Eben – es sind Ebenen

Ich möchte im heutigen Beitrag auf das „Makro-Mikro-Problem“ eingehen.
Ähnlich wie im Blogbeitrag Nr. 19 möchte ich dieses Thema teils biografisch angehen, zum einen, weil es mir so leichter fällt, den Ausgangspunkt darzustellen. Zum andren ist dies hoffentlich gleichermaßen interessant und praxisbezogen.


Beginnen wir mit guten Erinnerungen.
Die Lehrveranstaltungen zur Philosophie sind mir in besonders guter Erinnerung geblieben. Dort lernte ich systematisch und strukturiert zu denken – unter anderem auch in Ebenen. Das deckte sich auch mit der Lehrveranstaltung zur Soziologie, in der mir etwas über Mikro-, Meso- und Makrotheorien und deren unterschiedliche Aussagekräfte bzw. Reichweiten beigebracht wurde.
Manche Theorien befinden sich auf einer abstrakten Ebene, manchmal auch BIG JUNK genannt, und manche auf einer konkreten Ebene, manchmal auch SMALL JUNK genannt. Andre sind dazwischen. Jede Ebene hat eine bestimmte Ordnungsform hinsichtlich des Kontinuums von „abstrakt“ bis „konkret“. Jede Ebene deckt unterschiedliche Reichweiten und Aussagemöglichkeiten ab. Die Ebenen bringen, wenn man (frau) es so betrachten kann bzw. möchte, unterschiedliche Vor- und Nachteile mit sich. Jedenfalls erfüllen diese unterschiedliche Funktionen, also jeweils einen spezifischen Zweck.


Es wäre interessant gewesen, die Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit beziehungsweise der Sozialarbeitswissenschaft in eben diese Ebenen einzuteilen. Jetzt, 15 Jahre später, merke ich, wie notwendig dies ist.
Brechen wir dies auf meine Biografie herab.


Ich habe im vorletzten Beitrag bereits anklingen lassen, dass es eine Gruppe von Lehrvortragenden gab, die weniger aufgeschlossen Themengebieten wie „Coaching“ oder „Psychotherapie“ gegenüberstanden. Ich schreibe das nicht, um diese Leute zu verurteilen, aber doch, da es mich eine Zeitlang im Denken und Handeln geprägt hat.
Dies führte damals zu einer für mich recht paradoxen Situation, als wir im ersten Semester Gesprächsführung genossen. Wir erlernten die klientenzentrierte Beratung nach Carl Rogers, nur um ein Semester später von einem jener Lehrvortragenden zu erfahren, wie „hinderlich“ und „unfachlich“ es sei, Ansätze der Gesprächsführung aus der Psychotherapie für die Soziale Arbeit zu importieren.
Wer die Literatur zur Sozialen Arbeit kennt, weiß, dass dies als die „Psychotherapeutisierung“ der Sozialen Arbeit betrachtet wird.
Letztendlich war der Ratschluss an uns, man (frau) möge nicht solche psychotherapeutischer Techniken anwenden, so dass soziale Probleme nicht einseitig „verindividualisiert“ würden.
Ob dies so richtig sei, wird am Ende dieses Beitrages untersucht. Ich kann vorausschicken: nein, nicht unbedingt.


Biografisch betrachtet brachte mich das aber in eine sehr blöde Situation. Hinsichtlich der Prüfungen zur Sozialen Arbeit reüssierte ich zwar mit meinen abstrakten sozialarbeitstheoretischen Begriffen und mied die – hui pfui – „verpsychotherapeutisierten“ Termini und damit den Beelzebub der „Verindividualisierung“ (ich bitte darum sich hier ein Zwinkersmiley zu denken; auch für den folgenden Absatz ist diese Rahmung passend).
Als ich aber in der konkreten Praxis der Sozialen Arbeit ankam, halfen mir die abstrakten Begriffe wenig weiter. Seltsamerweise hatten meine Klient:innen all die Fachbücher über Soziale Arbeit nicht gelesen. Sie wussten auch nicht, dass Sie keineswegs ihre Probleme „verindividualisieren“ sollten. Und schon gar nicht sollten sie positiv auf – vermeintlich „verpsychotherapeutisierte“ – Gesprächstechniken ansprechen. Leider taten sie das aber. Das aktive Zuhören nach Carl Rogers (als ein Beispiel) und das lösungsorientierte Fragen nach Insoo Kim Berg und Steve de Shazer waren so nützlich und so wirksam…
Ich war eben im konkreten Tun, im SMALL JUNK, angekommen.


