autobahnuniversität / Reinhart Lempp - Die Angst vor dem Kind

„Ankoppeln an Kinderwelten“ – so lautete der Titel eines der vielen Symposien und Foren, die von der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (i.g.s.t.) in den 1990er Jahren organisiert wurden. Auch aus dieser Tradition heraus und in diesen Kontexten haben sich hochwirksame Programme und Methoden systemischer, hypnotherapeutischer und hypnosystemischer Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen entwickelt. Es zeigten sich immer neue Herausforderungen und Anwendungsfelder, die auch zu immer neuen Klassikern der Fachliteratur im Carl-Auer Programm führten, unter ihnen Die Pupille des Bettnässers, Kinder aus der Klemme, Die Eigensprache der Kinder, Ängste von Kindern und Jugendlichen, Handbuch Lösungsorientiertes Arbeiten mit Kindern oder Ich schaffs!, um nur einige wenige zu nennen.


Beim Symposium „Ankoppeln an Kinderwelten“, das 1995 stattfand, hielt der renommierte und auch über Fachkreise hinaus prominente Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp diesen von der Autobahnuniversität dokumentierten Vortrag. Lempps große Erfahrung in der Arbeit mit besonders belasteten Hochkonflikt- bzw. Trennungs-Familien führt ihn dazu, die dort sich zeigenden, aber auch die sich verbergenden oder irgendwie verkleideten Ängste zu erkennen, zu sortieren, zuzuordnen und gut zu behandeln. Es geht nicht nur um die Ängste der Kinder und Jugendlichen, sondern auch um die der Erwachsenen – Eltern, Betreuungspersonen, Therapeuten u.a.


Hinter jeder Aggressivität, so Lempp, steht die Angst. Auch die Angst vor dem eigenen Kind, als die andere Seite von Liebe und Schutz, wenn letztere auch in ihren nicht altruistischen Seiten erkannt werden. Angst vor eigener Hilflosigkeit seitens der Eltern, wenn das der elterlichen Rolle zugeschriebene Vertrauen von den Kindern nicht mehr erfahren wird; Angst vor dem Verlust von Autorität (Lempp: „Wer Angst um seine Autorität hat, hat sie bereits verloren“); Angst davor, die eigenen Kinder als überlegen erfahren zu müssen – z. B. in Fragen moderner technikgestützter Kommunikation; Angst darum, im Alter hilfsbedürftig zu werden und damit allein zu bleiben, u. a. m.


Im Zentrum steht für Lempp, Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen und sich mit ihnen zu verbinden, ohne sich zu verbünden. Das bedeute z. B. auch, in der Wahl des Settings keine scheinbare Augenhöhe zu suggerieren, indem man Praxis- oder Gerichtsräume zu Spielzimmern umfunktioniere und damit eben Kinder nicht ernst nehme, sondern ihnen vortäusche, es gehe um ein Spiel. Neutralität heiße, den Ernst von Situationen und Themen anzuerkennen und von dort her das Vertrauen in die Eigenheit und Eigenständigkeit der Kinder und Jugendlichen zu zeigen und so wahrscheinlicher zu machen, dass es erwidert werde.


Einige der seinerzeit höchst innovativen, ja provozierenden Ideen und Forderungen Lempps – bspw. seine bereits 1963 erhobene Forderung nach einem Mitsprachrecht von Scheidungskindern, bei welchem Elternteil sie leben möchten – haben ihm viel Kritik und Häme eingebracht, aber in darauffolgenden Zeiten teils auch große Wirkung entfaltet.


Reinhart Lempp (1923 – 2012) war Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Professor an der Universität Tübingen und dort Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie.