relativ kleine Gruppe im Kern, ebenso wie die andere Seite, diese sagen wir mal rechtspopulistischen AfD-nahen vermeintlichen Freiheitskämpfer, die auch diese Tabuisierung der anderen benötigen, um sich selbst aufzuwerten. Das ist auch eine relativ überschaubare Gruppe. Der eigentliche Schwerpunkt des Themas, finde ich, oder einfach ein wichtiger Punkt, ist: Was tut sich eigentlich in der Mitte? Wann haben wir das Gefühl, was man nicht mehr sagen darf und nach welchen Kriterien bewerten wir das? Und welche impliziten, also unbewussten Abwägungen spielen dabei eine Rolle? Insofern passt die Form des Essays sehr schön, weil es eben darum geht, Dinge bewusst zu machen, die wir uns nicht unbedingt gern bewusst machen wollen. Aber das ist, glaube ich, sehr erhellend, und mir hat es einfach Spaß gemacht, das zu schreiben. Und ich hoffe, es macht auch den Leserinnen und Lesern Spaß, sich da in dem einen oder anderen Punkt wiederzuerkennen.


Ohler Uns macht Spaß, es zu verlegen. Ich danke dir dafür. Letzte Frage, ganz kurz. Ein Klassiker bei uns bei Sounds of Science. Im Vorgespräch oder in der Vorbereitung denkt man, dies oder das wird bestimmt thematisiert, oder das kommt vielleicht und das kommt vielleicht, und dann kam das jetzt gar nicht. Es wurde gedacht: Die Frage hätte ich gerne gehabt. Oder ist dir etwas eingefallen, du hast es links hingelegt, und jetzt liegt es da noch. Wenn das der Fall sein sollte, wäre jetzt Gelegenheit, noch etwas kurz anzuschauen und noch ein Statement zu machen. Oder auch nicht.


Ayan Was ich noch sagen wollte? Sagen wir so: Ich bin für Rückmeldungen, was die Wirkung des Buchs angeht, sehr dankbar. Und ich freue mich, wenn ich auch nicht nur mit Medienleuten, die das vielleicht irgendwo aufspießen oder zum Thema machen, sondern auch mit Leserinnen und Lesern in Kontakt gehe. Und ich bin sehr interessiert, wie das ankommt und ob diese ironische Note, die das Buch hat, als angemessen empfunden wird, ob es Leser gibt, die die darauf allergisch reagieren. Ich gehe da gerne auch in die Diskussion und in den Austausch mit dem "Endabnehmer", oder "Endabnehmenden" müsste man ja eigentlich sagen. Ich freue mich da auf Feedback jeder Art.


Ohler Okay, Steve Ayan, vielen Dank für deine Zeit, für das Gespräch, fürs Buch noch mal im Namen des Verlages und aller Leserinnen und Leser. Und bis bald! Demnächst machen wir unser Gespräch mit dem Reihen-Herausgeber von update gesellschaft Matthias Eckoldt, und wir freuen uns, wenn wir weiterarbeiten.


Ayan Alles Gute! Vielen Dank, bis dahin.