Wer oder was ist ein Idiot?

Die Debatte darum, ob man Menschen, die - ohne Mund-Nasen-Schutz und ohne die empfohlene Distanz einzuhalten - demonstrieren, Cov-Idioten nennen darf (und ich nenne sie so), bringt mich dazu, hier eine Nachhilfestunde in Sachen Idiotie anzubieten...


Der Begriff Idiot stammt aus dem Griechischen (ἰδιώτης /idiotes) und wurde ursprünglich für Menschen verwendet, die sich aus der Gemeinschaft verabschiedet haben und einsam in den Wäldern leben, wo sie sich nicht um soziale Spielregeln scheren mussten. Das wurde von den alten Griechen als asozial betrachtet, da von den Bürgern erwartet wurde, Verantwortung für das Gemeinwesen (die polis) zu übernehmen.


Heute wird das Wort abwertend und synonym für dumm gebraucht wird. Und ich würde gern noch ergänzen, dass es sich dabei um eine Form der Dummheit handelt, die nichts mit Intelligenz „an sich“ zu tun hat, sondern um so etwas wie „systemische Dummheit“, d.h. die Unfähigkeit systemisch zu denken bzw. eine systemische Perspektive einzunehmen.


Dazu ein paar Worte zur psychischen Entwicklung des Individuums, genauer: zur Entwicklung der Perspektivenübernahme (nachzulesen bei Robert L. Selman: The Growth of Interpersonal Understanding: Developmental and Clinical Analyses, 1980).


Das Kleinkind denkt egozentrisch, bezieht das, was in der Welt geschieht auf sich. Das geht ein paar Jahre so, dann wird der nächste Schritt nach und nach vollzogen – etwa im Alter von 12 Jahren. Dann wird es dem nunmehr kaum noch Kind zu nennenden Individuum möglich, sich in die Perspektive seines Gegenübers zu versetzen. Das ist im Blick auf das soziale Zusammenleben ein wichtiger Schritt, weil dies die Empathie und das Verständnis für die Mitmenschen erweitert.


Auch wenn da für viele Menschen die Entwicklung endet, geht sie im idealen Fall weiter. Es ist ein Schritt, der meist erst mit etwa 18 Jahren, also in einem Alter, in dem man als mündig erachtet wird, erfolgt. Nun wird es möglich, die Außenperspektive auf die Interaktion, an der man beteiligt ist, einzunehmen. Man kann nun (im Idealfall) sehen, an welchen „Spielen“ man sich beteiligt und in welche Interaktionsmuster man sich verstrickt (das ist übrigens etwas, das durch die Methode des „Zirkulären Fragens“ in der systemischen Therapie gefördert wird). Die Fähigkeit, die Außenperspektive auf das soziale System, an dem man beteiligt ist, einzunehmen, ist (meines Erachtens) ein Aspekt dessen, was man systemisches Denken nennen kann.


Wer auf der ersten Stufe der Entwicklung der sozialen Kognition stehen geblieben ist, der ist m.E. mit Fug und Recht Idiot zu nennen. Allerdings muss ich einschränken: Man kann von außen ja nicht wirklich wissen, ob er so denkt, daher geht es immer darum, dass jemand so handelt, als ob er so die Welt sehen würde...


Von der zweiten Stufe aus handeln alle, die meinen, man können politische Verhältnisse in dialogische Beziehungen auflösen. Das ist zwar nicht idiotisch, aber sicher aus einer systemtheoretischen Perspektive nicht angemessen. Die Dynamik sozialer Systeme, die über die Face-to-Face-Interaktion hinausgehen (also mehr als etwa 12 Personen umfassen), lässt sich nicht durch individuelle Psychologie erklären. Es sind, ganz im Gegenteil, die sozialen Spielregeln, mit deren Hilfe man die individuellen psychischen Reaktionen erklären kann.


Es gibt, so betrachtet, idiotischere und weniger idiotische Gesellschaftsformen. Die anglo-amerikanische Variante ist ziemlich idiotisch, da sie das Individuum in den Mittelpunkt stellt und die Gesellschaft als Aggregation von Individuen, deren Freiheit nicht beschnitten werden soll/darf, betrachtet (Margaret Thatcher: „Es gibt keine Gesellschaft!“)


Die ostasiatischen Gesellschaften sind am anderen Ende des Spektrums zu verorten, weil im Zweifel die Rechte des Individuums ganz klein geschrieben werden (Frage der „Menschenrechte“), und das Kollektiv ganz groß.


Das dürfte eine Erklärung dafür sein, warum die ostasiatischen Staaten erstaunlich gut durch die Corona-Pandemie gekommen sind und immer noch kommen, während die USA (und auch GB) ziemlich schlecht dastehen. Die kontinentaleuropäischen Länder sind irgendwo kulturell in Mitte zwischen Ost und West anzusiedeln.


Idioten – Cov-Idioten – sind nun Leute, die nicht sehen und merken, dass sie dabei sind, soziale Spielregeln durch ihr Handeln (!) zu verändern, wozu sie sicher kein Mandat haben. Das hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun – denn niemand hindert irgendwen daran, seine Meinung, alle angeordneten Maßnahmen seien schwachsinnig, zu äußern – auch nicht auf der Straße. Aber wie beim Geisterfahren: Gegen die Richtung die Autobahn zu benutzen, ist nicht durch das Demonstrationsrecht und das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt.


Wer das nicht auseinanderhalten kann/will und sich das Recht herausnimmt, sich in einer Weise zu verhalten, die andere Leute gefährdet, ist nicht nur nicht in der Lage, die systemischen Folgen seines Handelns zu erkennen (3. Stufe der Entwicklung der sozialen Kognition) sondern er bewegt sich, wenn es ihm um den Erhalt des Dialogs geht (was ja ehrenhaft ist), auf der 2. Stufe der Entwicklung der sozialen Kognition. Wenn er lediglich seine eigene Freiheit im Blick hat, ist er m.E. ein Idiot.