Idiolektische Entdeckungen - Einzigartigkeit in eigensprachlichen Interviews

Der Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen ist ein wesentliches Grundelement der Haltung, die charakteristisch für idiolektische Gespräche ist. Dieser Beitrag möchte für den Begriff der Einzigartigkeit mehr Transparenz schaffen und für die damit verbundene Bedeutung des Handelns und Denkens in der Idiolektik sensibilisieren.


Immer wieder beobachte ich ein ambivalentes Verhältnis gegenüber dem Begriff „Einzigartigkeit“. Häufig als eine übertrieben betonte Eigenschaft bewertet, zeigt sich insbesondere in hierarchisch geordneten Systemen regelrecht eine Scheu. Vielleicht nachvollziehbar aus dieser Perspektive, lassen sich doch einzigartige Menschen schlechter einordnen, sind wenig angepasst, also auffällig. Dabei wird nicht beachtet, dass übermäßig angepasste, „ordentliche“ Menschen oft weniger kreativ und innovationsfreudig sind.


In meiner Tätigkeit als Stabsarzt bin ich immer wieder Menschen begegnet, die gerade unter der Respektlosigkeit gegenüber ihrer Einzigartigkeit gelitten und als Reaktion eine auffallende Passivität entwickelt haben. Oft hat eine einzige idiolektische Frage erstaunliche Offenheit gebracht und eine Bereitschaft zur Mitarbeit wurde doch deutlich.


Philosophische Betrachtungen zum Thema „Einzigartigkeit“, führten mich zum Buch „Philosophie des Körpers“ der 1970 geborenen italienischen Philosophin Michaela Marzano:


„In unserer Vergangenheit können Ereignisse begraben werden, die wir nicht näher erläutern können und denen wir keinen Namen geben oder die wie vielleicht namenlos lassen wollen. Dann rebelliert der Körper, versinkt in Unbehagen – die Person wird krank. Krankheiten sind Symptome, die sich oft auf etwas beziehen, das das Verhältnis zwischen dem, was wir sind, und dem was andere von uns erwarten in unlösbarer Weise zeigt“. In Ihren Arbeiten zeigt Marzano weiter – was aus Sicht der Idiolektik selbstverständlich ist – wie essenziell die Benennung solcher Ereignisse einerseits und die Achtung vor der Bedeutung dieser Ereignisse andrerseits ist.


Im Verlaufe eines Patienteninterviews stellt sich das z. B. so dar:


Pat.: „… so ein Typ bin ich nicht".
HHE: „Was für ein Typ sind sie denn?"


Dies ist meine erste und zwangsläufig notwendige Frage.


Pat.: „Ich bin ein selbstbestimmter Mensch und das hat mir sehr geholfen“.
Bei dieser Aussage strahlt sie über das ganze Gesicht, fasst sich an die Nase.
HHE: "Dann haben sie ja eine gute Möglichkeit durchs Leben zu gehen.”
Pat.: „Ja, und da will ich unbedingt wieder hin und dieses Gespräch ermöglicht es mir auch – vielen Dank.“


Es zeigt sich, wie eigensprachliche Interviews in eindrücklicher Weise die Faktoren, die das Lebenskonzept beeinflussen, im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache und in die wesentliche Bedeutung bringen. In den vergangenen Jahren habe ich mir bei der idiolektisch–therapeutischen Tätigkeit immer wieder die Frage gestellt: Was ist diese „Einzigartigkeit“? Eine überraschende Vielzahl von Definitionen und Vorstellungen, geprägt von Kultur, Tradition und Zeitgeist, bestärkt den Impuls, dass es an der Zeit ist zu überlegen, was Einzigartigkeit im Zusammenhang mit Idiolektik sein kann.


Zunächst gibt es eindeutig angenehme, um nicht zu sagen schmeichelhafte Seiten, die Einzigartigkeit beinhaltet. Wem sollte es nicht gefallen, einzigartig sein zu sollen? Subjektiv verbindet sich doch mit dieser Eigenschaft in einem gewissen Sinne eine Absolution von Dingen, von denen man annehmen kann, sie bereiteten meiner Umwelt und möglicherweise auch mir selbst, nicht unbedingt nur uneingeschränkte Freude. Einzigartigkeit ist subjektiv nahe bei Erhabenheit anzusiedeln, was ebenfalls angenehme Assoziationen ermöglicht. Allein schon die gesprächstechnische Verpflichtung in der idiolektischen Methode nachzufragen, würdigt meinen Gesprächspartner, erhebt ihn in den Stand des Experten. Es ist seine Sicht der Dinge, die hier das Wesentliche und damit auch Ausdruck seiner Einzigartigkeit ist.


Doch: „Wer unter Menschen zu leben hat, darf keine Individualität, sofern sie doch einmal von der Natur gesetzt und gegeben ist, unbedingt verwerfen: auch nicht die schlechteste, erbärmlichste oder lächerlichste. Er hat sie vielmehr zu nehmen als ein Unabänderliches, welches infolge eines ewigen und metaphysischen Prinzips, so sein muss, wie es ist, und in argen Fällen soll er denken: Es muss solche Käuze geben. Hält er es anders, so tut er unrecht und fordert den anderen heraus, zum Kriege auf Tod und Leben.“ Nach Schopenhauer, Mitte des 19. Jahrhunderts.