Kehren wir an eine frühere Erfahrung an der Fachhochschule und meiner „Sozialarbeiterwerdung“ zurück:
In den folgenden Semestern erlernte ich vieles zur Theorie und Methodik der Sozialen Arbeit. Doch erst die selbstorganisierte Lehrveranstaltung zum Thema der „Betriebswirtschaftslehre“ öffnete mir die Augen. Dort stellte uns der BWL-Prof im Zuge einer Debatte eine simple Frage: „WIE sei dies konkret in der Praxis durchzuführen?“ Und weiter: „WIE würden wir als künftige Sozialarbeiter:innen dies mit den Mitteln des BWL, etwa dem Projektmanagement, umsetzen?“
Paukenschlag!
Ich war verblüfft. Ich konnte zwar alle sozialarbeitsbezogenen Lehrinhalte korrekt wiedergeben. Doch ich vermochte nicht diese scheinbar simple Frage nach dem konkreten WIE beantworten…
Was war nur los?
Heute, 15 Jahre später, ist mir das klar. Ich war direkt beim Makro-Mikro-Problem der Sozialen Arbeit gelandet. Und wie sie bereits gelesen haben, ist mir dies auch in meiner Praxis des Öfteren begegnet.


Was verstehe ich nun darunter?


Beim Studium der Bücher zur Sozialen Arbeit ist mir aufgefallen, dass die meisten Fachbücher auf zwei Ebenen angesiedelt sind: sehr gerne auf der Makro-Ebene (wenn es darum geht, Soziale Arbeit als Disziplin darzustellen) oder auf der Meso-Ebene (zumeist in sog. Methoden-Büchern). Hier wird tendenziell eher die Frage nach dem WAS gestellt – der BIG JUNK bemüht.
Selten – eine rühmliche Ausnahme bildet hier das verdient in der sechsten Auflage erschienene Buch „Das systemische Case Management“ von Heiko Kleve, Britta Haye, Andreas Hampe und Matthias Müller – wird sich die Mühe gemacht, Fach- und Handlungswissen auf die konkrete Ebene herunterzubrechen. Selten wird die Frage „WIE mache ich das nun genau?“ auf der Ebene des SMALL JUNK beantwortet.


Wenn ich von Kolleg:innen gefragt werde, warum ich gerne Bücher aus dem Fachkanon Coaching, Counselling oder Psychotherapie lese, dann ist die Antwort immer dieselbe: „Hier wird mir mitgeteilt, WIE genau ich es machen kann.“
Und auf die Frage, warum ich in letzter Zeit seltener Bücher der Sozialen Arbeit lese, lautet die Antwort ebenso in der Regel: „Weil mir hier NICHT mitgeteilt wird, WIE ich es genau machen kann.“
Wenn Sie andre Erfahrungen haben, so freue ich mich an dieser Stelle über Büchertipps und entsprechende Empfehlungen.


Weiters, so meine berufliche Erfahrung, sind Kolleg:innen der Sozialen Arbeit sehr engagiert und ausgreifend in der Grundsatzdiskussion. Dann werden möglichst abstrakte Begriffe diskutiert, die erst geklärt sein müssten – zumindest so die Argumentation. Erst müsse man (frau) dies klären und besprechen – also „ewig lange“ ausdiskutieren – erst dann könne man (frau) etwas tun…
Konkrete Handlungsstrategien hinsichtlich eines Fallgeschehens – tja, das fand leider keinen Platz.


