Gesprächs-Raum für Talententwicklung

Karriereplanung und Lebensentwicklung brauchen tragfähige Entscheidungsgrundlagen, die „Kopf und Herz“ gleichermaßen berücksichtigen. Wie kommen wir zu diesen Entscheidungsgrundlagen? Aus Sicht der Sozialforscherin Magdalena Bork (links im Bild), die in idiolektischer Gesprächsführung geübt ist, vor allem durch „viel Raum für das Eigene“. In idiolektischen Gesprächen können „Kopf und Herz“ in Verbindung kommen und den Blick für den eigenen Weg freilegen. Wirtschafts- und Gesundheitswissenschaftlerin Ramona Heister führte darüber mit ihr ein Gespräch.


Ramona Heister (RH): Liebe Magda, wir haben uns auf einer Jahrestagung der Idiolektik erstmals kennen gelernt. Du hast damals einen Vortrag zu deiner Arbeit mit Idiolektik an der Musikuniversität vorgestellt. Dieser Erfahrungsbericht hat bei mir die Perspektive für mögliche Anwendungsbereiche der Idiolektik deutlich erweitert! Du bist ausgebildete Musikerin, Wissenschaftlerin im Bereich Sozialforschung und Leiterin der Begabtenförderung für Musik und darstellende Kunst an der der Universität Wien. An der Musikuniversität bist du auch als Dozentin für Karriere- und Persönlichkeitsentwicklung tätig. Klingt so, als würden dir sehr unterschiedliche Menschen begegnen. Deshalb meine erste Frage: Welche Menschen begegnen dir im Gespräch?


Magdalena Bork (MB): Ja, also ich habe überwiegend mit Musikerinnen und Musikern zu tun. Ursprünglich waren das junge Erwachsene, also Studierende und Absolvent:innen. Seit einigen Jahren betreue ich sie nun schon. Ich habe in der universitären Begabtenförderung schon mit Sieben- und Achtjährigen zu tun. An einer Universität ist es ungewöhnlich, wenn Kinder da sind, aber in diesem Bereich des Hochleistungsmusizierens ist es so. Außergewöhnlich begabte Kinder mit sehr klarem Fokus auf ein Instrument sind an einer Uni dann gut aufgehoben, wenn es um den Erwerb von Fachwissen, Kenntnissen und Fertigkeiten auf höchstem Niveau geht. Was da aber manchmal leider zu kurz kommt ist die Persönlichkeitsentwicklung. Da ist sozusagen der Schnittpunkt zu mir: Unser Büro für Begabtenförderung ist für den Vorstudienbereich der Universität zuständig und hier speziell für ergänzendes Angebot zu einer ganzheitlichen Ausbildung. Was das bedeutet? Es geht hier um hochbegabte Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 19 Jahren und die individuelle Begleitung und Förderung ihrer gesamten Entwicklung, also wenn jemand professionelle Musikerin, professioneller Musiker werden möchte.


RH: Also wie professionalisiert sich jemand?


MB: Genau, und der Blick darauf, wie dieser Weg geht. Das ist in der Musik ähnlich wie im Leistungssport: Es muss schon in der Kindheit beginnen – zumindest im Bereich der Klassik ist das so. Sonst holt man das nicht mehr auf, weil zu Beginn des Studiums das Niveau schon so hoch ist, dass man sich den Berufswunsch Musiker nicht erst mit 17 Jahren überlegen kann. Die Geschichten der Musiker und Musikerinnen beginnen häufig in etwa so: „Er sang, bevor er sprach“ oder „Sie hielt die Geige gerader als ihren Löffel“. Da ist auch Talent dabei, es fällt auf, wenn ein Kind sein Instrument so in die Hand nimmt, dass man kaum korrigieren muss. Oder dass ein Kind schon sehr bald eine ausgeprägte Klangvorstellung hat, der es dann unermüdlich folgt. Solche Kinder kommen beim Üben in den Flow, weil sie sich ganz in diese Tätigkeit vertiefen, wie ein anderes Kind vielleicht in ein herausforderndes Legospiel oder auch einfach ein aufregendes Fußballspiel. Zeit und Raum verschwinden, sie werden eins mit ihrer Musik – natürlich nicht täglich, aber oft genug! Wir beobachten einen natürlichen, leichten Zugang zur Musik und dem Instrument, und einfach auch ein rasantes Lerntempo. Das ist aber noch immer nicht alles – es ist die reife Musikalität solcher Kinder, die uns Zuhörer direkt zu ergreifen vermag. Ein weiterer Aspekt ist ihr auffällig großer „Hunger“ etwas zu lernen, zu können und das dann auch zu zeigen. Ja, ich schätze mich glücklich mit solchen interessanten Persönlichkeiten arbeiten zu können.


