Systemische Aspekte des Fußballs - Reinhard K. Sprenger

Nun läuft sie auf vollen Touren, die Ko-Phase des Turniers um die Fußballeuropameisterschaft der Herren. Und sie hat schon Überraschungen gebracht – jedenfalls hat sie Mannschaften, die einige auf dem Zettel hatten, durch Mannschaften, die sie nicht auf dem Zettel hatten, vorzeitig auf den Heimweg befördert. Dass es trotz mancher Wahrscheinlichkeiten dennoch so schwer oder fast unmöglich ist, vorherzusagen, wie ein Spiel ausgeht, macht Fußball so spannend – jedenfalls für diejenigen, die nicht einfach sagen, man solle doch jedem der 22 Spieler einen Ball geben; dann sei Ruhe … Reinhard K. Sprenger hat seinem Kapitel in dem Buch Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs – herausgegeben von Fritz B. Simon – den Titel „Spannende Spielregeln in der Wirtschaft“ gegeben. Und er beginnt – wenig überraschend, aber sehr erhellend – mit Reflexionen über Regeln des Fußballs. Hier ein Ausschnitt aus seinem Beitrag.


Regeln und Selbstorganisation


Reinhard K. Sprenger


Warum hat eine Mannschaft 11 Spieler – und nicht etwa 15? Warum ist ein Fußballtor 2,44 Meter hoch und 7,32 Meter breit? Wie kam man auf die Größe des Spielfeldes? Warum ist die neue Rückpassregel eingeführt worden? Und warum dürfen die Spieler nicht mehr – wie in den Frühformen des Fußballs – auch die Hände gebrauchen, warum später nur noch der Torwart, warum seit 1912 dann nur noch der Torwart im eigenen Strafraum? Warum diese Einschränkungen? Warum überhaupt Regeln?


Wenn ich mich im Folgenden diesen und ähnlichen Fragen zuwende, dann tue ich das mit systemisch infiziertem Interesse, jedoch ohne das systemische Theoriegebäude möblieren zu wollen. Vor allem aber ohne den einschlägigen Jargon. Ich spiele für die Fankurve – sie will ich unterhalten und dabei Wissenswertes einschmuggeln. Man mag mir nachsehen, dass ich dabei bisweilen am »individualistischen Reduktionismus« sowie an alteuropäischen Konzepten wie Ballgefühl und Dribbelkunst festhalte.


Spielregeln sind dafür da, das Spiel zu regeln. Nicht mehr, nicht weniger. Das heißt: Regeln ermöglichen erst das Spiel. Freiheitseinschränkung ist mithin Voraussetzung für das Spiel, sonst findet es einfach nicht statt. Und das Spiel ist zu Ende, wenn die Regeln nicht mehr gelten – was, wie mir scheint, einen noch ungehobenen Bildungsschatz darstellt.


Aber Regeln fallen nicht vom Himmel. Sie ergeben sich in einem historischen Suchprozess durch Versuch und Irrtum. Woran orientiert sich dieses Ausprobieren? An einer simplen Idee: Das Spiel soll weitergehen; es soll »als Spiel« – mit eigenem Sinn, Eigen-Sinn – erhalten bleiben. Unter welcher Bedingung kann es weitergehen? Die Antwort darauf ist eine der fundamentalsten Wahrheiten, die der Fußball zu bieten hat: »Die Leut’ gehe’ ins Stadion«, so die korrekte mannheimsche Version Sepp Herbergers, »weil se net wisse, wie’s ausgeht.« Nicht nur Siege sind zu feiern, auch die Pleite kann drohen, die vernichtende Niederlage, der Abstieg. Würde man sie vermeiden können – kein Mensch würde kommen.


Es ist also gerade das Aushalten des »Spannungspegels« (Norbert Elias), das so attraktiv ist. Denn die alltagspraktische Trivialität – dass man nicht weiß, wie die Dinge ausgehen – wird im Fußball zum Vergnügen. Es ist das Kontingente, das das Interesse wachhält – nicht die Steigerung der Tordifferenz oder die Demonstration von Überlegenheit. Aus Studien wissen wir, dass bei Heimspielen die meisten Zuschauer kommen, wenn die Siegwahrscheinlichkeit der Heimmannschaft bei etwa 60 % liegt. Liegt sie höher, bleiben »die Leut’« zu Hause. Fans verschmähen offenbar »sichere« Siege und wollen für ihre Mannschaft fiebern und bangen. Mehr noch: Nichts lässt mehr Hass aufflackern als der Verstoß gegen das Spannungsmoment: dauerhafte Dominanz. Davon können in Spanien die Madrilenen ein Lied singen, in Italien die Turiner, in Deutschland die Bayern. In Fernsehübertragungen selten gezeigt, aber in den Stadien jeden Samstag zu erleben: Ist die Überlegenheit der eigenen Mannschaft oder des Gegners »drückend«, verlassen die Zuschauer schon eine Viertelstunde vor Spielende die Ränge. Nicht gut fürs Geschäft. Das heißt, wenn das Spiel weitergehen soll, muss der Ausgang offen sein. Es muss mal der eine, mal der andere gewinnen. Sonst wird es langweilig, und das soziale System »Fußball« – mit Ball, Regeln, Gegnern, Vereinen, Beobachtern und Beobachtern der Beobachter – stirbt.


