Die Person im Patienten finden

Eine 88-jährige Patientin wird nach einem Sturz mit Fraktur des linken Oberschenkels nach chirurgischer Versorgung mit einem Hüftnagel am vierten postoperativen Tag in die Abteilung für Akutgeriatrie und Frührehabilitation verlegt. Die vormals vollkommen selbständige Patientin zeigt ausgeprägte nächtliche Unruhe, Orientierungsstörungen, ist gegenüber Pflegehandlungen sehr abwehrend, teilweise verbal oder auch körperlich aggressiv (schreit und kneift beim Versuch, sie zu lagern). Das Bett kann sie bei erheblichen Schmerzen nicht selbständig verlassen; es liegt ein Blasenkatheder bei massiver Harninkontinenz. Die Patientin zeigt eine eher zierliche, drahtige Gestalt mit einem grenzwertigen Untergewicht. Sie wirkt gebrechlich. Mehr noch: sie wirkt zerbrechlich - "frail" im Englischen. Sie weist Zeichen für ein Frailty-Syndrom auf. Die Schmerzmedikation wird im Sinne einer komplexen Schmerztherapie wiederholt angepasst; darüber hinaus erhält sie aufgrund der nächtlichen Unruhe ein starkes Beruhigungsmittel. Von den Pflegekräften wird sie als "schwierig", "wehrig" und "schlecht führbar" beschrieben. Die vorbehandelnden Ärzte sprechen davon, dass die Psychopharmaka und Schmerzmittel "noch besser eingestellt werden müssen". Die Ausdrucksweise ist charakteristisch und kann in Krankenhäusern quer durchs Land vernommen werden. Dieser Sprachgebrauch von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen (der Soziolekt) ist so normal, dass keinem der beteiligten Pflegenden oder Ärzte daran etwas auffällt. Dazu später mehr.


Wir besuchen die Patientin mit der Visite. Sie befindet sich in einem kleinen Krankenhaus in Oberfranken, im Norden Bayerns. Die Dame gibt sich überwiegend weinerlich, klagsam, die Stimme bricht immerfort in einem heiseren, sich überschlagenden, resonanzarmen Kopfstimmenpiepsen. Der Appetit fehlt. Zum Trinken muss sie angehalten werden. Ein Häufchen Elend. Halb ausgetrocknet. Sie möchte sterben.


Im Gespräch fällt ein rheinländischer Dialekt auf. Das könnte leicht übersehen und überhört werden. Dann würde sich das Gespräch vor allem um weitere Anpassungen der Schmerzmedikation, um andere Schlaf- oder Beruhigungsmittel, um die Wundverhältnisse, Begleiterkrankungen und vielleicht um das Essen und Trinken sowie die Ausscheidungen drehen.


Der Arzt setzt sich zu der Patientin, nimmt ihre Hand und fragt: "Was macht eine Rheinländerin in Oberfranken?" Die Frage scheint durch alles Klagen und Jammern, durch die gesamte leidvolle und lebensüberdrüssige Situation hindurch zu schneiden. Die Patientin verstummt und nimmt das erste Mal richtigen Blickkontakt auf. Die Augen füllen sich in Sekundenschnelle mit Leben und ein sehr zartes Lächeln kräuselt sich um die faltigen Lippen.


"Die Liebe." Das ist die Antwort. Im Zimmer ist es auf einen Schlag so still, dass das Atmen hörbar wird. Eine Antwort, mit der niemand gerechnet hat, und eine Atmosphäre von Berührtsein füllt den Raum, für alle deutlich spürbar. Als würde die Nadel eines Schallplattenspielers nach gefühlt endlosen Wiederholungen in einem Sprung auf einmal die Spur wiederfinden und eine Melodie wiedergeben, der sich niemand entziehen kann.


"Die Liebe." wiederholt der Arzt interessiert.


"Ja. Mein Mann kommt aus dem Nachbarort. Und nachdem wir viele Jahrzehnte gemeinsam in der Nähe von Düsseldorf in meinem Elternhaus gelebt haben, sind wir vor kurzem in seine Heimat gezogen. Unsere Kinder leben schon seit vielen Jahren hier und die wollten uns in ihrer Nähe haben."


Aus diesem kurzen Dialog ergibt sich ein Gespräch von etwa 7 Minuten Dauer. Die gefühlte Dauer wird von allen Beteiligten anschließend als deutlich länger eingeschätzt. Das ist charakteristisch, wenn Situationen eine hohe Dichte aufweisen. Die Dame erzählt von ihren Kindern, von ihrem Mann, dass sie ihn vermisst, obwohl sie schon über 60 Jahre verheiratet sind - wobei sie sogar lacht - und sie erzählt von ihrem Elternhaus, das sie auch sehr vermisst. Hierbei legt sich wieder ein Schatten von Traurigkeit über ihre Miene. Sie drückt die Hand des Arztes, die sie immer noch hält. "Jetzt ist es besser!" sagt sie.


In diesen 7 Minuten, im Grunde schon nach der ersten Antwort, hat sich ein Möglichkeitsraum für Beziehung aufgespannt, in dem die Patientin sich aufrichtet, Blickkontakt macht, in ihrem Gesicht deutliche vegetative Reaktionen zu beobachten sind (die Augen füllen sich stellenweise mit Tränenglanz). Die Schmerzen stehen nicht mehr im Vordergrund. Nicht der Inhalt der Äußerungen, nicht das Klagen und Jammern, sondern eine scheinbar unbedeutende Randerscheinung der Aussage, der Dialekt als paraverbale (die Sprache begleitende) Nuance wirkten wie ein Türöffner zu dieser Person und für diese Person wie ein Türöffner zu anderen Aspekten ihres eigenen Daseins. In diesem kurzen Dialog war es ihr möglich, sich neu in ihrer persönlichen Situation zu verorten, zu der mehr gehört als die augenblickliche Misere. In gewisser Weise konnte die Dame die Gelegenheit nutzen, um sich darauf zu besinnen, sich in ihrer persönlichen Umgebung, die mehr beinhaltet als Schmerz und Einschränkungen - nämlich die Liebe - neu zu finden. Hermann Schmitz definiert philosophieren als "ein Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung" (Schmitz, Hermann 2009: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Karl Alber Verlag, S. 9). Dieser Definition folgend war dies ein Miniaturexplikat eines philosophischen Gesprächs. Die Technik, die der Dame den Besinnungs- und Findungsprozess ermöglicht hat, nennt sich Idiolektik. Sie ist der methodische Umgang mit der Eigensprache eines Menschen. Hierzu zählen sämtliche Facetten von Sprache: die Worte - verbal, die Prosodie, Intonation, Dynamik - paraverbal sowie alles Gestische - nonverbal. Der Dialekt gehört zu den paraverbalen Aspekten der Eigensprache und kann ebenso wie eine Geste als Schlüsselphänomen in einem Gespräch aufgegriffen werden. In anderen Fällen kann dies ein Wort sein, das durch seine Intonation, durch eine begleitende Geste oder aufgrund seines metaphorischen Gehaltes als Schlüsselphänomen zur subjektiven Lebenswelt einer Person dient.


Das interessierte, wohlwollende und mitfühlende Aufgreifen eigentümlicher Aspekte einer Äußerung, solcher Schlüsselphänomene, führt in einer verlässlichen Weise zu einer Qualität von Beziehung, die von starker Resonanz geprägt ist. In diesem Gespräch zeigte sich das an den verbalen und nonverbalen Reaktionen der Patientin, wie auch an den Reaktionen der umstehenden Personen, die ohne jede Aufforderung still wurden, weil sich für alle spürbar etwas Ungewöhnliches ereignete.


