Begegnungen mit Spencer-Brown III (Kontaktaufnahme in London)

Es muss im Herbst 1993 gewesen, dass ich die Adresse von George Spencer-Brown ermitteln konnte. Ich weiß nicht mehr, wer sie mir gegeben hat (könnte Dirk Baecker gewesen sein)...


Da ich plante, mit meiner ständigen Begleiterin ein paar Tage in London zu verbringen, bot sich die Gelegenheit, GSB zu besuchen. Ich hatte die Idee, er könne hilfreich bei der Beantwortung von Fragen sein, die uns in Heidelberg interessierten wie z.B. die nach der spezielle Logik psychotischer Unterscheidungen (ich nenne das hier mal so aus Mangel an einer besseren Begrifflichkeit).


Meine Kollegen der IGST (Internationale Gesellschaft für systemische Therapie) und des Heidelberger Instituts für systemische Forschung waren mit ein, zwei Ausnahmen nicht sonderlich interessiert an GSB, da die LoF mein Hobby waren und sie sich weder intensiver mit ihnen beschäftigt hatten, noch sie sonderlich neugierig darauf waren. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie meinen Vorschlag, GSB nach Heidelberg zu holen und ihm ein Stipendium zu geben, akzeptierten. Schließlich hatten wir alle gemeinsam das Geld dazu mit unseren Kongressen und Tagungen erwirtschaftet...


Ich würde also nicht mit leeren Händen nach London fahren, sondern eine Einladung mitbringen. Außerdem konnte und wollte ich – in meiner Rolle als Verleger – GSB anbieten, sein Buch "Wahrscheinlichkeit und Wissen" auf Deutsch zu publizieren. Für die Laws of Form, so hatte ich gehört, lägen die Rechte bei Suhrkamp. Die Übersetzung sei fertig, aber irgendwie könnten Verlag und Autor sich nicht über bestimmte Modalitäten der Publikation einigen.


Als wir, meine ständige Begleiterin und ich, zur verabredeten Zeit (vormittags) vor der vergitterten Tür einer Souterrain-Wohnung in Greville Place (eine Seitenstrasse der Abbey Road – für die Beatles-Fans) standen und klingelten, war ich extrem gespannt, wer uns da öffnen würde. Ich hatte in meinem Leben ja schon mehrfach die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass Autoren, deren Bücher für mich, mein Denken und meine persönliche Entwicklung wichtig waren, ihren Büchern – bzw. meiner aus ihnen abgeleiteten Idealisierung – in keiner Weise gerecht wurden (man muss Büchern ihre Autoren verzeihen).


Beim Warten vor der Tür kam mir in den Sinn, was ich gerüchteweise schon gehört hatte: „Er lebt in einer Garage...“ Das war jedenfalls keine Garage. Souterrain, vergittert. Gibt es oft in London.


Wir hatten uns angekündigt. Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir das angestellt hatten. Ich vermute, ich hatte ihm schriftlich angekündigt, dass ich als sein potentieller Verleger vorbei käme und dann telefoniert...


Das Öffnen der Tür dauerte eine Weile, weil diverse Schlösser geöffnet werden mussten. GSB erklärte, es sei in letzter Zeit eingebrochen worden, daher seien diese Vorsichtsmaßnahmen notwendig. Die Wohnung bestand aus mehreren (mindestens zwei) schlecht belüfteten Zimmern, die ziemlich vollgemüllt waren. Im Empfangssalon stand eine Couch mit einem dazu mehr oder weniger passenden Tisch und Sesseln, im Nebenzimmer lief ein Fernsehapparat. George war nicht wirklich erfreut, dass wir ihn beim Fernsehen gestört hatten, denn er sah gerade eine Cricket-Partie. Dies sei eigentlich die einzig intellektuell ernst zu nehmende Sportart, da sie mathematisch sehr raffiniert sei. Da wir nichts von Cricket verstanden, bot sich hier keine Möglichkeit zum Smalltalk.


Er erzählte stattdessen von seinen großartigen Kontakten und Einladungen aus aller Welt. Er würde aber trotzdem über unser Angebot, nach Heidelberg zu kommen, nachdenken. Wir boten ihm immerhin freie Unterkunft für das erste halbe Jahr 1994 plus 5000,- DM monatlich, wenn er dafür ein zweistündiges Seminar pro Woche veranstaltete und ein zweitägiges „Forum“ (so hießen die Kurztagungen der IGST damals).


Sein Alter konnte ich nicht schätzen – irgendwo zwischen 80 und 100 –,  aber das liegt daran, dass ich generell das Alter meiner Mitmenschen schlecht beurteilen kann (wahrscheinlich, weil es mir nicht wirklich relevant erscheint). Dass er erst 70 Jahre alt war, erfuhr ich erst später.


Was mir auffiel, waren seine schlechten Zähne. Ein Mund voller schwarzer Ruinen (mit den entsprechenden Folgen für die Nähe-Distanz-Regulation). Mir fiel dazu ein, dass Helm Stierlin von seinem Besuch bei Gregory Bateson erzählt hatte, er habe ziemlich schlechte Zähne gehabt. Vielleicht gibt es da ja ein Muster?


Eine Frau von ca. 40 Jahren (?) kam herein. Sie kümmerte sich offensichtlich ein wenig um George. Sie sei eine der vielen Frauen, die ihm zu Füssen lagen und sich brieflich, vor allem aber telefonisch um ihn bemühten, erzählte er. Sie war still, redete kaum, erledigte Hausarbeiten.


George interessierte sich nicht weiter für uns (was ihm ja nicht zu verdenken ist – schließlich wollten wir/ich ja was von ihm, nicht umgekehrt), allerdings schien es ihm ein Anliegen, uns von seiner Wichtigkeit zu überzeugen (was höchstens bei meiner ständigen Begleiterin nötig gewesen wäre, aber den gegenteiligen Effekt hatte – bei mir nicht, ich saß ja deswegen in seiner Wohnung).


Wir verabredeten uns zum Mittagessen in einem Restaurant seiner Wahl, wozu ich ihn eingeladen hatte. Dort trafen wir uns ein paar Stunden später (meine ständige Begleiterin verzichtete auf das „Vergnügen“ – ihre Anführungsstriche...).