Die Mathematik des Konflikts

Wie Markierung, Leere, Unbestimmtheit und Imagination in Auseinandersetzungen wirken


- Gitta Peyn & Klaus Eidenschink im schriftlichen Gespräch


In diesem Artikel setzen wir uns mit der Frage auseinander, welche reflexartigen Impulse und Muster eigentlich dahinter liegen, wenn aus einfachen Auseinandersetzungen plötzlich Konflikte oder sogar zerstörerische Streits werden. Welche geistigen und kommunikativen Berechnungen gehen da vor, und wie lässt sich das auf einfache Weise verständlich machen, so dass daraus neue Möglichkeiten geschaffen werden können, ungünstige Eskalationen leichter zu vermeiden?


 


GP: Ich möchte zunächst einen denkerischen Ausgangspunkt für diesen Dialog schaffen. Er ist ungewöhnlich, soviel vorneweg, da ich mit Mathematik beginne. In der Tat kann sie dabei helfen, die Hintergründe von Konfliktdynamiken besser zu begreifen.


GP: Das menschliche Bewusstsein kann wie eine komplexe Rechenmaschine operieren. In Sekundenbruchteilen berechnen wir hoch komplexe Zusammenhänge, die wir auch noch aufeinander beziehen. Logik und Mathematik sind evolutionär in uns angelegt, auch wenn die Schule ihr Bestes zu geben versucht hat, sie uns unzugänglich zu machen.


GP: Wir Menschen nutzen in unseren Berechnungen vier basale Werte: markiert, leer, unbestimmt und imaginär.


GP: Dieses Rechnen läuft in Schleifen, in Verkettung, in Rückbezüglichkeiten ab: in so genannten "Re-entry-FORMen". Wir beziehen unsere Berechnungen auf andere Berechnungen, Zeichen auf Zeichenketten und -folgen und auf uns selbst.


GP: FORMlogik kann dabei helfen, Berechnungen sogenannter „komplexer Entscheidungssysteme“, also von Systemen, die komplex funktionieren und die Entscheidungen fällen, auf eine einfachen FORM zu bringen und diese dann am Computer zu analysieren. Das Buch „uFORM iFORM“ von Ralf Peyn und mir und einige weiterführende Artikel von mir sind beim Carl Auer Verlag, beziehungsweise beim Carl Auer Verlagsmagazin erhältlich.


GP: So, wie unser quantenphysikalisches Universum an der Basis diskret funktioniert und sich an diesem Diskreten überhaupt erst Kontinuität aufspannt, so arbeiten komplexe Entscheidungssysteme wie menschliches Bewusstsein oder menschliche Kommunikation mit sehr einfachen Werten und FORMen, die dann aber sehr schnell sehr komplex werden können, wenn sie sich aufeinander beziehen.


GP: Wenn Sie jetzt an einen grünen Apfel denken, dann haben Sie nach FORMlogischer Terminologie diesen Apfel „markiert“. Sie haben ihn fokussiert und das ganz schnell, und dann versuchen Sie ihn geistig zu halten. Und Sie tun das im Kontext von tausend anderen Gedanken und vermutlich der Tatsache, dass Sie gerade darum gebeten wurden, einen grünen Apfel zu denken.


GP: Wollen wir dies als FORM abbilden, sieht das so aus:



Wir haben einen Inhalt der Markierung, und wir haben Kontext



Der grüne Apfel ist markiert, alles andere ist Kontext



Mit a für Inhalt und b für Kontext


GP: Inhalt ist der grüne Apfel, Kontext alles andere. Nehmen wir nun im 2. Schritt an, vor Ihnen auf dem Tisch liegen zwei Äpfel: ein grüner Apfel und ein roter Apfel.



Vor Ihnen liegen beide Äpfel, beide sind markiert, denn noch haben Sie keinen ausgewählt, sich noch für keinen entschieden.