RH: Und um welche Themen geht es in den Gesprächen?


MB: Bei mir speziell geht es um individuelle Förderung für diese musikalischen Kinder und Jugendlichen. Es geht in den Gesprächen in diesem Bereich also immer darum herauszufinden, was das jeweilige Kind oder der Jugendliche braucht, was sie vielleicht noch nicht haben oder wovon sie mehr haben wollen: was motiviert sie, was bringt sie weiter, was ist der nächste Schritt. Ich bin auch gleichzeitig eine Forscherin und da geht es darum, dieser Urmotivation auf den Grund zu gehen, also was jemanden auf diesen Weg gebracht hat, woher die Kraft kommt, wie die Entwicklung verläuft und wovon sie beeinflusst wird. Ganz wesentlich hier sind die Träume und Vorstellungen. Musik auf diesem Niveau zu machen ist mit sehr viel Arbeit, auch Druck und Stress verbunden. Zu wissen, warum ich das mache, welche Bilder mich leiten, das hilft, sich und seinen Weg noch klarer zu sehen. Und manchmal auch zu erkennen, eigentlich war das mal so, aber jetzt ist es anders. Und dann vielleicht doch noch einen anderen Weg einzuschlagen. Egal in welcher meiner Rollen und Aufgaben und mit welcher Altersstufe der Musiker und Musikerinnen ich zu tun habe – mir ist es wichtig, dass die Menschen, denen ich begegne, ihr Spektrum an Möglichkeiten ausschöpfen und erweitern. Und das nicht, indem ich sie berate, sondern im Bestfall, indem sie sich selbst zuhören und selbst draufkommen und spüren, dass da etwas sehr gut passt oder etwas nicht mehr stimmt. Durch das Mitgehen immer entlang der Ressourcen – so wie ich es in der Technik des idiolektischen Fragens gelernt habe – kommen sie meist selber drauf, was der nächste Schritt ist. Es gibt für mich nichts Schöneres, als zu erleben, dass sie weiterwachsen, dass sie sogar über sich hinauswachsen – oder auch zu sich zurückfinden. Manchmal sind die jungen Musiker ja ganz in einem Strudel drin und wenn sie dann dieses Innehalten durch so ein Gespräch, oder mehrere Gespräche, erleben, kann sich ihre gesamte Persönlichkeit zu entfalten beginnen. Wir haben es hier ja mit sehr jungen Menschen zu tun und die dürfen noch alles ausprobieren und alles werden wollen und von allem träumen.


RH: Das finde ich sehr beeindruckend, was du sagst. Da sind einerseits diese Träume, auf der anderen Seite geht es ja wirklich auch darum, zu Entscheidungen zu finden und sie zu fällen und zu Erkenntnissen zu kommen, die sehr weitreichend sind und das in einem so frühen Lebensabschnitt! Du hast auch von „Innehalten“ gesprochen durch das Gespräch oder dem „sich selbst zuhören“. Wie schaffen das diese jungen Menschen?


MB: Da muss ich jetzt ein bisschen ausholen. Wenn ich mit ihnen spreche, bin ich oft tief berührt und beeindruckt von deren starkem Willen zu lernen. Sie wollen immer und immer noch mehr musikalisch dazulernen, sie wollen immer besser und noch besser werden, sie sind nie zufrieden mit sich selbst und sie haben ganz starke Vorbilder. Da ist einerseits das „Ich spiele und das macht mir Spaß“. Aber natürlich geht es auch um den Applaus, den Respekt, die Wertschätzung, die sie von außen bekommen. Sie sind andererseits auch sehr strenge Persönlichkeiten. Sie sind oft extrem selbstkritisch, so dass sie sich wegen Kleinigkeiten, die wir als Publikum gar nicht wahrnehmen, leicht selbst fertig machen können. Da ist es besonders wichtig, dass sie Unterstützung haben, dass da Lehrende sind, die in guter Balance mit ihnen besprechen, was gutgegangen ist und wo sie weiterarbeiten wollen. Aber ein Lehrer, der immer nur lobt, stört diese jungen ehrgeizigen Menschen auch. Für ihr Wachstum brauchen sie Kritik – konstruktive, fachlich verwertbare Ideen und Tipps, natürlich keine persönliche oder künstlerische Abwertung. Es ist eigentlich so: Sie wollen Anerkennung, gleichzeitig wollen sie sofort wissen, „Wenn ich mich jetzt an den Notenständer stelle, wie geht’s dann weiter, was muss ich konkret üben?“ Der unstillbare Hunger treibt sie an. Da ist viel Disziplin dabei, wie im Sport. Da weiß man, dass Sportler jeden Tag an sich, am Körper, an den Geräten arbeiten müssen, sonst geht das nicht weiter. Bei der Musik ist es genauso, auch wenn dann etwas herauskommen soll, das kreativ sein soll und bei der Aufführung jedes Mal wie neu klingen soll, wie gerade eben für die Zuhörerschaft erfunden. Mit dieser Disziplin, Selbstkritik und Strenge wollen wir als Publikum gar nichts zu tun haben. Das Publikum will sich ja freuen und genießen. Aber es ist schon auch harte Knochenarbeit und die Entscheidung für die Musik ist, genau wie Du gesagt hast, eine riesige Entscheidung, die sie ständig wieder neu treffen müssen. Denn mit 20 Jahren bin ich nicht fertig und mit 30 auch noch nicht, sondern ich muss da dranbleiben und mein Instrument jeden Tag in die Hand nehmen. Deshalb ist es gut, wenn sie diese Entscheidung bewusst treffen, sonst denken sie irgendwann, dass sie den Traum ihrer Eltern leben oder dass die Lehrerein mehr in ihnen gesehen hat, als sie bereit sind zu geben. Ja, ich erlebe ganz viel Liebe zur Musik und zum Musizieren – und fast genauso viele Fragen und Selbstzweifel, insbesondere dann während des Studiums.


RH: Du hast gesagt, es ist eine besondere Form der Beratung, wenn du die Gespräche führst. Es geht darum, bewusst und selbst Entscheidungen zu finden. Was ist das Besondere daran für dich?


