Vorbemerkung zu „Formen (reloaded)“

Jedes Buch beginnt mit einer – mehr oder weniger vagen – Idee, manchmal mit einem Plan, in jedem Fall mit einem Satz. Dieser Satz muss nicht immer der erste, später dann gedruckte Satz sein. Der Satz, der meinem Buch „Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialem System“ zugrunde lag, stammte aus dem Vorwort zu Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Wittgenstein erklärt sein Vorhaben und schreibt dazu: „Dass diese Bestrebungen zu einem großen Teil mit denen anderer Autoren zusammenfallen, will ich hier ausdrücklich betonen. Ja, was ich hier geschrieben habe, macht im Einzelnen überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat.


Nur das will ich erwähnen, dass ich den großartigen Werken von...“ [hier nennt Wittgenstein eine Reihe von Namen] „einen großen Teil der Anregungen zu meinen Gedanken schulde.“


Dieser Satz blieb mir für mehr als 30 Jahre im Gedächtnis und, verbunden mit ihm, die Gewissheit, dass es eine Form gibt, in der sich das, was mich wirklich fachlich mein Leben lang interessierte – die Wechselbeziehungen zwischen Organismus, Psyche und sozialen Systemen – zumindest im Prinzip darstellen lassen müsste. Denn dies ist nicht ganz einfach, da sowohl Biologie/ Medizin, Psychologie sowie Sozialforschung ganz unterschiedlich angewendet werden und sich auf ihre jeweils eigenen wissenschaftlichen Traditionen stützen, die klar gegeneinander abgegrenzt sind. Im besten Fall hat dies zu klaren Abgrenzungen gegeneinander mit eigenen Fachsprachen und wissenschaftlichen Traditionen und Diskursen geführt, im schlechtesten zu Fachidiotie. Dass der Zugang zu transdisziplinären Fragen überhaupt eröffnet wurde, ist meines Erachtens den eng miteinander verbundenen Theorieentwicklungen von Systemtheorie und Konstruktivismus zu verdanken. Sie liegen auf einer Meta-Ebene gegenüber allen Einzeldisziplinen: In jeder geht es um Wirklichkeitskonstruktionen, und in jeder ist der Beobachter mit Systemen konfrontiert oder kann zumindest den Gegenstand seiner Erkenntnis als System konzeptualisieren. Hinzu kam für mich, dass letztlich – den Anregungen folgend, die George Spencer-Brown in seinen „Gesetzen der Form“ gegeben hat – ein Prinzip alle Wissenschaften, alle Wirklichkeitskonstruktionen und alle Systeme, seien sie materieller oder ideeller Art, miteinander verbindet: die Bildung von Unterschieden, d. h. von Grenzen und Einheiten. Dies ist der rote Faden, der alles miteinander verbindet... Und es könnte, so meine Idee, der rote Faden sein, der die transdisziplinäre Analyse der Wechselbeziehungen von Organismus, Psyche und sozialen Systemen leitet und ermöglicht. Dass beim Spinnen dieses Fadens zum einen aufgrund der Vielfältigkeit der Herkunftswissenschaften, zum anderen aus reinen Platzgründen auf Quellenangaben und Einordnung in die jeweiligen theoretischen Argumentationslinien verzichtet werden musste, schien mir offensichtlich – und das „erlaubte“ mir Wittgenstein durch seinen Satz nicht nur, er lieferte mir durch den Tractatus auch gleich einen Formvorschlag. Natürlich – das war und ist mir klar, muss hier aber noch einmal ausdrücklich betont werden – ist mit dem „Klauen“ von Formaspekten des Tractatus von mir in keiner Weise auch nur im Geringsten der Anspruch oder auch nur die Hoffnung verbunden, dem Vorbild gerecht zu werden oder dessen Autor das Wasser reichen zu können.


Auf jeden Fall haben mir der Tractatus und der Satz aus dem Vorwort ermöglicht, das Buch „Formen“ zu schreiben und zu publizieren. Die Reaktionen waren vorhersehbar gemischt. Eine mir nahestehende Person, die – wahrscheinlich, um unsere Beziehung nicht zu gefährden – noch nie einen Text von mir gelesen hat – nahm das Buch in die Hand, blätterte es durch, warf einen Blick hinein und sagte dann: „Nur gut, dass deine Mutter das nicht mehr erleben musste!“ Und ich kann diese Reaktion verstehen. Die „Formen“ liefern ein Kondensat, das aufgrund der Verdichtung und Abstraktion nicht für jedermann lesbar oder verdaubar ist. Es gab aber auch positive, ja, sogar sehr positive Reaktionen.


