Zeit zum Denken

Die Journalistin Elisabeth von Thadden plädierte einst in der ZEIT leidenschaftlich für mehr Zeit zum Denken. Sie schreibt: „Das Denken widersetzt sich der durchgerechneten Antwort, auch weil es selbst die klare Intuition hat, dass Bedeutung und Sinn sich nicht messen lassen. Es macht oft aufreizend langsam, wenn es verstehen will, was in der Eile schon entschieden sein muss. … Deshalb kann es, auch wo es behäbig wirkt oder gar narrenhaft, doch zugleich Avantgarde sein, weil es sich gegen alltägliche Selbstverständlichkeiten sträubt: Es will auch spielen“.


Entscheidungen werden lieber durchgerechnet als durchdacht.


Mit ebensolcher Leidenschaft schließe ich mich diesem Plädoyer an. Wie unzählig vielen Managern und Führungskräften aller hierarchischen Ebenen durfte ich im Laufe meines langen Beraterlebens begegnen, denen das vertiefte Denken über ihr Entscheiden und das ihrer Organisationen ein Gräuel zu sein schien. In der Eile taugen, ihrer mit Verve vorgetragenen Einschätzung nach, nur schnell wirksame Rezepte und Gebrauchsanweisungen nach dem Muster der Aufbauanleitungen von Ikea. Wie unglaublich erleichternd ist es für sie, wenn Entscheidungen nicht als Ergebnis des Denkens und als Widerspruch zu alltäglichen Selbstverständlichkeiten entstehen, sondern aus „durchgerechneten Antworten“. Die Verantwortung für eine Entscheidung kann dann bequem dem Rechenkalkül angelastet werden und nicht dem eigenen Denken.


Mit Schrecken denke ich an die Zukunft des Denkens, wenn die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz mehr und mehr Einzug in unsere Wirklichkeit halten. Wird dann das Denken ganz zu Grabe getragen?


Ist Denken etwas für Narren?


Nicht ganz umsonst – im wahrsten Sinne des Wortes, meine Honorare haben sich sehen lassen können – habe ich mir mit meinen vielen Plädoyers fürs Denken den Ruf eines Narren eingehandelt. Nicht sonderlich erfolgreich habe ich versucht, auch junge Beraterkolleginnen und -kollegen in die Zunft der Narren zu locken. Auch ihnen scheinen die Quickies und Erfolg verheißenden immer neuen Rezepte der Beraterzunft lieber zu sein – sie entlasten ja so überzeugend vom Denken. Nur wenige von ihnen kann ich heute einer Avantgarde zurechnen, die mit Denken spielt (und Geld verdient).


Bedeutung und Sinn sind das Ergebnis von Denken.


„Bedeutung und Sinn lassen sich nicht messen“ schreibt Elisabeth von Thadden so sehr im Widerspruch zur Beraterweisheit der Gegenwart: „Miss es, oder vergiss es“. Diese Beraterweisheit – mit vielen, vielen Einträgen bei Google nachzulesen – vergisst ihrerseits sträflich, dass Entscheidungen in Organisationen dringend auf Bedeutung und Sinn angewiesen sind, um Gefolgschaft der Stakeholder zu gewinnen. Oder sollen wir Bedeutung und Sinn von unternehmerischen Entscheidungen vergessen? Bitte nicht!


Also lasst uns die Zeit für die „Narretei“ des Denkens nehmen.


 


Bernd Opp
Bernd Opp

ist Diplom-Soziologe, Lehrsupervisor (DGSv) und langjähriger Prozessberater. Seine Schwerpunkte liegen in der Organisationsberatung zum Thema „Entscheiden in Organisationen“ sowie in der Supervision und im Coaching von Beraterinnen und Beratern und deren Projekten.


 




Foto B. Opp ©Christian Müller