Neu gedacht: Ambivalenz

Zwischen zwei Alternativen hin- und hergerissen zu sein, sich nicht entscheiden können – wer kennt das nicht? Beide Optionen erscheinen gleichwertig, die Wahl wird zur Qual – und bleibt letztlich im Stillstand stecken. Buridans Esel ist zum Symbol dafür geworden: Er verhungert zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen, weil er sich für keinen der beiden entscheiden kann.


Wie dumm, wie absurd?


Ja und Nein. Wir alle kennen Situationen, in denen wir schon mal ähnlich unentschieden waren. Allerdings sind die Chancen und Gefahren der Alternativen, zwischen denen wir hadern, meist nicht so eindeutig greifbar, sichtbar und bewertbar wie bei den beiden Heuhaufen. Die Situation ist hoch komplex, viele Faktoren hängen damit zusammen, und einzuschätzen, wie sich die Entscheidung tatsächlich auswirken wird, fällt schwer. Unsere Unsicherheit ist sehr hoch. Die Folge: Wir trauen uns nicht zu entscheiden.


Unser Anker für gute Entscheidungen.


Nun haben wir Menschen für unseren Alltag eine Vielzahl hilfreicher Faustregeln entwickelt, mit denen wir die Unsicherheit unseres Nichtwissens kompensieren. Meistens sind diese Heuristiken sehr tauglich und führen zu guten Entscheidungen. Stellen Sie sich vor: Sie begegnen an der Uni einem Studenten, der Anzug, Krawatte und eine schwarze Aktentasche trägt. Wo ordnen Sie den Studenten zu? Zu den Betriebswirtschaftlern oder zu den Soziologen? Die meisten würden auf BWLer tippen, die Beschreibung ist dafür repräsentativer. Solche Heuristiken basieren auf unserem Erfahrungswissen, werden intuitiv eingesetzt und helfen uns, schnell entscheiden zu können – selbst auf die Gefahr hin, dass unser Urteil falsch ist.


Warum greifen wir im Zustand der Ambivalenz seltener auf unsere Faustregeln zurück?


Die Antwort ist einfach: Weil es sich um eine persönlich wirklich wichtige Entscheidung handelt, von der viel abhängt. Ich kann viel gewinnen, aber eben auch verlieren. Solche bedeutsamen, lebensverändernden, risikoreichen Themen wollen besonnen reflektiert werden, die Pros und Contras abgewogen werden, das ganze gut durchdacht sein … um ja keinen Irrtum zu begehen. Doch genau diese letzte Faustregel kann zum Bumerang werden. Besonnenes Reflektieren der Situation ist absolut angebracht. Wer jedoch die „100% Sicherheit“ sucht, jagt einer Illusion hinterher, die verdammt viel Energie kostet und zur Erschöpfung führt. Eine Faustregel wie „Es wird schon alles gutgehen“ oder „Besser eine Entscheidung als keine Entscheidung“ kann hier helfen.


Veränderungen einzugehen macht glücklicher.


Folgendes Experiment von Steven Levitt, Uni Chicago, bestätigt die Aussage: Er bot Menschen, die vor einer lebensverändernden Entscheidung standen, sich mit Themen wie Scheidung, Kündigung, Unternehmensgründung oder ähnlichem rumplagten und nicht wussten, was sie tun sollten, den Münzwurf zur Unterstützung an. 20.000 folgten seinem Aufruf. In nachfolgenden Interviews zeigte sich, dass sich immerhin 2000 Menschen nach dem zufälligen Rat der Münze gerichtet hatten. Und diejenigen, die nach dem Münzwurf ihr Leben veränderten, wurden glücklicher (das wurde mit einer Vorher-Nachher-Skala gemessen). Der in der Wissenschaft seit längerem bekannte „Status Quo Bias“, das Bevorzugen des Bekannten (auch bekannt als „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.“) macht also nicht unbedingt glücklich. Die Veränderung eingehen, das Neue wagen, die Entscheidung treffen hingegen schon.


Soll ich das wirklich tun?


Auch im Coaching werden wir häufig mit Entscheidungsschwierigkeiten und Ambivalenzen konfrontiert. Zum Beispiel Frau M., 47 Jahre alt, seit über 20 Jahren erfolgreich in einem Beratungsunternehmen tätig. Sie zählt als High-Performerin, schnell im Denken und Handeln, die Kunden sind zufrieden. Die Organisation lässt ihr ausreichend Spielraum, um Familie und Beruf gut unter einen Hut zu bekommen. Und die Bezahlung stimmt.


Gleichzeitig spürt Frau M., dass ihr eine sinnstiftende Perspektive fehlt. Ein nächster Karriereschritt in der Beratung wäre möglich, würde aber bedeuten, dass sie ihre zeitlichen Freiheiten aufgeben müsste. Das will sie nicht. Sie wollte schon immer Medizin studieren, anderen Menschen helfen, etwas wirklich Sinnvolles machen. Der Aufwand der Ausbildung spricht klar dagegen. Ist es sinnvoll, einen beruflichen Neubeginn mit fast 50 Jahren zu wagen? Ist das nicht naiv und völlig idealistisch?


Frau M. entscheidet, sich mit diesem Wunsch im Coaching näher auseinanderzusetzen, um ihre Unzufriedenheit und ihre Sehnsüchte besser zu verstehen und auf dieser Basis eine gute Entscheidung treffen zu können. Heute studiert sie im zweiten Jahr Osteopathie und lebt sehr glücklich mit dieser Veränderung.


Vom „Entweder-Oder“ loslösen schafft Auswege aus der Ambivalenz.


Das obige Beispiel zeigt ein typisches Charakteristikum von Ambivalenz. Wir bleiben im „Entweder-oder“-Tunnelblick von zwei Alternativen stecken. Wir sind nicht fähig, verbindende Grautöne zwischen den Alternativen wahrzunehmen und ein integrierendes „Sowohl-als-auch“ zu schaffen. So entsteht das Dilemma. Die Öffnung für weitere Optionen erweitert den Handlungs- und Entscheidungsspielraum und hilft aus der Klemme. Das Tetralemma, eine von Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer entwickelte Methode für Coaching, Beratung und Therapie, unterstützt, Dilemmata zu lösen, indem weitere integrierende Optionen in den Blick genommen werden.


Statt einer Zusammenfassung.


Über die folgenden Faustregeln lohnt es sich nachzudenken, sollten Sie mal wieder zwischen zwei Alternativen hin und hergerissen sein:



  1. 100-prozentiger Sicherheit hinterherzujagen führt zur Erschöpfung und nicht zur Entscheidung.

  2. Beim Alten verharren macht nicht unbedingt glücklich.

  3. Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.

  4. Sowohl-als-auch-Denken führt aus dem Dilemma.