Spannung ist mithin die regulative Idee des Fußballspiels. Allein schon die freiwillige Selbsterschwerung des Spiels mit dem ungeschickten Fuß macht das Spiel spannender als alle Ballsportarten, die das geübte Kontrollorgan der Hand nutzen. Und von Jean-Paul Sartre stammt die tiefe Erkenntnis, dass sich »im Fußball alles durch die Anwesenheit des Gegners verkompliziert«. So, wie sich in der Wirtschaft alles durch die Anwesenheit des Wettbewerbers verkompliziert.


Wichtig ist: Regeln haben genau diesen spannungserzeugenden Sinn. Sie sind weder gut noch schlecht – sie müssen nur das Ergebnis lange genug verhindern, die zu frühe Gewissheit, das Ende des Spiels. Sonst kommen keine Zuschauer, wetten keine Wetter auf die Wettkämpfe, wird kein weiteres Spiel angepfiffen. Zoomt man sich näher heran, dann heißt das: Angriff und Verteidigung müssen balanciert werden, ihre Erfolgswahrscheinlichkeit muss etwa gleich groß sein. Wenn wir zum Beispiel fragen: »Warum ist das Fußballtor 2,44 Meter hoch und 7,32 Meter breit?«, dann lautet die formale Antwort: Es handelt sich um die Umrechnung englischer Maßeinheiten (8 Fuß bzw. 8 Yards). Aber warum ist das Tor nicht doppelt so breit oder – anders herum – nur halb so breit? Nun, wäre das Tor größer, würden viele Tore fallen; ein einzelnes Tor wäre nicht so wichtig und deshalb auch nicht so aufregend. Wäre es kleiner, würden sehr wenig Tore fallen; ein einziges Tor wäre kaum noch aufzuholen. Beides würde das Spiel langweilig machen.


Dasselbe beim Strafstoß: Warum wird der ausgerechnet aus elf Metern Entfernung getreten und nicht etwa aus zwölf? Weil man seit etwa 100 Jahren weiß, dass bei der gegebenen Torgröße zwischen 70 und 80 % aller Strafstöße verwandelt werden. Aber eben nicht 100 %! Ein Foul wird geahndet, und die Wahrscheinlichkeit des Torerfolgs ist groß. Aber nicht sicher. Genauso, wie wir ja auch nicht sicher sein können, dass der gefoulte Spieler tatsächlich getroffen hätte. So bleibt es spannend.


Auch Spielerzahl und Spielfeldgröße hängen zusammen. Würden weniger als elf Spieler pro Mannschaft spielen oder machte man das Spielfeld größer, stünden die Spieler zu weit voneinander entfernt, es gäbe keine Zweikämpfe. Spielten mehr als elf Spieler oder machte man das Spielfeld kleiner, gäbe es keine weiträumigen Aktionen – der Ball würde wie beim Flippern hin- und herprallen. Auch die durchschnittliche Zeitspanne von etwa zwei bis drei Sekunden zwischen zwei Ballkontakten hat sich als spannungsfördernd erwiesen. Aus gleichem Grund wird beim Hallenfußball auf kleinerem Feld die Spielerzahl reduziert.


Warum aber hat man die Regeln so gesetzt, dass sehr wenig Tore fallen – im Vergleich zum Handball beispielsweise? Auch das hat mit Spannung zu tun. Denn je weniger Tore fallen, desto mehr hat die schwächere Mannschaft die Chance auf einen Überraschungssieg. Desto höher auch die Wahrscheinlichkeit für ein Unentschieden (im Profifußball etwa jedes vierte Spiel). Deshalb wählen schwächere Mannschaften oft eine defensive Taktik, versuchen eher Tore des Gegners zu verhindern als selbst Tore zu erzielen. Und wie oft hat schon eine überlegen spielende Mannschaft verloren, weil der schwächeren Mannschaft nach langem »Mauern« doch ein Glückstor gelang! Der Reiz des Fußballs liegt gerade in dieser Möglichkeit, die das Spiel möglichst bis zum Abpfiff offenhält. Und das wiegt schwerer als die vermeintliche Ungerechtigkeit, die darin für die eigentlich stärkere Mannschaft liegt. Je unberechenbarer, je spannender, je motivierter sind alle Beteiligten. Deshalb ist nichts so spannend wie Fußball. Außer Wirtschaft.