Alles in allem hätte es für mich keinen Grund gegeben, weiter an diesem Buch rumzuschreiben, wenn da nicht die Corona-Pandemie mit ihrem obligatorischen Hausarrest und der Veränderung vieler Kommunikationsformen über uns gekommen wäre. Eingesperrt in meine Bibliothek, begann ich zunächst, in einem Blog des Carl-Auer Verlags freie Assoziationen und gelegentlich auch – auf Nachfragen antwortend – Kommentare zu einzelnen Sätzen zu publizieren. Daraus entstand dann – Langeweile ist ja bekanntermaßen die Wurzel der Kreativität – der Plan, die Sätze mit Literatur zu unterfüttern, also das zu tun, was ich durch die gewählte Form gerade zu vermeiden versucht hatte und was mir das Schreiben des Buches emotional und intellektuell überhaupt erst ermöglicht hatte (sonst hätte ich aufgrund der Menge des Materials sicher von vornherein darauf verzichtet). Und beim Durchforsten meiner Bücherregale und beim Nachlesen der vielen angestrichenen Literaturstellen wurde mir sofort deutlich, dass es nicht mit einem Verweis auf Quellen getan sein würde. Niemandem wäre gedient, wenn auf ein für ihn nicht greifbares Buch und eine Seitenzahl verwiesen würde. Das einzig Sinnvolle war, ganze Textpassagen im Original zu zitieren. Das würde dem Lesen einen wissenschaftlichen Kontext liefern, ihm das Denken des jeweiligen Autors verdeutlichen und ihm gegebenenfalls auch den Weg zum Weiterlesen weisen. Aber ich habe nicht nur Quellen zitiert, sondern auch noch gelegentlich freie Assoziationen – meine freien Assoziationen – hinzugefügt. So wurde der Blick auf den Stamm der „Formen“, um es in einem Bild zu fassen, durch die Ausgrabung und Offenlegung etlicher haltgebender und nährender Wurzeln erweitert, um daneben auch noch ein paar zarte Äste, die aus diesem Stamm sprossen, ins Blickfeld zu rücken. Und es lag nahe – da das Ganze zunächst als Blog auf der Website des Carl-Auer Verlags startete – die Möglichkeiten des Mediums zu nutzen, das heißt, die addierten freien Assoziationen nicht auf Texte zu beschränken, sondern durch Bilder, Fotos, Videos, Filme zu ergänzen.


Daraus resultierte – wiederum durch Corona und die allseits gewachsene Bereitschaft, mit elektronischen Medien zu experimentieren, bedingt – die Idee, dieses Material zur Grundlage eines Online-Seminars zu machen. So veranstalteten dann Timm Richter und ich eine Online-Seminarreihe zu den Themen des Buches. Dazu ergänzten wir nicht nur Video-Assoziationen und Visualisierungen zu den Sätzen des Buches, sondern wir produzierten neben regelmäßigen Livesitzungen auch noch zu jedem der Sätze Gespräche und Diskussionen zwischen uns von jeweils etwa einer halben Stunde. Sie standen den Teilnehmern des Seminars per Video und Podcast zur Verfügung. Der Titel der Seminarreihe lautete „Systemtheorie reloaded


Doch es wäre natürlich ein Jammer, dieses ganze Material allein den Teilnehmern eines Seminars zur Verfügung zu stellen. So – nächster evolutionärer Schritt – entstand der Plan das Ganze auch als Buch zu publizieren. Dass die Publikation der Videos schon aufgrund der Begrenzungen des Mediums nicht infrage kam, war klar, und letztlich muss man sich wohl entscheiden, welches die Vorteile und Begrenzungen der Nutzung unterschiedlicher Medien sind. Buch ist Buch. Und es sollte nun mal ein Druckwerk werden. Es war nicht zu vermeiden, dass der so aufgeladene Text einen ziemlich großen Umfang annimmt und nicht mehr zwischen zwei Buchdeckel passt. Daher die Aufteilung in unterschiedliche Bände. Den Titel „reloaded“ hat er – verbliebene Spur – von dem beschriebenen Seminar übernommen. Und, ehrlich gesagt, ist diese Reloaded-Version immer noch ein Seminar über Konstruktivismus und Systemtheorie – nur eben ohne Präsenzphasen.


Sicher ist das Buch „Formen (reloaded)“ ein ganz anderes Buch geworden als es das Buch „Formen“ war. Beide sind – das dürfte bei der Reloaded-Version deutlicher sein – durch meine professionelle Lebensgeschichte geprägt, d. h. sehr persönliche Bücher, auch wenn es allein um Sachthemen geht. Und wahrscheinlich gibt es wieder unterschiedliche Reaktionen der Leser darauf. Aber Bücher sind ja so etwas wie Rorschachtests oder, um es in Abwandlung eines Satzes von Karl Krauss zu formulieren:


Frage einen Menschen, wie er ein Buch findet. Was immer er antwortet, du weißt dann wahrscheinlich mehr über ihn als über das Buch.