GP: Wenn wir Sie jetzt dazu auffordern, einen der beiden Äpfel zu wählen: den grünen oder den roten, und Sie dürfen nur das tun – also nicht beide wählen, nicht keinen von beiden wählen. Sie entscheiden sich für den grünen Apfel. Dann sieht das mathematisch anschließend so aus:



Hier haben Sie sich für den grünen Apfel entschieden:


GP: Sie haben erst beide Äpfel markiert, denn das war Ihr Fokus: eine Entscheidung zwischen diesen beiden zu fällen. Beide Äpfel waren Inhalt im Kontext von Was-auch-immer.


GP: Und dann haben Sie den grünen Apfel markiert: „Den will ich haben, nicht den anderen!“


GP: Somit haben Sie Ihre erste EntscheidungsFORM kennengelernt und gelernt, wie Markieren geht.


KE: Gleichzeitig hat man noch etwas anderes gelernt. Man muss nämlich davon ausgehen, dass Menschen in solchen Wahlvorgängen unterschiedlich wählen. Der eine rot, der andere grün. Markierungen wählen aus. Damit entstehen in einer für alle gleichen Welt sehr unterschiedliche persönliche Welten. Diese Welten können in Widerspruch zueinander kommen. Dann nämlich, wenn es nötig ist sich zu einigen, zu kooperieren, sich zu koordinieren oder zu synchronisieren. Unser Rechnen, wie Du es nennst, schafft die Möglichkeit und Notwendigkeit zum Widersprechen, zum Verneinen und damit zum Konflikt.


GP: Ja, danke, Klaus. Und von dort aus ist der Schritt zu einer fundamentalen Erkenntnis der Systemtheorie nicht mehr weit: Konflikte können systemdifferenzierend wirken.


GP: Wenden wir uns dem 2. Wert zu:


GP: Leer wird eine FORM dann, wenn Sie aufhören, an etwas zu denken. Eben haben Sie noch an den grünen Apfel gedacht, jetzt bitten wir Sie, an ein grünes Nilpferd mit rosa Punkten zu denken, und schwupps, der Apfel wird leer. Er ist vielleicht noch im Kontext, aber nicht mehr im Fokus, nicht mehr Inhalt.


GP: Leere ist eine Abstraktion. Ohne Leere könnten Sie kein einziges Zeichen formen, nicht einmal Ihren Namen tippen: Zwischen den Buchstaben ist nichts, und dieses Nichts brauchen Sie, um die Buchstaben voneinander zu trennen, sonst gäbe es nur großen ununterscheidbaren Matsch. Wenn Sie an etwas nicht nicht denken könnten, könnten Sie auch nichts anderes denken, und schon in dieser Erkenntnis liegt viel Psychologisches drin.


KE: Für mich passt diese Mathematik, liebe Gitta, hervorragend zu den ganz grundsätzlichen Erkenntnissen der Psychologie. Markieren und wieder in die Leere gehen nehmen in biologischen und psychischen Systemen die Form von Rhythmus an. Man bekommt Hunger, fokussiert auf Nahrungsmittel, und wenn man satt ist, hat man Lust auf Ruhe und fokussiert auf Möglichkeiten sich irgendwo hinzulegen. Man möchte jemandem nahe sein, sucht Kontakt, und dann ist man zufrieden und liest in Ruhe alleine ein Buch. Beim Fokusbilden sind bei Menschen also immer Interessen, Bedürfnisse, Absichten und Wille im Spiel. Diese wechseln, rhythmisieren, nehmen Form an und lösen sich wieder auf. Diese Flexibilität und Bewegung kann allerdings auch verkümmern, sich festlaufen, arretieren oder in sich selbst begrenzende Musterbildung ausformen.


KE: So wählt jeder von uns in einer Welt von Möglichkeiten seine eigenen Alternativen aus (rote und grüne Äpfel). So entsteht dann Identität, d. h. wiedererkennbare Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“, weil diese Wahl von niemandem kopiert werden kann. Jeder trifft seine ureigenen Entscheidungen und ist damit identifizierbar. Das wird gleich noch wichtig, wenn wir zum Konflikt kommen.


GP: Großartig, danke, Klaus! Leere FORMen erhalten wir FORMlogisch, indem wir markierte FORMen markieren: Jetzt denke ich an den grünen Apfel – und jetzt denke ich daran, wie ich an den grünen Apfel denke. Im ersten Fall ist der grüne Apfel markiert, im zweiten verschwindet er, weil ich nun daran denke, wie ich ihn markiert habe und nicht mehr an ihn selbst.



Bildunterschrift: Leere machen wir sichtbar, indem wir die Markierung markieren.


KE: Das ist psychologisch ungeheuer wichtig – jedenfalls, wenn ich diese Form richtig interpretiere. Wer etwas ganz erleben möchte, kann nicht gleichzeitig reflektieren. Man kann Musik hören oder eben jemandem anderen die Auskunft geben: „Du, ich höre gerade meine Lieblingsmusik!“. Aber in dem Moment hört man keine Musik mehr. Für Konflikte ist das deshalb so relevant, weil diese sich diese Funktionsweise des Bewusstseins zu eigen machen. Konflikte bilden Aufmerksamkeitsstrudel, die Menschen oszillieren lassen zwischen einem Zustand, in dem sie konflikthaft handeln, und dem Zustand, in dem sie nachdenken und grübeln, was im Konflikt abgeht.


KE: Das heißt, Konflikte ziehen zunehmend mehr Aufmerksamkeit der beteiligten Menschen auf sich. Man kann sich ihnen schlecht entziehen. So streitet man oder man überlegt, wie man weiter im Streit argumentieren könnte. Innerhalb kürzester Zeit sind sowohl Wahrnehmungsfokus, also der innere Kreis, als auch Denken, der äußere Kreis, vom Konflikt okkupiert. Die Form wird leer, weil andere Möglichkeiten der Markierung nicht mehr so leicht ins Spiel kommen. Der ganze Rest der Welt wird kaum mehr markiert, sondern man oszilliert zwischen Konflikthandlung und Konfliktreflexion, zwischen Markierung und Leere. Dies ist aus meiner Sicht einer der Prozesse, die Konflikte nutzen, um sich zu erhalten. Passt das so zu der leeren Form?


GP: Das ist eine interessante Interpretation dessen, was da in solchen KonfliktFORMen passiert, die ich auf jeden Fall mit hineinnehmen würde. Nur über Leere müssen wir noch wissen: Auch leere FORMen werden mit berechnet. Ich würde jetzt nicht sagen wollen, das geschieht intentional, auch wenn Intentionalität mit hineinspielt.


KE: Ah, verstehe. Aber so war das von mir auch nicht gedacht. Das passiert nicht absichtlich, sondern „es geschieht“. Wenn leere Formen mit berechnet werden, könnte das genau den Strudel erklären, von dem ich gesprochen habe.


GP: Oh, ja, danke. Das ergibt eine Menge Sinn.


GP: Schauen wir uns das doch später im Artikel im Zusammenhang der Unterschiede von unreflektierten und reflektierten Symmetrischen Konflikten an.


GP: Nun zum 3. Wert:


GP: Unbestimmte FORMen sind solche, wo Sie einfach nicht wissen, ist das Ding nun markiert oder leer oder beides? So wie bei Schrödingers Katze, die so lange tot und lebendig gleichzeitig ist, wie wir nicht in die Kiste hineinschauen. Und in das Unbestimmte können wir nicht hinein schauen, denn wenn wir das könnten, wäre es nicht mehr unbestimmt.


GP: Ohne Unbestimmte wären Sie nicht der großartig komplexe Mensch, der Sie sind. Ohne sie wäre Kommunikation langweilig. Alles wäre bestimmbar, nämlich markiert oder leer und sonst nichts. Schon lange wissen wir: Mit zweiwertiger Logik werden wir der menschlichen komplexen Welt ganz sicher nicht gerecht. Erst Unbestimmte machen uns zu Chaosmanagern – etwas, das uns noch von den Maschinen unterscheidet.


