Die Corona-Gesellschaft verstehen. Eine systemtheoretische Perspektive

Inzwischen ist die Corona-Gesellschaft über ein Jahr alt, und immer noch erstaunt mich die Tatsache, dass all das, was ich nicht (mehr) für möglich gehalten hätte, nicht nur möglich, sondern tatsächlich real geworden ist: eine Gesellschaft aus einem Guss, die Steuerung des umfassenden Sozialsystems durch staatliche Imperative. Der Lockdown, dem Steffen Roth, Fritz B. Simon und ich ein eigenes Buch gewidmet haben, ist die augenscheinlichste Strategie dieser neuen gesellschaftlichen Formation.1


Mit der soziologischen Systemtheorie bin ich vor Corona davon ausgegangen, dass die Aufsplitterung der Gesellschaft, also das, was funktionale Differenzierung genannt wird, kaum ausgehebelt werden kann, dass die Gesellschaft also keineswegs zentralperspektivisch und staatlich von oben herab, mithin zielgerichtet gelenkt werden kann. Aber genau das ist geschehen und geschieht nach wie vor– mit allen Effekten, die dies hat, die einige feiern und die anderen beklagen.


Ich selbst gehöre zu denen, die über diesen Zustand besorgt sind, die ein Auferstehen einer Kontrollgesellschaft befürchten.2 Im Gegensatz dazu gehe ich davon aus, dass Dezentralität, Föderalismus, Regionalismus und die Nutzung von verteilter Intelligenz grundsätzlich passendere Lösungen generieren als zentralistische Programme, die vorgeben, dass es alternativlose Einheitslösungen, im Sinne eines One Size Fits All für komplexe Probleme geben würde.


Die Frage, die mich entsprechend interessiert, ist, wie eine solche zentralistische Gesellschaftsgestaltung möglich geworden ist. Im Sinne der soziologischen Systemtheorie versuche ich eine Antwort, die die Operation der Gesellschaft, nämlich Kommunikation, ins Zentrum dieses Erklärungsversuches stellt. Diesbezüglich lassen sich mindestens fünf Aspekte unterscheiden,3 die die Kommunikationen innerhalb der Gesellschaft in formatierter Weise auf das Corona-Phänomen ausrichten.


1. Einseitige Informationsvermittlung der Massenmedien


Durch die sich permanent wiederholenden Informationen innerhalb der Massenmedien, in denen täglich die Corona-Gefahr durch tendenziell kontext- und relationslose Zahlenpräsentationen kommuniziert wird, gelingt es, die Öffentlichkeit auf diesen Aufmerksamkeitsfokus zu setzen und ihn in kurzen regelmäßigen Abständen zu aktualisieren. Dass diese Zahlen zumeist ohne Relationen präsentiert werden, spielt dabei keine oder vielleicht sogar die zentrale Rolle. So werden etwa die täglichen Todeszahlen von Menschen vermittelt, die mit oder an Corona verstorben sind, ohne aber anzugeben, wie sich diese Zahlen zu den Gesamttodeszahlen des jeweiligen Tages verhalten. Auch die Angabe der Testpositiven wird nicht ins Verhältnis gesetzt zu den Testzahlen insgesamt. Unterschieden wird schließlich nicht zwischen tatsächlich kranken und symptomlos Getesteten. Wer sich diesbezüglich nicht selbst differenzierter informiert, etwa auf den Seiten des Robert-Koch-Instituts nachschaut oder so genannte alternative Medien zu Rate zieht, erlebt eine täglich neu sich einstellende Aufmerksamkeitsfokussierung auf Zahlen, die zwar Angst machen können, die jedoch, aus dem Zusammenhang gerissen präsentiert, keine differenzierte Lageeinschätzung erlauben.


