Bewusstsein – das unentdeckte Land

Der heutige Blogbeitrag widmet sich einem Thema, das aus meiner Sicht in der Sozialen Arbeit unterrepräsentiert scheint: dem Bewusstsein. Erörtert wird hierbei, welchen Nutzen diese Perspektive für eine hypnosystemisch orientierte Soziale Arbeit bringt.
Zunächst scheint es merkwürdig, sich mit dem Bewusstsein zu beschäftigen, denn Gegenstand dieser Arbeit ist doch das Soziale. Damit müsse man sich beschäftigen, damit man/frau sozialarbeiterisch erfolgreich (oder was auch immer) sei.


Das „Soziale“ ist eine wunderbare Nominalisierung, die uns theoretisch – und auch praktisch –  vielerlei erlaubt. Viele dankenswerte Initiativen und Verbesserungen wurden für die Menschen im Namen des Sozialen geleistet. Nur getroffen hab ich dieses Soziale noch nie. Klar, auf einem Stück Papier, in einer Statistik oder in einem Fachbuch stand das Soziale geschrieben. Ich habe gelernt, es als (Un)Gleichheit, Gerechtigkeit, Fairness und gerne auch als Funktionssystem aufzufassen. Doch wann auch immer ich Kontakt zum Sozialen suchte, traf ich das Bewusstsein (also Menschen, die damit gesegnet waren). Wann und wo auch immer ich in das Soziale hineinintervenieren wollte, tat ich es über den Weg des Bewusstseins (ausgenommen seien hier Anträge im Zuge der Inklusionsberatung – die, wie ich allerdings auch zugeben muss, von irgendjemand mit Bewusstsein bearbeitet wurden – auch digitale Automatisierungen werden von jemand mit Bewusstsein erst einmal geschaffen).


Letztendlich brauchen wir das Bewusstsein, um das Soziale wahrnehmen, erkennen oder auch denken zu können. Das leugnet nicht das Soziale. Das Soziale hat durchaus tatkräftig Wirkung auf das Leben Einzelner, die über Theorie und Studie beschrieben werden können. Es gibt hier nicht um ein Entweder-Oder.
Diese Argumentation zeigt nur auf, welchen Weg wir gehen, nämlich immer einen über das Bewusstsein: Man kommt am eigenen Denken nicht vorbei. Immer ist etwas Geistiges bzw. Mentales dabei. Das ist ein bekanntes Problem der Philosophie, Soziologie und auch neuerdings der Neurobiologie.


Ich entschuldige mich an dieser Stelle für die vorläufig ungenaue Definition dieses Begriffes.


Ohne dieses Problem zu lösen, scheint aus der Argumentation hervorzugehen, dass es sinnvoll sein könnte, sich mit dem Bewusstsein auseinanderzusetzen. Immerhin benutzt man/frau es, wenn man/frau meinen würde, dass das Bewusstsein gar nicht wichtig sei für die Soziale Arbeit. Man/frau äußert dann – im schlechteren Fall – einen Glaubenssatz, der Raum in diesem Bewusstsein einnimmt. Im besseren Fall gibt man/frau eine wissenschaftliche Theorie oder auch Studie wieder, die hierzu Argumente bzw. Ergebnisse liefert.


Dummerweise ist dafür auch wieder Bewusstsein verwendet worden in Form von einem einmal unstrukturierten, dann wiederum strukturierten Denken, das einmal in keine oder eben eine Methode geflossen ist.


Sehen Sie, diese Argumentation könnte ich noch eine Zeit weitertreiben. Hoffentlich haben Sie hervorgelesen, worauf ich hindeuten mag.