GP: Unbestimmte machen Komplexität aus: dass wir nicht alles gleichzeitig mit allem anderen verbinden können. Unbestimmtheit kann Angst machen, wütend, uns dazu bringen jemanden anzugreifen oder davonzulaufen. Unbestimmtheit ist überall: Jedes Mal, wenn Sie etwas denken, bringen Sie gleichzeitig Unbestimmtheit mit hervor. Jede Kommunikation ist voll von Unbestimmtheit – selbst, wenn Sie nur darum gebeten werden, jemandem eine Tasse Kaffee aus der Küche mitzubringen, berechnen Sie dabei Unbestimmtheit mit, sei es, dass Sie sich fragen, ob der Ton okay ist, sei es, dass Sie nicht wissen, ob die Frage ernst gemeint ist oder welche Folgen daraus für die Beziehung entstehen können.


KE: Diese FORM hat auf der psychologischen Seite aus meiner Sicht eine klare Entsprechung: Unsicherheit im Denken und Angst im Fühlen. Damit würden das Ertragen von Ambivalenzen im Denken und das kompetente Regulieren von Ängsten die Kernkompetenzen im Umgang mit Konflikten werden, da nur dann das Unbestimmte kommunikativ im Spiel gehalten werden kann. Nicht genau zu wissen, nicht wissen, ob Furcht oder Vorsicht oder Interesse oder Erkunden die der Situation angemessene Reaktionsweise ist – das muss man lernen und üben. So – jetzt fehlt uns noch ein letzter Wert, oder?


GP: Ja, damit sind wir bei der letzten FORM angekommen sind, der Imaginären FORM.


GP: Das ganze Unbestimmte wäre uns zu nichts nütze, könnten wir uns nicht überlegen, was es denn zum Geier nun sein könnte: Kreativität liegt uns im Blut. Mit der Fähigkeit Unbestimmte zu formen, hat Evolution gleich noch Imagination, Imaginäres in uns angelegt. Wir können in den Himmel schauen und fragen uns „Was sehen wir da nur?“ - Unbestimmtheit – und dann plötzlich sehen wir einen Hund oder einen Elefanten.


GP: Was hier geschieht, ist ganz einfach: Wir markieren die Unbestimmte FORM und gewinnen so die Imaginäre FORM.


GP: FORMlogisch sieht das so aus:



Eine unbestimmte FORM, die, wenn Sie der Spirale folgen, mal markiert ist und mal leer



Eine
imaginäre FORM: Ich markiere die Unbestimmtheit, stelle mir vor, was sie sein könnte


GP: Wir könnten ohne unbestimmte und imaginäre FORMen nicht über uns selbst nachdenken und uns auch keine Vorstellungen von unserem Gegenüber machen. Identität funktioniert paradox: Wenn ich über mich selbst nachdenke, wer ist dann diejenige, die über mich nachdenkt? Und wenn ich mich mit mir selbst identifiziere und über mich nachdenke, was ist dann das, worüber ich nachdenke?



Indem ich mich und meine Welt anschaue, erschaffe ich interne Umwelten.


GP: Mit diesen vier Werten, markiert, leer, unbestimmt und imaginär, schaffen wir unsere Wirklichkeit in verschiedenen FORMen.


KE: Oh ja! So ist es! Um Konflikt – eigentlich Kommunikation überhaupt – angemessen zu verstehen, muss man sich klar machen, dass wir Menschen keine Reiz-Reaktions-Wesen sind, also keine Maschinen. Ein äußerer Reiz bekommt seine Bedeutung immer durch eine innere Verarbeitung. Ob ich einer Aussage eines anderen zustimme oder ihr widerspreche, hängt davon ab, wie ICH diese Aussage verstehe, nicht was der andere gesagt hat. Ganz streng genommen könnte man sagen, dass man in Konflikten nicht dem anderen widerspricht, sondern dem, was man imaginiert, dass der andere gesagt hat. Im normalen Leben fällt das meist nicht weit auseinander, darum nehmen wir es in der Regel auch nicht als Problem wahr. Wer den Partner beim Frühstück um die Marmelade bittet, kann damit rechnen, dass er dieselbe gereicht bekommt und nicht ein Wurstbrot oder eine Ohrfeige.