Auch der Germanist Kolhmayer betont „drei Kleinigkeiten“, die für die Beibehaltung eines individualistischen Subjektbegriffs sprechen sollen:
„Erstens: jedes Hirn ist einzigartig
zweitens: jeder Körper ist einzigartig
drittens: jede Biographie ist einzigartig.“


Nach meiner Definition umfasst Einzigartigkeit alle entscheidenden Faktoren, die einem Individuum ermöglichen und ermöglicht haben zu leben oder zu überleben. Wie oft nutzen wir in der Idiolektik die Aussage: Du wirst gute Gründe haben, dass du die Dinge so siehst und mit ihnen so umgehst. Dieser Satz (diese Haltung im Gespräch) unterstreicht die Würde und die Erhabenheit, eben die Einzigartigkeit meines Gegenübers. Dabei ist von größter Wichtigkeit, sogenannte „gute Gründe“ von Gründen schlechthin zu unterscheiden, was nach meiner Beobachtung besonders wichtig ist, und im Sinne der idiolektischen Methode technisch sauber einzuhalten ist.


Gute Gründe sind ausnahmslos Kräfte, die dem Überleben dienen, was wiederum die Verpflichtung enthält, diese guten Gründe „ohne Wenn und Aber“ zu respektieren. Dieser Hinweis auf die guten Gründe bedarf äußerst sorgfältiger Reflexion und darf auf keinen Fall inflationär benutzt werden. Der Hinweis auf den idiolektischen Kernbegriff der „guten Gründe“ ist neben vielem anderen der Nachweis meines uneingeschränkten Respekts vor der ganzen Person meines Gesprächspartners. Dieser Hinweis enthält auch eine spirituelle Dimension, weil die erklärte Anerkennung der „guten Gründe“ „ohne Wenn und Aber“, nur aus einer liebevollen, aus einer empathischen Grundhaltung heraus entstehen kann. Ein weiteres Patienteninterview als Beispiel: Eine 40-jährige Patientin – frisch geschieden – kommt regelmäßig zu Gesprächen in meine Praxis. Die für sie zentrale Problematik sind verschiedene Eigenschaften, die sie unbedingt loswerden will, weil sie überzeugt ist, dass gerade diese Eigenschaften mitverantwortlich sind für das Scheitern der Beziehung zu ihrem Ehemann.


Pat.: „Warum habe ich es nicht geschafft, mich gegen ihn aufzulehnen, ihm die Stirn zu bieten? So eine Frau wird ja bei einem Man nie Respekt erlangen. Ich bin voller Ängste, gleich wie in all den vergangenen Ehejahren Wenn ich ihm heute auf der Straße begegne, beginne ich zu zittern, eine panische Angst befällt mich und ich möchte am liebsten davonlaufen. Gleichzeitig ist mir völlig klar, wie unnötig meine Reaktionen sind, sind doch alle juristischen Rahmenbedingungen zu meinen Gunsten geregelt, aber meine Vernunft kann meine Reaktionen überhaupt nicht steuern. Im Gegenteil, je mehr ich dagegen angehe, umso schlimmer werden meine Angstreaktionen.“


Regelmäßig beginnt unsere Gesprächssitzung mit ihrem Hinweis, sie sei vollkommen lebensunfähig, auch weil sie immer und auch ungefragt, sich um die Befindlichkeiten aller anderen bemühe und bemerke, dass sie dabei selbst immer ins Hintertreffen gerate.


Pat.: „ … so kann doch ein Mensch nicht glücklich werden, wenn immer die anderen im Vordergrund stehen.“


Auf meine provokative Aussage, sie solle doch damit einfach aufhören, gibt sie eine eindeutige und für mich immer wieder anzutreffende Antwort: „Das kann ich nicht“.


Diese so bekannte Antwort drückt in dramatischer Weise aus, was Einzigartigkeit eben auch ist, nämlich eine Art Hypothek, die aufzulösen sehr oft unmöglich wird. Die Antwort der Patientin ist eine authentische Antwort. Sie drückt exakt aus, was innerhalb ihrer Einzigartigkeit eben auch noch alles vorhanden ist, nämlich Anteile, die subjektiv weit weg von Erhabenheit und Größe liegen.


David Jonas hat während seines Arbeitens mit Patienten diesem, üblicherweise wenig Beachtung geschenktem Aspekt der Einzigartigkeit, allergrößte Bedeutung zugemessen.


Sein Satz „Du wirst gute Gründe haben“ war damals wie heute die entscheidende Aussage und drückt etwas ganz anderes aus als die Intention, etwas Störendes beseitigen zu wollen. Ich habe dabei vor allem gelernt, wie kontraproduktiv es sein kann, diese Seiten der Einzigartigkeit auflösen zu wollen, vor allem auch, weil sie, wie oben erwähnt, überlebenssichernde Aspekte beinhalten.