Der Dialekt war der Schlüssel zu wesentlichen Aspekten der subjektiven Lebenswelt dieser Frau. Hätte sich das Gespräch vor allem mit allen „medizinisch relevanten“ Fakten aufgehalten, wäre es vielleicht möglich gewesen, die Patientin zu erreichen. Es wäre unmöglich gewesen, die Person in der Patientin zu erreichen. Sobald Menschen spüren, dass sie (in einer aufrichtigen Weise) als Person angesprochen und wahrgenommen werden, kommt es immer zu einer eindrücklichen Veränderung der Beziehung – von funktional hin zu persönlich, von unkooperativ hin zu kooperativ, von gegnerschaftlich hin zu verbündet oder verbunden, von feindselig hin zu freundschaftlich, von lähmend hin zu resonant, von langweilig hin zu kreativ. Damit erfüllen solche Gespräche noch eine weitere, sehr bedeutende Funktion: sie erlauben es den Behandelnden, der Ärztin, dem Pfleger, der Therapeutin ebenfalls als Personen wahrgenommen zu werden. Idiolektische Gespräche bringen Farbe ins Gespräch. Sie wecken Kreativität auf allen Seiten. Sie führen zu resonanten Beziehungen.


Im weiteren Behandlungsverlauf können Medikamente dieser Patientin rasch reduziert werden. Die Nächte bessern sich. Die Dame macht eifrig die Therapie mit, um möglichst schnell nach Hause zurückkehren zu können. Der Katheder wird entfernt. Sie übt jeden Tag mit ihrem Rollator und am Fahrrad. Sie trinkt und isst wieder. Nach zwei Wochen wird sie nach Hause entlassen. Eine weitere Rehabilitation lehnt die Patientin ab. Sie möchte Zeit mit ihrem Mann verbringen.


Zugleich lehrt der feine und sorgfältige Umgang mit der Eigensprache von Klienten auch, mit der eigenen Eigensprache, d.h. mit den eigenen Sprach- und Sprechgewohnheiten in einer bewussten Weise umzugehen. Dann fällt es der sprechenden Person eventuell auf, dass eine Patientin/ein Patient mit Sicherheit nicht zur „Einstellung von Blutdruck oder Blutzucker“ kommt, weil eine „Einstellung“ nur bei einer Maschine denkbar wäre. Es wäre auch nicht die Rede davon, dass „ein Patient schwierig ist“. Allenfalls würde man davon sprechen, dass eine Person herausforderndes Verhalten zeigt, besser noch: dass man sich von dem Verhalten einer Person herausgefordert fühlt. Auch würde niemand davon sprechen, dass eine Patientin „schlecht führbar“ sei, da sie als Person und nicht als Tier wahrgenommen würde. Viel eher würde man sich fragen, wie leicht oder schwer es einer Person fällt, sich in eine Situation zu integrieren.


Ein sorgfältiger Umgang mit der Eigensprache des Gegenübers wie auch mit dem eigenen Idiolekt würde in der Gesundheitsversorgung viele Komplikationen vermeiden helfen, weil Personen mit ihren Eigentümlichkeiten wahrgenommen werden können, die ein reduktionistisch geprägter Medizinbetrieb als störende Faktoren am liebsten ignoriert oder – wenn das nicht geht – kontrolliert. Die Eigentümlichkeit einer Person kann – wie diese kleine Fallvignette zeigt – zur Quelle für Kooperation, für Integration und für Heilung werden. Damit es möglich ist, die Subjektivität einer Person einzubeziehen, bedarf es eines methodischen Werkzeugs. Der Idiolekt bietet diesbezüglich eine ausgezeichnete Orientierungsmöglichkeit, weil sich in den Eigentümlichkeiten des Sprach- und Sprechverhaltens die subjektive Lebenswelt einer Person in verdichteter Weise wiederfindet. Personenzentrierte Medizin bedarf einer methodischen Umsetzung, für die Idiolektik ein geeignetes Handwerkszeug darstellt, weil sie praktizierte Subjektorientierung ist. Damit leistet Idiolektik einen wichtigen Beitrag, wenn wir in der Medizin den Schritt von Humanveterinären (Schmitz, Hermann 2015: selbst sein – Über Identität, Subjektivität und Personalität, Karl Alber Verlag S. 107) zu Ärztinnen und Ärzten vollziehen wollen.