autobahnuniversität / Fritz Hermanns - Sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit im Text

Zu den Besonderheiten der großen Heidelberger Konstruktivismus-Kongresse in den 1980er und 1990er Jahren gehörte auch deren breit angelegte Interdisziplinarität. Ein schönes Beispiel dafür liefert der hier von der Autobahnuniversität dokumentierte Vortrag des Linguisten Fritz Hermanns zum Thema sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit im Text, den er beim Kongress „Die Wirklichkeit des Konstruktivismus“ im Jahre 1992 hielt.


Anhand eines weltberühmten Beispiels aus der Literaturgeschichte – William Shakespeares Drama Julius Cäsar – und hier insbesondere der Rede das Marcus Antonius in Erwiderung auf Brutus´ Rede, die den „Tyrannenmord“ zu legitimeren suchte, entwickelt Hermanns sieben Strukturprinzipien der Wirklichkeitskonstruktion von Sprache. Diese werden an diesem Beispiel einer Gegenkonstruktion von Wirklichkeit zu vorher konstruierter Wirklichkeit überzeugend auseinandergesetzt:


1. Jede Konstruktion von Wirklichkeit ist Re-Konstruktion von Wirklichkeit (Um- oder Nachgestaltung, quasi reaktiv. cf. Nelson Goodman)
2. Konstruktion von Wirklichkeit betrifft immer drei grammatische Dimensionen, auch die 2. und 1. gramm. Person, nicht nur die dritte: Konstruktion des redenden Ich, des angeredeten Du und des sachlichen Es. (cf. Karl Bühler) Dies geschieht durch „implizites Prädizieren“ (Ansprache/Anrede schafft, was sie sagt).
3. Durch implizites und explizites Prädizieren wird die Konstruktion von Wirklichkeit vollzogen (Präsupposition, Suggestion).
4. Konstruktion von Wirklichkeit ist Suggestion von Wirklichkeit (Auto- und Heterosuggestion durch Prädizieren). Was erreicht werden soll, wird als bereits erreicht gesetzt.
5. Konstruktion von Wirklichkeit durch Suggestion funktioniert nur auf der Basis von Vertrauen. Konstruktion von und des Verhältnisses von Ich und Du im Text ist essentiell für das Gelingen der dritten grammatischen Dimension in der Konstruktion von Wirklichkeit.
6. Wirklichkeit ist immer affektiv verfasst (Pathos, Affektprofil v. Wirklichkeit). Die affektive Verfassung ist gleichfalls als konstruiert anzusehen.
7. Wirklichkeit hat immer auch eine ethische Struktur. Wie sollen wir uns verhalten? (Deontische Semantik).


Prof. Dr. Fritz Hermanns (1940 2007) war als Lehrender unter anderem an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg tätig. Seine besonderen Forschungsgebiete waren Lexikalische und historische Semantik, Linguistische Mentalitätsgeschichte, Linguistische Pragmatik, Sprache in der Politik und Linguistische Hermeneutik. In vielen Bereichen hat er neue Orientierungen und Forschungsfragen etabliert und vorangetrieben und dabei kreative interdisziplinäre Anschlüsse ermöglicht, z. B. Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte.


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