2. Gesundheitssystem und die Realität des Todes


Die Angst vor dem Tod ist eine Urangst, die uns alle betrifft. Vom Gesundheitssystem erwarten wir diesbezüglich zwar keine Abschaffung des Todes, aber eine Hinauszögerung seines Eintretens. Wenn nun jedoch aus dem Gesundheitssystem heraus kommuniziert wird, dass die Krankenhäuser überfüllt sind und dass, wenn der Ansturm von Corona-Kranken nicht abgebremst wird, bald mit einer so genannten Triage gerechnet werden müsse, steigt die Todesangst. Denn es könnte ja passieren, dass Kranken bald nicht mehr geholfen werden könne, weil die freien Kapazitäten aufgebraucht sind. Diese Angst vor der Nichtbehandlung im Krankheitsfalle verweist auf die Todesangst, die nahezu alle Menschen mehr oder weniger stark in ihren Bann zieht.Erstaunlich ist jedoch, dass sich vor wenigen Tagen herausstellte, dass zumindest in Deutschland niemals eine Krankenhausüberlastung zu befürchten war, dass es während der gesamten Corona-Krise genügend Betten gab, die kommunizierten Zahlen also nicht der tatsächlich möglichen Auslastung entsprachen.5


3. Sanktionsmacht des Staates


In der demokratischen Gesellschaft gibt es das Gewalt- bzw. Machtmonopol des Staates, das die Exekutive anwendet, wenn es darum geht, für die Einhaltung von Gesetzen zu sorgen. Sehr schnell war klar, dass der Staat in der Corona-Krise weniger auf das setzt, was normalerweise in westlichen Ländern im Mittelpunkt des Alltags steht, nämlich die Selbstverantwortung der Bürger·innen, sondern dass er kollektiv verbindliche Entscheidungen trifft (etwa die Masken- und Abstandspflicht, das Versammlungsverbot oder die Schließung von kulturellen und gastronomischen Einrichtungen), die er entsprechend durchsetzt. Die polizeiliche Realisierung dieser Entscheidungen sorgt für das erwartete Verhalten bei den Leuten. Wer Sanktionen vermeiden will, verhält sich wie gefordert. Genau das verweist auf die Kommunikation von staatlicher Macht und sorgt für das Hören auf die politischen Vorgaben.


4. Moralische Kommunikation


Die Kommunikation der Gesellschaft ist grundsätzlich moralisch zweitcodiert. Das heißt, dass es kein spezielles Gesellschaftssystem gibt, das moralisch kommuniziert, sondern dass Moral als verbindender Code nahezu alle sozialen Kommunikationen mitprägt. Mit Moral sind Kommunikationen gemeint, die über den gemeinschaftlichen Ein- und Ausschluss von Personen disponieren und diese Disposition an der Zurschaustellung von Werten binden. Wer also bestimmte Werte vertritt, die andere ebenfalls als verbindlich ansehen, kann seine Zugehörigkeit, seine Inklusion in die jeweilige Gemeinschaft bekräftigen. Wer diese Werte nicht teilt oder gar gegenteilige Werte kommuniziert, kann mit Ausschluss aus dieser sozialen Gruppe rechnen, wird möglicherweise sogar entsprechend beschimpft und verunglimpft. All jene, die das herrschende Corona-Narrativ nicht teilen, die andere Auffassungen vertreten als die, die in den Massenmedien kommuniziert werden, die die Zahlen alternativ interpretieren, werden in dieser Weise sozial exkludiert.


Mit der entsprechenden öffentlichen Exklusion aus dem Diskurs sahen sich sehr früh etwa Ärzte wie Wolfgang Wodarg und Wissenschaftler wie Sucharit Bhakdi konfrontiert. Diese Ausschlüsse statuierten Exempel, die abschreckend für alle anderen wirken, die in ähnlicher Weise aus der Konformität des Mehrheitsdiskurses ausscheren, aber es sich nun wohl sehr genau überlegen, ob sie ihre Positionen öffentlich kommunizieren. Denn sollte dies geschehen, dann könnten sie ebenfalls der Exklusion aus relevanten sozialen Systemen ins Auge sehen.


5. Institutionelle Interessendurchsetzung


Schließlich können wir die Dynamik der Gesellschaft nur verstehen, wenn wir auch Interessen in den Blick nehmen, die kaum öffentlich, sondern in institutionellen Hinterzimmern kommuniziert werden, aber damit nicht weniger die Dynamik von massenmedialen, politischen, gesundheitsbezogenen, moralischen und wirtschaftlichen Entscheidungen prägen. Zumindest dann, wenn Diskurse über Alternativen, über unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten auf komplexe bio-psycho-soziale Probleme tendenziell, etwa politisch und massenmedial unterbunden werden, sollte die Frage erlaubt sein, ob es eventuell starke Interessen gibt, für die die kommunizierte Einheitslösung vorteilhaft wäre. Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie wurde beispielsweise die Impfung als alleinige Lösung des Problems benannt, obwohl freilich viele weitere Lösungen möglich wären. Selten wurde die Stärkung des Immunsystems in den Blick gebracht. Auch Medikamente zur Prophylaxe und zur Behandlung akuter Covid-19-Fälle wurden kaum öffentlichkeitswirksam präsentiert. Könnte es sein, dass sich die Politik in engen Verflechtungen mit der Pharmaindustrie zu schnell der einen Lösung verschrieben hat?


Niklas Luhmann hat die Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, also der Abgrenzung der Funktionssysteme auf der Basis empirischer Beobachtungen ausgearbeitet. Aber letztlich könnte diese Theorie auch normativ gelesen werden. Denn sie bringt ein Gesellschaftssystem in den Blick, das widerständig ist gegen einseitige Ausrichtungen sozialer Kommunikationen durch Funktionssysteme. Derzeit erleben wir jedoch die Brüchigkeit, die Vulnerabilität der funktionalen Differenzierung. Langfristig wird sich jedoch zeigen, das ist zumindest meine Vermutung, dass jede Gesellschaft, die die verteilte Intelligenz ihrer dezentralen Systeme massenmedial, politisch, gesundheitlich, moralisch oder wirtschaftlich aushebelt, ihre Dynamiken zur Lösung komplexer Probleme drastisch einschränkt. Daher können wir wohl optimistisch sein, dass das, was derzeit langsam wieder kommt, langfristig stärker sein wird: das Blühen von Differenz, Pluralität, dezentraler Selbstorganisation und die Alternativen-Vielfalt hinsichtlich der Bearbeitung komplexer Problemlagen.


1 Heiko Kleve, Steffen Roth, Fritz B. Simon (2020): Lockdown: Das Anhalten der Welt. Debatte zur Domestizierung von Wirtschaft, Politik und Gesundheit. Heidelberg: Carl Auer.


2 Heiko Kleve (2020): Das Auferstehen der Kontrollgesellschaft, abrufbar unter: https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/das-auferstehen-der-kontrollgesellschaft [14.06.2021].


3 Inspiriert sind diese Aspekte u.a. von Walter Weber, der in einem Gespräch mit Marc Fiddike von Informationsdefiziten, Angst, Gehorsam, Konformitätsdruck und Profitinteressen spricht: https://www.youtube.com/ [14.06.2021].


4 Diese Angst wurde tatsächlich vom Bundesministerium des Inneren als eine Strategie beschrieben, um die Bevölkerung auf das Einhalten der Regeln zu orientieren. Siehe dazu das entsprechende Papier des BMI "Wie COVID-19 unter Kontrolle bekommen", abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.pdf?__blob=publicationFile&v=6 [14.06.2021].


5 Siehe dazu beispielhaft den Kommentar von Frank Schmiechen im Stern: https://www.stern.de/politik/deutschland/intensivbetten-betrug--das-ist-freiheitsberaubung-30567954.html [14.06.2021].