Ich selbst bin sehr für begriffliche Klarheit und schätze dies u.a. an der Philosophie, die so etwas wie die „Begriffshandwerker:innen-Profession“ ist. Hier werden Worte wie „Wahrheit“ oder „Erkenntnis“ definiert. Auch Niklas Luhmann schafft es meines Erachtens sehr gut, Begriffe zu definieren. Noch heute schätze ich z.B. dessen Definition von „Macht“.


Zurück zum Ausgangsbeispiel.
Diese Kolleg:innen, so meine Beobachtung, waren in den Grundsatzdiskussionen sehr lange verstrickt. Sie fragten nach dem allgemeinen WAS. Und ich habe mich immer gefragt, WIE sie diese Grundsätze nach draußen, in das Fallgeschehen, brächten. Meist, so meine Beobachtung, war die Antwort: EBEN NICHT. Sie konnten es gar nicht.
Warum?
Makro-Probleme sind auf der Makro-Ebene zu lösen, Mikro-Probleme auf der Mikro-Ebene, so lautet die lapidare Antwort.


Dieses Phänomen der „Flucht in den BIG JUNK“ kann rhetorisch und denkanalytisch untersucht werden.
Das Abstrakte mag in einem Gespräch immer dann sehr hilfreich sein, wenn weige oder keine konkreten Argumente oder Handlungsstrategien vorliegen oder eben man (frau) sich gerne dahin begeben (schlimmstenfalls darin verstricken) möchte. Es ist auch sehr hilfreich, wenn man (frau) die eigene Position stärken möchte, da abstrakte Begriffe schwerer aus den Angeln zu heben sind als konkrete. Da findet man (frau) leichter etwas zu kritisieren.
Mir ist etwa aus dem Latein-Unterricht noch die „Befriedung“ von Julius Caesar in Erinnerung: eine sehr abstrakte Nominalisierung im BIG JUNK, die ihm als Rechtfertigung für Kriegstreiberei und all ihre garstigen Folgen diente.


Jetzt könnte man (frau) fälschlicherweise zum Schluss kommen, dass dieser Herr Kluschatzka-Valera etwas gegen abstrakte Begriffe habe.
Nein, keineswegs!
Ich hänge etwa dem Begriff des „Weltfriedens“ noch immer nach, den ich mit 10 Jahren auf der Woodstock-VHS-Kassette (sic!) meiner Mutter kennengelernt habe – auch wenn ich sicherlich nicht mit allen konkreten Handlungen der Hippies einverstanden war oder bin.
Auch philosophisch oder soziologisch definierte Begriffe im sog. BIG JUNK achte ich sehr und schätze, wenn Begriffe in der Sozial- und Geisteswissenschaft in einer Klarheit verwendet werden, wie dies in der Naturwissenschaft bereits üblich ist.


Die Makro-Ebene ist für die Soziale Arbeit eine wichtige disziplintheoretische Ebene. Ob nun die Soziale Arbeit eine Ermöglichungsprofession, ein Funktionssystem, eine Menschenrechtsprofession oder eine eigenschaftslose Disziplin sei, das möchte ich an dieser Stelle nicht beurteilen.
Ich weiß aber aus meiner lehrenden und supervisorischen Praxis, dass es günstig ist zu wissen, WAS Soziale Arbeit sei und WAS sie tue – ähnlich wie Mechaniker:innen, Physiker:innen, Feuerwehr- oder Rettungskräfte und auch andre wissen, was deren Berufsstand sei und wie dieser ausgeübt werde.


Dazu vielleicht eine Anekdote hinsichtlich der Makro-Mikro-Problematik aus meiner Biografie.
Der BWL-Professor nahm an einer gemischten Lehrkonferenz an meiner damaligen Fachhochschule teil. Das Lehrpersonal der Sozialen Arbeit traf auf wirtschaftliches und technisches Lehrpersonal. Die Rückmeldung des BWL-Profs blieb mir in steter Erinnerung und schien sich immer wieder in der Praxis zu bestätigen.
Er meinte, dass er noch nie ein Kollegium bzw. eine Studienrichtung erlebt hätte, die so sehr mit sich selbst beschäftigt wäre und herausfinden wollte, wer sie eigentlich wären, was das Fachgebiet wäre und wie dies durchzuführen wäre.
Und weiters: Nur in der Sozialen Arbeit sei dies in dieser Größenordnung Thema.
Ja, so fragte er, wissen die nicht, wer oder was sie seien? Und was sie tuen?
Dann meinte er, dass die Soziale Arbeit ja gar nicht zum „Sozialarbeitern“ kommen könne – vor lauter Nachdenken darüber, WAS man (frau) eigentlich sei – und dann eben das WIE nicht mehr getan werden könne.


Auch mir fällt immer wieder auf, wie viel Diskussion darüber aufgewandt werden muss.
Eine These könnte sein, dass Soziale Arbeit eine junge Disziplin ist und sich erst entwickelt. Diskussionen darüber unterstützen diese Entwicklung.
Hoffentlich ist es keine These, dass Sozialarbeiter:innen sich „einfach gerne“ in Grundsatzdiskussionen verstricken…oder gar verrennen (abermals: Zwinkersmiley).


Auf der Meso-Ebene könnten sich möglicherweise Methoden/Konzepte (auch hier ist im Literaturkanon nach wie vor keine begriffliche Klarheit zu finden…) wie das Case Management oder die Sozialraumorientierung ansiedeln.
Im besten Fall, etwa im Systemischen Case Management, werden diese Methoden auch mit konkreten Techniken heruntergebrochen, etwa durch Heiko Kleve et al. mittels systemischer bzw. lösungsorientierter Fragetechniken.
Haben Kleve & Co Case Management zur psychotherapeutischen Beratung deswegen umfunktioniert?
Nein!
Auf der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene ist ganz klar der sozialarbeiterische Rahmen erkennbar, der als Grundhaltung Orientierung für die Praxis gibt. Techniken aus der Psychotherapie bzw. dem Coaching werden entnommen und hier im sozialarbeiterischen Sinne angewandt.
Musiker:innen wissen, wie dies geht: Elemente des Blues können in den Jazz übertragen werden und umgekehrt. Die Grundstimmung der Musik bleibt dabei erhalten.


Conclusio.
In Diskussionen, Schriften (also Theorie) und in der Praxis zur Sozialen Arbeit tun wir alle gut daran, die Ebenen zu identifizieren, auf denen wir das Gespräch führen bzw. tätig sind. Jede Ebene hat eine andre Funktion inne. Jede Ebene hat so ihre zweckbedingte Daseinsberechtigung. Dies zu tun ist eine Form des systematischen Denkens und damit methodischen Denkens (bzw. Handelns).
Ich meine: Es ist eine Falle, Ebenen gegeneinander auszuspielen. Klares und differenziertes Denken ist eine wichtige Grundlage für Sozialarbeiter:innen (und alle, die in der Sozialen Arbeit tätig sind). Daher auch die Überschrift: EBEN – es sind EBENEN.


 


LITERATUR


Carl Rogers: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Client-Centered Therapy.


Werner Thole: Grundriss Soziale Arbeit: Ein einführendes Handbuch.


Steve de Shazer u. Yvonne Dolan: Mehr als ein Wunder: Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie heute: Lösungsfokussierte Kurztherapie heute.


Heiko Kleve et al.: Systemisches Case Management: Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit.


Ralf Kluschatzka u. Sigrid Wieland: Sozialraumorientierung im ländlichen Kontext (Forschung und Entwicklung in der Sozial(arbeits)wissenschaft).


Joachim-Ernst Berendt: Das Jazzbuch: Von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert. Fortgeführt von Günther Huesmann.


Julius Caesar: De bello Gallico - Der Gallische Krieg.


 


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