Sympoietisches Ahoi


Immer wieder Rückbezüge
Ein prächtiger Herbst hat das Appenzellerland in den letzten Wochen bewohnt. Goldene Tage, Nebelzauber, warme Winde, Raureifmorgen. Bunte Blätter säumen die Strassen. Sie werden von zahlreichen, angstschürenden Riesenplakaten begleitet. Geballte Fäuste und ein grosses Big-Brother-is-Watching-You-Auge in rot, schwarz, blau warnen vor Massenüberwachung und Zwangsmassnahmen. Die konservativ-autoritaristische SVP bespielt hier am Land pointiert Sorgen und Ängste, die für sich gesehen durchaus sinnhaft sind. Aber auch schon vor Covid und daneben ist hier (und auf unserer Erde) freilich nicht alles in Ordnung. Es ist nicht nur das Verhältnis von Kühen und Wiesen, das nach neuen Kreisläufen sucht.

In diesen Zeitmoment hinein lassen wir das wilde-weben-Schiff wieder auslaufen, hinaus aufs Meer, hin zu Inseln und Küsten, durch Stürme und Flauten. Es wird wieder ein vielstimmiges Potpourri rund um öko-systemische Perspektiven zusammentragen. Ich will es mit dankenden Anregungen und einem geschichtlichen Ausflug angehen lassen. Dankbar bin ich dem Verlag und vielen Kolleg:innen, die daran mitwirken, dass die «Natur-Dialoge» in der Welt und im Umlauf sind. Schön ist darüber hinaus, dass auch andere, aktuelle Publikationen von Carl-Auer die Rückbezüglichkeit als lebensbildende Grundlage neu thematisieren; dass sie Ethik und Verantwortung gegenüber der Welt vermehrt ansprechen und sogar das in den letzten zwei Jahrhunderten hochgepäppelte autonome Individuum in Frage stellen. [1]
Diesen Stimmen bin ich dankbar, weiten und schärfen sie doch unsere fachlichen Sprachwelten, Denk- und Handlungswelten und laden zur Erinnerung nahezu vergessener Kontexte, ich nenne sie lieber Mit-Welten, und ihrer Blickwinkel ein.

Unheimliche cybernetics
Als interessierte Kollegin, die um Zirkuläres bemüht ist, gibt es ja auch für mich einige Kontexte, die ich lieber vergessen möchte, weil sie mir unheimlich sind. Zum Beispiel das Wort Kybernetik, übertragen aus dem Englischen: Cybernetics. Grad drum ist es vielleicht gut, sich daran zu erinnern.
Norbert Wiener, US-amerikanische Mathematiker, Zoologiekundiger und Philosoph (übrigens an einem 26.11. geboren) hat aus dem griechischen Eigenschaftswort kybernetikos, was so viel wie «steuermännisch» bedeutet, ein Hauptwort kreiert. Der Steuermann also, und Kybernese, die Leitung, die Herrschaft. Das mögen andere anders empfinden, aber mir widerstreben diese Bedeutungsfelder für das, worum es geht. Nicht nur aus feministischer Warte, sondern weil ich es für bedeutsam halte, mit welchen Wörtern wir Lebensprozesse beschreiben. Die Reduktion systemischer Rückbezüglichkeiten und Wechselseitigkeiten unter «Steuermannsche Herrschaft» ist nun doch etwas einseitig, also auch unsystemisch.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ich unterstelle weder Norbert Wiener noch jenen, die den Begriff mit Leben gefüllt haben, eine einseitige Absicht.Dennoch lohnt es sich zu fragen, ob dieses Wort dem Prinzip des Zirkulären gerecht wird? Nein, möchte ich sagen, selbst wenn es auf zweite Ordnung hochgerechnet wird.  Da lobe ich mir Autopoiese! Und erst recht Sympoiese.

Ethische Kreise
So oder so war Norbert Wiener und seine 1948 erschienenen Arbeiten zu «cybernetics - control and communication in the animal and the machine» eine prägende Stimme in den Selbststeuerungstechniken mit all ihren Folgen: von Cyberspace, Kriegsdrohnen bis hin zu Künstlicher Intelligenz. Offenbar war er bereits Anfang der sechziger Jahre vorrausschauend und hat sich kritisch und warnend mit den «lernenden Maschinen» auseinandergesetzt. Sofern ich richtig recherchiert habe, verweigerte er denn auch, seine Kompetenz in Wettrüsten und weitere Automatisation von Kriegsmaschinen einzubringen.
Da muss wohl auch sein Verantwortungsgefühl oder – da es sich ja um einen Mathematiker handelte - vielleicht sein Verantwortungskalkül mitgesprochen haben. Beides ist willkommen und an beidem scheint es vielen der heutigen genialen Burschen gleich wo zu mangeln.


Nun: wer Norbert Wiener erwähnt, kommt unweigerlich zu den legendären Macy-Konferenzen, in denen es in einem interdisziplinären Team um Gehirnforschung ging und ums Lernen. Und schon landen wir bei berühmten Namen: Gregory Bateson, Kurt Lewin, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick und von dort zu Helm Stierlin und seiner Boygroup[2] und zu Carl-Auer. Hier sind wir nun inmitten der Hauptnarration systemischer, männlich perspektivischer Geschichte: Dicht verwoben in eine vom zweiten Weltkrieg und seinen Folgen angetriebene Erkenntnisreise. Es schadet nicht, sich das deutlich zu machen, auch wenn alles schon lange her ist.


Kybern-Ethik
hat dann ja auch Heinz von Foerster sehr beschäftigt. Das verdient mindestens einen eigenen Post und vieles lässt sich bestimmt im neu aufgelegten Buch von Bröcker/Foerster, Teil der Welt, nachlesen. Hier auch noch ein herzhafter Fimtipp für gemütliche Winterabende:
«Tanz mit der Welt»[3] ein vielschichtiger und auch berührender Film von und über Heinz von Foerster, der nahezu ein natur-dialogischer Pflichtfilm ist!


Nach dieser Reise in die Vergangenheit und die USA will ich wieder hierher zurückkehren in die Schweiz, die inmitten der aktuellen Miseren mitunter eine erfrischend reziproke Kommunikationskultur an den Tag legt. Um 16.17, am 24.11.21 sagt zum Beispiel Bundesrat Berset, zuständig für das Ressort Gesundheit, auf die Frage:
Ist es möglich, dass die Bevölkerung gewisse Massnahmen wie Abstand halten aus Eigenverantwortung von sich aus umsetzt? Dies möchte eine Journalistin wissen.
«Das ist sehr gut möglich. Ich selber zum Beispiel wasche mir aktuell wieder vermehrt die Hände»[4], so Berset. Grossartig.


In diesem Sinne liebe Schreiber:innen und Leser:innen wünsche ich uns eine lebendige, vielstimmige, inspirierende Runde voller zirkulärer Wechselseitigkeiten!
Ahoi, Eure Habiba


 


[1] Ich spreche von drei Publikationen, die im Herbst 2021 in den Reihe Systemische Horizonte erschienen sind:


«Eine kurze Geschichte systemischen Denkens» von Wolfram Lutterer, «Wir müssen und können uns neu erfinden» von Wilhelm Rotthaus und «Teil der Welt» von Monika Bröcker/Heinz von Foerster.


[2] Diese Bezeichnung habe ich beim Nachruf von Fritz Simon auf Helm Stierlin gelesen. Ich erlaube mir hier, sie zu zitieren. Zu den Jungs zählten u.a. Gunthard Weber und Fritz Simon.


[3] Tanz mit der Welt - Heinz von Förster, ein Film von Nikola Bock und Jutta Schubert


[4] https://www.srf.ch/news/schweiz/das-neueste-zur-coronakrise-diskussion-ueber-nationale-massnahmen-muss-gefuehrt-werden


 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.