MB: Im Bereich der Begabtenförderung bemühen wir uns beispielsweise darum, dass wir die jungen Musikerinnen und Musiker zuerst überhaupt wissen lassen, dass es uns gibt und dass wir sie persönlich kennenlernen und individuell fördern wollen. Dazu machen wir Kennenlern-Vorspiele. Dabei ist das Gespräch genauso wichtig wie das Spielen. So erfahren wir, wie wir unterstützen können – und tun das nach Möglichkeit auch. Im Rahmen von Forschungsprojekten kann ich Interviews ansetzen, die ich auch idiolektisch führe. Hier passiert dann auch ganz viel Selbsterkenntnis, weil sie sich in Ruhe selbst reden hören und das ist oft ein lautes Denken. Der Clou ist eigentlich sich selbst zuzuhören. Wer weiß besser, was für mich als nächstes dran ist als ich selbst? Oder was mir guttut? Eigentlich kann man sagen, es ist ein Beraten ohne Beratung – weil sie selbst draufkommen, was ihnen gerade wichtig ist, was der nächste Schritt ist oder was sie unterstützen könnte. Natürlich habe ich auch eigene Ideen im Kopf, eine Meinung dazu, ob ein Kind mit 14 die Schule verlassen soll oder nicht oder ob es schlau ist, heutzutage alles auf eine Karte zu setzen, wie z.B. eine solistische Karriere, die ja von so vielen externen Faktoren abhängt. Aber ich halte mich mit meiner eigenen Meinung zurück. Meist bringt es nichts, wenn ich das einbringe, was aber etwas bringt sind Fragen – in manchen Fällen nicht nur solche, die stets auf Ressourcen abzielen. Was sagt die Lehrkraft dazu? Wie ist das für dich? Was sind deine Bedenken? Was könnte dir helfen. Das sind alles hilfreiche Fragen, die auch noch in dem Menschen arbeiten. Darauf kann ich mich verlassen, weil ich ja diese Gesprächsführung schon so viele Jahre mache. Ich weiß aus Erfahrung, dass Idiolektik Prozesse initiiert und dass die weiter wirken in den Menschen, ganz gleich, ob sie 14, 24 oder 64 Jahre alt sind. Die „richtige“ Frage, also die, die einen trifft und in einem arbeitet, die ist Gold wert.


RH: Du hast einige Aspekte der Technik der Gesprächsführung mit Idiolektik angesprochen, wie deine eigene Meinung zurückzuhalten und Fragen zu stellen, die „treffen“. Wie machst du das?


MB: Indem ich vor allem erst einmal offen zuhöre. Dann orientiere ich mich an dem, was mir erzählt wurde. Ich nehme nicht meine eigenen Ideen oder frage nicht sofort nach etwas, was mich interessiert, sondern greife etwas von dem auf, was ich gehört habe. Da frage ich ganz konkret nach: „Wie war das für dich? Aha, das Konzert war so besonders. Was war denn da besonders? Du spielst gerne vor vielen Menschen – was gefällt dir daran?“ Ich muss nicht viel Neues dazu holen, nach Möglichkeit gar nichts. So wird das Gespräch von den Inhalten der Kinder und Jugendlichen geführt.


RH: Ja, und es erscheint mir damit ein größeres Spektrum an Entscheidungsmöglichkeiten aufzugehen. Die Idiolektik ist für dich eine Technik und Haltung, die dir hilft, anderen durch Hinhören offen zu begegnen und dadurch auch selbst zu lernen. Du öffnest Entscheidungsräume gemeinsam mit deinen Gesprächspartnern durch Folgen der Schlüsselbegriffe und förderst bewusste und vielleicht damit nachhaltigere Entscheidungen auch durch Umwege wie etwa Gespräche über Hobbys. Stimmt das so?


MB: Ganz genau, das ist eine super Zusammenfassung. Das allerschönste bei all dem für mich ist ja, dass ich selbst dadurch so bereichert werde, weil mir die Technik und Haltung der Idiolektik täglich dabei helfen, Neues und Unerwartetes vom Gegenüber zu erfahren oder zu lernen. So ist das Leben nie langweilig und ich lebe es mit großer Dankbarkeit.


RH: Vielen Dank liebe Magda für das anregende Gespräch zu Anwendungsmöglichkeiten der Idiolektik.


MB: Sehr gerne. Ich danke dir auch.


Interviewpartnerinnen:


Mag.a Dr.in Magdalena Bork Flötistin, Wissenschaftlerin im Bereich Sozialforschung und Leiterin der Begabtenförderung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Kommunikationstrainerin (Dozentin der Gesellschaft für Idiolektische Gesprächsführung).


Ramona Heister (M.A.), Wirtschafts- und Gesundheitswissenschaftlerin. Prozessbegleitung, Gestaltung aktivierender Seminare. Transaktionsanalytische Beraterin (DGTA), Gesprächsleitung Idiolektik (GIG), Taijiquan und Qigong Lehrende (DDQT)