KE: Wie entstehen also Konflikte? Sie entstehen von selbst, weil sie den Unterschied nutzen, zwischen dem imaginären Wert des einen und dem markierten Wert des anderen. Gehen wir das mal Schritt für Schritt durch:


KE: Paul macht eine Mitteilung – „Bitte reich mir doch die Marmelade!“ - und hat dabei die Erwartung, dass seine Bitte bei Peter auf ein positives Echo stößt, Peter also die Markierung „übernimmt“. Paul beginnt also keinen Konflikt! Aber er gibt den Anlass zu dem Konflikt. Denn – ohne diese Mitteilung (=Markierung) von Paul, gäbe es nichts, was Peter beantworten könnte. Peter sagt nun „Da kommst Du doch selbst hin. Ich bin nicht Dein Diener!“. Dass sich nun eine Konfliktdynamik entwickelt, liegt also nicht an der Bitte von Paul, sondern liegt am Verstehen von Peter die Mitteilung von Paul als Dominanzwunsch zu imaginieren! Gegen diese Vorstellung (!) will er sich wehren. Für dieses Wehren entscheidet sich Peter aus eigenem Antrieb, nicht (kausal) wegen der Bitte von Paul. Dass seine Mitteilung Anlass für einen Konflikt wird, konnte Paul vor der Reaktion von Peter gar nicht wissen. Gleiches gilt nun allerdings auch für Peter. Er kann nicht wissen, ob Paul nun einfach sagt „Gut, Du hast recht, ich kann sie mir gern selbst holen!“ oder ob dieser seinerseits im Widersprechen bleibt. „Also ich finde, so eine Kleinigkeit (!) könntest Du schon für mich machen!“. So hat sich innerhalb kürzester Zeit ein Muster gebildet, das Peter wie Paul bedienen und nur gemeinsam aufrechterhalten können. Mit jedem Widerspruch wird der nächste Widerspruch wahrscheinlicher. Jeder kennt das aus seinem Leben. Wahrscheinlich lässt sich das nun auch mathematisch abbilden, oder?


GP: Aber klar. Mit den vier FORMen, lässt sich das nun mathematisch modellieren. Lass mich auch Schritt für Schritt vorgehen.


 


Die Mathematik des Konflikts



Zwei sich wechselseitig ausschließende Positionen


GP: Nehmen wir wieder an, auf dem Küchentisch liegen zwei Äpfel: ein grüner, und ein roter. Sie sagen Ihren beiden Kindern: „Ihr könnt jeder einen haben!“, und beide wollen den grünen Apfel haben.


GP: Hänschen sagt: „Ich will meine Meinung (=Markierung) durchsetzen, nämlich a, und ich will nicht Deine Meinung (=Markierung), b!“
Gretchen sagt: „Nein, ich will meine Meinung durchsetzen, nämlich b, und ich will nicht Deine Meinung, a!“


GP: Das ist ein Konflikt mit sich wechselseitig ausschließenden Meinungen (=Markierungen), den wir auch so veranschaulichen können:



Jeder will seine Meinung durchgesetzt sehen, nicht die des anderen


GP: Das ist der klassische Streit.


GP: Keiner will, dass der/die jeweils andere/n ans Wasserloch kommen, man will das Wasserloch für sich selbst, der/die andere/n sollen negiert werden, weg sein.


GP: Kriege haben diese FORM. Jeder will das Territorium für sich.


GP: Der/die andere soll Leer werden, beziehungsweise leer ausgehen.


GP: Wenn wir diese FORM am Computer emulieren und dabei
markiert als Blau
leer als Schwarz
unbestimmt als Rot
und imaginär als Grün


GP: nehmen, sieht das in diesem Programm, dem FORMplotter:
https://observablehq.com/@formsandlines/1d-ca-for-4-valued-form-logic-selfis
so aus:



Das SelFi „Slit“ - ein nicht-reflektierter Konflikt


GP: Vor dem Hintergrund von Leere, das Schwarze, was Sie da sehen, beginnt ganz oben an der Spitze der Konflikt zu laufen und differenziert sich so aus. Die FORM wird sich nicht großartig ändern. Sie sieht zwar schön bunt aus, aber es kommt zu keinen kreativen Verlaufslinien. Der Konflikt fragmentiert sich weiter und weiter, bis er irgendwann zusammenbricht und sich dann wieder aufbaut.


GP: A will, dass B weg ist und ignoriert alles, was B sagt, und will nur seins, und umgekehrt macht es B genauso. Im FORMplotter wird die FORM folgendermaßen geschrieben: ((a)b)((b)a).


KE: Wunderbar, da bildet der Algorithmus genau ab, was in der Kommunikation läuft. Vielleicht würde ich es auf der Sprachebene andersherum formulieren. A will, dass B, seine Markierung aufgibt und die eigene übernimmt. Er will also nicht seins, sondern er will, dass B seins nicht will! Der Fokus ist der Widerspruch, nicht die Durchsetzung der Interessen. Das kann man bei Kindern gut studieren, die sich sofort in einen neuen Streit verwickeln (auch wenn jeder einen grünen Apfel bekommen hat), weil der andere nicht nachgegeben hat! Solange der Konflikt so läuft, geschieht nichts Neues, das stellt die Graphik wunderbar dar


GP: „Seine Markierung aufgibt“ - Klasse! Und genau: Solche Konflikte sind nicht kreativ. Solche Konflikte regen das Interesse der Beteiligten häufig auf eine positive Weise an und können für die Beteiligten so verwirrend sein, dass sie gar nicht merken, dass sich alles ständig wiederholt. Sie halten für schön bunt, was eigentlich ziemlich langweilig ist. Das SelFi differenziert sich immer weiter und wird auch immer bunter, aber es ist immer noch derselbe Algorithmus.


GP: Doch was passiert, wenn sich A kurz daran erinnert, dass auch B etwas zu sagen hat, nur was? B ist unbestimmt, damit vielleicht auch gefährlich? Oder interessant?


KE: Bevor es untergeht: Diese kleine Randbedingung „A erinnert sich kurz daran“ gilt es im Blick zu behalten. Wie kommt so eine Selbsterinnerung zustande? Was macht sie wahrscheinlicher? Ich sehe in der Mathematik, die wir hier erforschen eine exzellente Möglichkeit, genau dies zu schulen. Wer weiß, dass er mit vier Werten rechnen kann und muss, der erinnert sich häufiger als andere daran, dass seelische wie soziale Systeme verkümmern, wenn sie sich auf Markierung und Gegenmarkierung beschränken. Mit dem Unbestimmten rechnen wäre dann eine andere Formulierung für Lernen und Weiterentwicklung. Kreative, funktionale Konflikte provozieren Neues und vernichten Altes, das nicht lernen kann oder will.


GP: Ja, Kreativität, Lernen, Weiterentwicklung lassen sich mit zweiwertiger Logik nicht abbilden, und Wortmodelle der Systemtheorie sind oft schwer zugänglich und daher bislang einer relativ kleinen Bildungselite vorbehalten geblieben. FORMlogik ist simpel. Sie reduziert sich auf universelle Merkmale komplexer Entscheidungssysteme. Das erleichtert einiges, weil es dabei hilft zu wissen, wonach man Ausschau halten muss.


GP: Mache ich weiter: Die FORM wäre dann eine FORM, die sich auf sich selbst beziehen kann, eine so genannte „Re-entry-FORM“:


GP: Setzen wir dazu mal keine Kreise, sondern Haken ein, damit der Unterschied zwischen einem Konflikt, der den anderen einfach nur weghaben, (ver)nichten will und einem Konflikt, in dem die andere Seite zumindest irgendwie vorhanden ist, man nur nicht weiß, wie und was und überhaupt ...



Dann sieht die FORM des nicht-reflektierten Konflikts so aus – Slit ohne Re-entry



Und die FORM des reflektierten so – Slit mit Re-entry


GP: Beim unreflektierten Streit, den wir übrigens „Slit“ nennen, weil er wie ein Schlitz wirkt, durch den alles gezogen wird, wird von a b nicht erwartet und von b a nicht erwartet. Beim reflektierten Slit aber schon.


GP: Und jetzt wird es spannend, denn wenn wir diesen reflektierten Slit am Computer laufen lassen, passiert etwas, das erklären kann, was im Konflikt das Problem ist: Unbestimmtheit.



Reflektiertes Slit mit Unbestimmtheit im Hintergrund
Was der andere sagen/tun könnte, ist unbestimmt


GP: Wer diese FORM im FORMplotter laufen lassen will, um sich anzusehen, wie sich dieses System weiter ausdifferenziert, gibt dort {a,b}{b,a} ein.


GP: Diese Unbestimmtheit, die mit dem anderen/der anderen/den anderen kommt, ist notwendig für das Überleben unserer Spezies, aber mit ihr kommen eine Menge Herausforderungen.


GP: Im reflektierten Slit umranden imaginäre FORMen nicht mehr nur das Unbestimmte, wie Sie das beim unreflektierten Slit sehen können, sondern sie spielen eine größere Rolle, durchdringen den Konflikt mehr. Und in diesem Zusammenspiel von „Ich weiß nicht, was er/sie als nächstes tun/sagen könnte, stelle ich mir mal was vor“, in dem Unbestimmtheit dominiert, entscheiden viele psychische und soziale Faktoren mit darüber, was als nächstes geschieht: Gelingt es, den Streit zu vermeiden und ihn kreativ zu halten oder kippt das Ganze in den unreflektierten Konflikt?


KE: Unbestimmtheit ist die Basis für Reflexion. „Es könnte auch anders sein!“. Imagination entscheidet, welche Richtung der Konflikt nimmt. Eskalation kann notwendig sein, damit beide (!) Konfliktparteien reflektieren oder verhandeln wollen. Darum ist aus meiner Sicht ein Konflikt im „Slit“Modus durchaus auch phasen- und situationsweise funktional. Allerdings macht es einen großen Unterschied, ob man bewusst oder unbewusst eskaliert, bzw. ob man rechtzeitig in einen kreativen Modus kommt.


KE: Schaut man sich an, was es braucht, damit der Konflikt kreativ wird oder bleibt, lande ich ganz schnell bei dem Begriff „Regulationskompetenz“, der mir nah an dem „Re-Entry“ von oben zu sein scheint. Regulationsfähig bin ich immer dann, wenn ich widersprechende Alternativen im Spiel halten kann und mich aber für eine (vorübergehend) entscheiden kann. Das ist gerade bei Konflikten nicht so selbstverständlich. Hier werden häufig die deeskalierenden Verhaltensweisen als die guten, richtigen angesehen und Kommunikationsformen wie drohend, durchsetzend, feindlich oder vorwurfsvoll als falsch. Ein Richtig-Falsch-Schema passt da nicht. Ich muss jede mögliche Verhaltensweise reflektieren können.


KE: Imaginäres – um Deinen Begriff zu verwenden – ermöglicht in Konflikten eine Wahl: Freund oder Feind im Sozialen, kompetent oder inkompetent in der Sache, Win-loose oder Win-Win in der Zeit. Wer nur den einen Wert zur Verfügung hat, ist fixiert und damit nicht regulationsfähig. Diese Wahl – braucht die Situation gerade Eskalation oder Deeskalation um sich günstig weiterzuentwickeln – hat nur, wer seinen Umgang mit Unbestimmten nicht von Ängsten und Unsicherheiten dominieren lässt. Denn dann füllt man das Unbestimmte mit Imaginationen, die zu dauerhaftem Widerspruch führen: Aus Angst heraus, bekämpfe ich Dich so, dass Du Dich so benimmst, dass ich weiter Angst vor Dir habe. Eine sich selbst stabilisierende Dynamik.


KE: Darum ist aus meiner Sicht die Kreativität, die zu einer facettenreichen Nutzung von Imaginär ertüchtigt, so wichtig zu erlernen. Oft gelingt das den Konfliktbeteiligten allerdings erst mit Hilfe neutraler Dritter. Hier ließe sich die Begründung für die Dienstleistung Konfliktberatung fundieren. Aber das wäre ein anderes großes Thema.