Es spricht also einiges dafür, sich damit zu beschäftigen, vor allem da das Bewusstsein (in Form von Beobachten, Denken und andren Erscheinungs- bzw. Aktivitätsformen) in so ziemlich alle wissenschaftlichen Disziplinen (wieder) Einzug gehalten hat: in die Naturwissenschaften wie die Physik, die Biologie oder die Geisteswissenschaften wie die Philosophie und auch in die Sozialwissenschaften, in verschiedenen Formen etwa in die Kybernetik (oder KybernEthik), die Systemtheorie, das systemische Feld, das holistische bzw. integrale Feld und andere.
Nur die Soziale Arbeit scheint sich damit noch wenig anfreunden zu können. Ich vermute nicht, dass dies an mangelnder (Er)Kenntnis liegt. Vielmehr, so meine Hypothese, liegt es darin, dass die Disziplin der Sozialen Arbeit über keinerlei Modell, Sprache oder Begrifflichkeit verfügt, das Bewusstsein theoretisch zu fassen – obgleich es praktisch durchaus eine besondere Rolle spielt.


Dies ist meines Erachtens eine interessante Schere, die hypnosystemisch geschlossen werden kann.


Die hypnosoziale Systemik kann schon vom Titel her beides leisten – das Soziale und das (Unter,- Un-, Vor- oder auch Über-)Bewusste fassen und methodisch nutzbar machen. Im hypnosystemischen Integrationsmodell gibt es keinen Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Psyche und Sozialem, zwischen Leib-Seele-Geist und Feld. Es wird dort ein Zusammenspiel festgestellt und beschrieben.
Damit aber das Bewusstsein als Begriff oder auch als Handlungs- bzw. Interventionskategorie in die Soziale Arbeit aufgenommen werden kann, ist einiges an theoretischer Arbeit vonnöten.


Pars pro toto hab ich in meine eigene sozialarbeiterische Enkulturation und Sozialisation geblickt und versuche einige Punkte aufzuzeigen, die dafür notwendig sein könnten.


Beginnen wir mit meiner Ausbildung – also jene Phase, als ich lernte, was die Soziale Arbeit „sei“ und wie diese „ausgeübt werde“:
Im Zuge meiner akademischen Einführung in die Soziale Arbeit blieb das Thema Bewusstsein ein marginales. Zwar hatten wir Lehrangebote in entsprechenden Bezugswissenschaften, also in z.B. Psychologie, Pädagogik und Philosophie. Doch dort ging es eher um die „Psyche“, um „Erziehung“ und um philosophische „Schulen“ bzw. andere Begriffe. Das Bewusstsein fand als Thema wenig Platz.
Irgendwie wurde mir auch – oftmals implizit – vermittelt, dass die „einzig wahren“ Wissenschaften für die Soziale Arbeit die Soziologie, die (wirtschaftskritische) Politologie und die Sozialwirtschaftslehre sei.
Etwas explizierter wurde es dann als vortragende Fachkolleg:innen dezidiert in der Lehre die Psychologie, die Psychotherapie und angrenzender Ansätze ablehnten, da – so die These – diese die gesellschaftliche Probleme individualisieren würden.
Kurzum: Es war nicht so wichtig, das Bewusstsein von Menschen kennenzulernen, als die Ungerechtigkeit der Gesellschaft zu verstehen und dagegen vorzugehen. Das Wissen um Makroprozesse wurde höher bewertet als das Wissen um Mikroprozesse.


Der erste Punkt ist also in der Einstellung der Lehrenden zu finden und deren theoretische Ausrichtung: monoperspektivisch oder multiperspektivisch bzw. einheitlich oder ganzheitlich.


Stellvertretend für die Entwicklung der Sozialen Arbeit kann hier angedeutet werden, dass es wohl bislang wenig Auseinandersetzung mit dem Begriff des Bewusstseins gab. Vielleicht wurde es hier als Sinn in der Lebensweltorientierung oder dort als psychisches System verstanden. Mehr aber auch nicht.
Damit das Bewusstsein Einzug halten kann, braucht es Arbeit in der Theorie der Sozialen Arbeit und in der Ein- und Vorstellung jener, die diese lehren.