Natürlich ist die Verlockung sehr groß, im Sinne einer Hilfestellung dann Hinweise geben zu wollen. Wie gut zu wissen, dass meine Aufgabe das Zuhören ist. Wie rasch haben wir Ideen zur Hand, die in einer solchen Situation hilfreich sein könnten. Wie unendlich schwierig ist die Abstinenz von solch vermeintlich hilfreichen Ideen.


Mit meiner Patientin verbringe ich alle zwei Wochen eine Stunde – sie erklärt mir immer wieder, sie mache gar keine Fortschritte und meint damit ihr Unvermögen, ihre Eigenschaften ablegen zu können. Auf meine Frage, ob sie noch einmal wiederkommen wolle, sagt sie dann regelmäßig: „Unbedingt – ich komme ohne deine Beratung nicht weiter.“


Der Begriff der Beratung ist für mich jedes Mal eine Überraschung, weil es in diesem Falle bis jetzt gelungen ist, ohne Hinweise, die einem Rat entsprechen, auszukommen. Dass sie aber unsere Begegnungen als Beratungssituationen erlebt, ist für mich sehr beruhigend.


Die erweiterte Anamnese und eine systemische Aufstellungsarbeit zeigen bei dieser Patientin ein auffälliges familiäres Bild einer jungen Sizilianerin, deren Eltern, die Kinder bei den Großeltern zurücklassend, in die Schweiz kommen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Sich unterzuordnen, anzupassen, nicht aufzulehnen und möglichst viele Dinge für sich zu behalten prägen die Lebensumstände. Zusammenfassend kann ich für diesen Fall sagen: Die Verhaltensmuster dieser Patientin sind vollumfänglich aus ihrer Lebensgeschichte verständlich.


Diese Verhaltensmuster sind gut begründete Lebensmuster – sie haben in einer entscheidenden Lebensphase geholfen, Überleben zu sichern.


Die Prognose, die oben beschriebenen Eigenschaften ablegen zu können, ist demnach ungünstig. Sehr günstig hingegen wäre der wachsende Respekt vor allem, was ihre Entwicklung in einer entscheidenden Lebensphase sinnvoll beeinflusst hat. Entsteht dieser Respekt, besteht generell erstmals überhaupt die Möglichkeit, so gestaltete Muster aus einer hilfreichen Perspektive zu betrachten. Alle intentionalen Hinweise meinerseits würden sehr wahrscheinlich beginnende Prozesse hindern oder sogar verunmöglichen.


Wie entlastend zu wissen, dass wir uns auf die „innere Weisheit“ unserer Gesprächspartner verlassen können und das Raten unterlassen können. Eine anspruchsvolle Haltung in der tatsächlichen Umsetzung, was für die Idiolektik als Methode Erfahrung erforderlich macht, die dem nichtintentionalen Denken Raum zur Entwicklung geben kann.


Bei vielen weiteren Praxisbeispielen ließe sich leicht ablesen, wie weit unsere Prägungen, diese unseren Lebensstil beeinflussenden Faktoren, unsere Einzigartigkeit ausmachen. Die Achtung vor dem was wir sind, beziehungsweise geworden sind ist die Grundvoraussetzung, um mit mir selbst einig zu sein.


Diesem Phänomen bei der täglichen Arbeit mit Menschen immer wieder zu begegnen, ist für mich beglückend und sehr anziehend. Dem Ganzen nachzugehen, diesen Schritt in eine andere Denkdimension zu wagen, ist immer wieder verlockend und auch immer wieder mit Rückfälligkeiten versehen. Hilfreich aus meiner Sicht ist unsere bewusst gelebte und uneingeschränkte Solidarität und unsere uneingeschränkte Loyalität. Sie sind die Generatoren unserer Kraft und unserer Begeisterung – sie sind eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen unserer gemeinsamen Arbeit am Thema der Einzigartigkeit jedes Menschen.


Autorenprofil:


Dr. med. Hans-Herrmann Ehrat. Facharzt für Allgemeinmedizin. Psychosomatik. Ambulante Psychotherapie. Ausbildung in Idiolektik bei David Jonas. Gründungsmitglied und Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung (GIG). Vortragstätigkeit, Weiterbildungen und Publikationen zu Themen der Idiolektik seit über 30 Jahren, insbesondere in Psychosomatik, Hausarztmedizin, Palliativmedizin, Psychiatrie, Psychotherapie, Pflege und Management.


Literatur:


Jonas, D./ Daniels. A. (2011): Was Alltagsgespräche verraten. Verstehen Sie Limbisch? 4. Auflage Huttenscher Verlag 507 Würzburg.


Kolhmayer, Rainer (2000): Die Schnake, 15+16, Vorsicht bissiger Mund. Alphabetische Aphorismen. Selbstverlag des Herausgebers.


Marzano, Micgaela (2013): Die Philosophie des Körpers. Diederichs Verlag München.


Schopenhauer, Artur, Haack, Hans-Peter und Carmen /Hg.) (2013): Aphorismen zur Lebensweisheit. 1851. S. 134 https://d-nb.info/1041219032/34/ letzter Aufruf 13.06.2021