GP: Ja, genau. Die eigenen imaginären Kräfte sind meiner Ansicht nach eine der Hauptursachen und Schlüsselstämme in Konflikten – nicht zwangsläufig Ängste. Ängste müssen mit etwas gefüttert werden. Mit Unbestimmten umgehen zu können heißt, die eigenen imaginären Kräfte reflektieren zu können. Dazu gehört dann zu erkennen, wie real die eigenen Erwartungen eigentlich sind und zu wissen, dass reflektierte Symmetrische Konflikte sehr schnell in unreflektierte kippen können, wenn die imaginären FORMen nicht bewusst gemacht, beziehungsweise kommunikativ reflektiert werden können. Und das bedeutet, ich muss auch erkennen können, beziehungsweise das Kommunikationssystem kann lernen, imaginäre FORMen zum Beispiel in markierte oder leere, also bestimmbare FORMen zu überführen, wenn es gilt Tatsachen anzuerkennen, oder umgekehrt markierte und leere Behauptungen als imaginäre FORMen zu erkennen, weil man ein Problem damit hatte, mit Unbestimmtheit zurechtzukommen.


KE: Ängste müssen mit etwas gefüttert werden – diese Deine Formulierung ist für mich ganz besonders wichtig. Psychologisch gesehen, helfen uns Ängste uns selbst zu erkennen. Ängste informieren uns darüber, was wir gelernt haben, dass beängstigend ist. Wir füttern Ängste also mit eigenen Erfahrungen. Wer gelernt hat, dass die Welt (= die familiäre Welt von Anno dazumal) brüchig und unzuverlässig ist, der wird höchst ängstlich imaginieren, dass der andere ihn verlassen will, wenn ein unbestimmter Konflikt entsteht. Er wird seine Muster in die Gegenwart projizieren. Dennoch hast Du recht, dass es nicht ausschließlich Ängste sind, die die Grundlage für Imaginationen darstellen. Auch andere Gefühle wie Scham, Schuld oder Ohnmacht, aber auch innere Leere und Selbstwahrnehmungsdefizite bestimmen unsere Kreativität in Konflikt massiv auf ungünstige Weise. Daher lenkt Konfliktmoderation – so wie ich sie verstehe – die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf die gegenwärtige Dynamik, die sich ja in gewisser Weise verselbständigt. Konfliktmoderation arbeitet also auch am Konfliktmuster, nicht vorrangig an den Mustern der Beteiligten.


GP: Moderatoren könnten dafür auch FORMlogik verwenden, Step-by-Step FORMorientierte Scripts zu schreiben, die dabei helfen, dysfunktionale Konfliktsysteme spezifischer FORM in funktionale zu überführen – und das sogar ohne dabei direkt am Menschen arbeiten zu müssen. Dazu würde ich super gern mal mit Dir etwas gesondert durchdenken.


KE: Das machen wir. Denn in der Tat braucht es ein Verständnis dafür, was im jeweiligen Konflikt funktional oder dysfunktional ist und ob eher eskalierende oder deeskalierende Impulse nötig sind, damit das Konfliktsystem kreativ wird, wie Du das nennst. Denn dann können Konflikte durchaus ihre Aufgabe verrichten, ohne dabei bei den Beteiligten mehr Schaden anzurichten, als nötig. Eine Mathematik des Konflikts kann dabei glaube ich, mehr als wertvolle Impulse stiften. Dem Konflikt selbst ist es – wie der Evolution – vollkommen egal, ob und welche Opfer es unter den Beteiligten gibt. Konflikte haben keine Empathie. Zumindest habe ich noch keinen angetroffen. Wenn allerdings die am Konflikt beteiligten Menschen, mit den vier hier dargestellten Werten rechnen können, kann der Konflikt damit rechnen, nicht aus der Form und damit monströs zu werden.


GP: Ich freue mich schon auf unsere weitere Zusammenarbeit. Danke, Klaus. Es war, wie immer, ein Vergnügen.


Literaturempfehlungen:


https://metatheorie-der-veraenderung.info/wpmtags/konfliktdynamik/


https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/konfliktdynamiken-mit-selfis-untersuchen


https://uformiform.info