Setzen wir an einem weiteren Punkt meiner sozialarbeiterischen Karriere fort, meiner Praxis.
Ich hatte – und vermutlich wie viele andere Kolleg:innen auch – Probleme in meiner sozialarbeiterischen Praxis. Vollgespickt mit makrotheoretischen Begriffe versucht ich auf der Mikroebene in der konkreten Beratung mit Menschen sozialzuarbeitern. Öfter blieb die Frage unbeantwortet, wie auf dieser Ebene die soziale Ungleichheit ausgeglichen, ja sogar beseitigt werden könnte.
Zudem wollte mir die soziale Ungleichheit nie in der Beratung selbst begegnen, so gerne ich auch mit ihr einmal gesprochen hätte. Aus sozialarbeiterischer Sicht hätte ich hier nämlich einiges zu sagen gehabt!
Das Bewusstsein hingegen, das begegnete mir in jeder einzelnen Sitzung und mit einem jeden Menschen, mit dem – oder mit der – ich in Kontakt kam.
Früh musste ich feststellen, dass ich überhaupt kein Wissen und keine Zugänge zu dieser urmenschlichen Universalie hatte. Und erst durch meine hypnosystemische Fortbildung konnte ich diese menschliche Dimension fassen.
Ja, ich tat das, was eine gewisse Gruppe meiner bisherigen Lehrvortragenden gerne in der Lehre kritisierten: ich bildete mich im Bereich Beratung und Coaching fort. Leider fand ich nur dort die für mich nützlichen Werkzeuge.


Ich schlussfolgere: Soziale Arbeit braucht neben einem theoretischen Begriff auch praktische Handwerkszeuge im Umgang mit Bewusstsein. Dies – so meine These – ist bereits in der Praxis der Sozialen Arbeit vorhanden. Interessant wäre zu fragen, ob dies als „Nebenprodukt“ geschieht, völlig übersehen wird, begrifflich irrtümlich dargestellt oder als implizit angenommen wird.


An meinem heutigen und dritten Punkt bin ich nun in einer Phase, in der ich versuche, meine Erfahrung begrifflich zu fassen. Ich weiß nun aus meiner eigenen sozialarbeiterischen sowie aus meiner supervisorischen und auch aus meiner lehrenden Praxis, dass Praktiker:innen – aber auch Theoretiker:innen – der Sozialen Arbeit weder am Bewusstsein vorbeikommen noch es länger methodisch werden „übersehen“ können.
Es braucht eine Integration des bisherigen sozialarbeiterischen Werkes mit den neueren disziplinübergreifenden Erkenntnissen zum Bewusstsein. Dies könnte hilfreich und wirksam auf verschiedenen Ebenen sein:



  • als Selbstreflexion bzw. Selbsterkenntnis

  • als neues ganzheitliches Menschen- und Weltbild

  • als methodischer Bezugsrahmen für sozialarbeiterische Interventionen

  • als theoretischer Begriff für eine postmoderne Soziale Arbeit.


Der Nutzen ist also ein umfassender.


Damit dies geschehen kann, können viele interessante Diskurse geführt werden. Im Zuge kommender Beiträge möchte ich daher nochmals näher auf einige Aspekte der Sozialen Arbeit eingehen, unter anderem auf:



  • das Makro-Mikro-Problem,

  • das Professions- bzw. Disziplinproblem,

  • das Reflexionsproblem bzw. der Opfermythos in der Sozialen Arbeit,

  • das Ideologie- und damit zusammenhängend Methodenproblem der Sozialen Arbeit,

  • das Dichotomie-Problem der Sozialen Arbeit,

  • und einige andere mehr.


Probleme, so weiß das hypnosystemische Integrationsmodell, sind der der perfekte Ausgangspunkte für Lösungen. Und solche möchte ich dann in den folgenden Artikeln gerne anbieten.


 


LITERATUR


Heinz von Foerster: KybernEthik


Antonio Damasio: Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins.


Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn: Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert


Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher


Gunther Schmidt: Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung


Maturana und Varela: Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens.