Ausblick auf den Herbst - Goethes Geist und systemische Beziehungsemergenz

Liebe:r Leser:in!


Als Auftakt zu Ihrem herbstlichen Lesevergnügen zum Anlass des 100. Jubiläumsgeburtstagsjahres von Paul Watzlawick 2021, habe ich wieder einmal die Menschliche Kommunikation von Watzlawick/Beavin/Jackson zur Hand genommen und in den begrifflichen Grundlagen geschmökert. Ein paar Aspekte daraus mögen unseren dritten und letzten Themenblock – wie gewohnt in Briefform – zum Thema „pragmatische Kommunikationswissenschaft“ einbegleiten.


Kontext-Konturen


Watzlawick/Beavin/Jackson beschreiben (MK I.I.) 1967 eine Untersuchung von Asch zum Einfluss von Gruppen auf Einzelindividuen. Ein Versuchsleiter versammelt in einem Stuhlkreis acht Studenten um sich, welche einer nach dem anderen anzugeben haben, welche von mehreren parallelen Linien (alle zugleich auf einer Reihe von Tafeln sichtbar gemacht) gleich lang waren. Sieben der Teilnehmer waren jedoch vorher instruiert worden, bei jeder Tafel einstimmig dieselbe falsche Antwort zu geben. Nur ein Student, die eigentliche Versuchsperson, war nicht eingeweiht und saß so, dass er als vorletzter an die Reihe kam, nachdem also sechs andere Studenten falsche Antwort gegeben hatten. Asch fand, dass unter diesen Umständen nur 25 Prozent der Versuchspersonen ihren eigenen Wahrnehmungen trauten, während 75 Prozent sich in einem kleineren oder größeren Grad der Mehrheitsmeinung unterwarfen, einige blindlings, andere mit beträchtlichen Angstgefühlen. Das [die drei Beispiele Füchse/Kaninchen, Engländerinnen und Amerikanische Soldaten und der Asch-Versuch] Beispiel zeigt, dass bestimmte Phänomen unerklärlich bleiben, solange sie nicht in genügend weitem Kontext gesehen werden. Im Asch-Experiment würde beispielsweise der Versuchsperson eine mehr oder weniger schwere Störung ihrer Wirklichkeitswahrnehmung zugeschrieben werden.


Immer noch erlebe ich – 2021 – dass breitere Kontext-Konturen oft nicht berücksichtigt wird, Menschen dingifiziert abgestempelt werden und Massendynamiken in den Sozialen Medien Menschen zu Aussagen und Verhalten verleiten, die Fake-Wirklichkeiten erzeugen. Ich denke, wenn wir das Gedankengut der Menschlichen Kommunikation teilen, finden wir oft Platz, eine Einladung zu dieser Sichtweise in die Welt zu bringen oder aufzufrischen.


Zur Frage der Relevanz heute – in der eigenen Praxis – wie sehen Ihre Beobachtungen dazu aus? Wie erleben Sie Beziehungsgestaltung und damit Gruppendynamiken? Wie ziehen Sie bei Beteiligten die System-Grenzen? Und wie erfolgt bei den Beteiligten die Interpunktionssetzung (siehe das 3. Axiom der menschlichen Kommunikation)? Oder die Bedeutungsgebung in unterschiedlichen Kontexten?


Pragmatik der Menschlichen Kommunikation


Die Menschliche Kommunikation widmet sich der Pragmatik. Dazu beziehen sich die Autoren auf die Einteilung nach Morris/Carnap – Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Jede Kommunikation beeinflusst das Verhalten der Teilnehmer, sie ist ihr pragmatischer Aspekt, wobei sie praktisch natürlich wechselseitig voneinander abhängig sind. Watzlawick zitiert F.H. George in seiner Aussage, dass die Syntax der mathematischen Logik entspräche, die Semantik der Philosophie oder der Wissenschaftslehre und die Pragmatik der Psychologie, doch die Gebiete nicht klar voneinander abgrenzbar sind.


Wechselwirkungen statt Isolierungen


Schließlich erläutern die Autoren, dass die „Phänomene, die in den Wechselwirkungen zwischen Organismen im weitesten Sinne des Wortes (Zellen, Organe, Organsysteme, komplexe elektronische Netze, Tiere, Personen, Familien, wirtschaftliche oder politische Systeme, Kulturen, Nationen usw.) auftreten, sich grundsätzlich und wesentlich von den Eigenschaften der beteiligten Einzelorganismen unterscheiden. Während diese Tatsache in der Biologie und den ihr verwandten Disziplinen unbestritten akzeptiert wird, fußt die menschliche Verhaltensforschung noch weitgehend auf monadischen Auffassungen von Individuen und auf der altehrwürdigen wissenschaftlichen Methode der Isolierung von Variablen. … Werden Verhaltensformen in künstlicher Isolierung gesehen [vgl. bspw. das 3. Axiom], so steht zwangsläufig die Frage nach der Natur dieser Zustände und damit im weiteren Sinne nach dem Wesen der menschlichen Seele im Vordergrund. Wenn aber die Grenzen dieser Untersuchung weit genug gestreckt werden, um die Wirkungen eines solchen Verhaltens auf andere, die Reaktionen dieser anderen und den Kontext, in dem all dies stattfindet, zu berücksichtigen, so verschiebt sich der Blickpunkt von der künstlich isolierten Monade auf die Beziehung zwischen den Einzelelementen größerer Systeme. Das Studium menschlichen Verhaltens wendet sich dann von unbeweisbaren Annahmen über die menschliche Natur des [Intra-]Psychischen den beobachtbaren Manifestationen menschlicher [inter-personaler] Beziehungen zu. Das Medium dieser Manifestationen ist die menschliche Kommunikation.“


Haben Sie es schon erlebt, dass die Person A in Beziehung mit dem Kollegen B („So unterwürfig, der A! Immer gibt er nach“) völlig anders reagiert als gegenüber dem Partner C („Immer will er Recht haben!“) oder dem Chef E („Der A packt den E voll mit dem Schmäh und kriegt alles von ihm!“) oder der Lebenspartnerin („Seine Frau hat daheim voll die Hosen an!“). Und jene Leser, die mit transverbaler Sprache arbeiten – sehen Sie Berührungspunkte? Was jeweils die Beziehung dazwischen angeht?


Die Beziehung als Neubildung – wie in Faust I


Watzlawick erläutert immer wieder in Vorträgen, dass die französischen Biologen der 1920er Jahre sie als erstes benannten, nämlich „la qualité emergente“ (zu deutsch bspw. „Neubildung“), also die heraussteigende Eigenschaft. Um die für manche ungewohnte oder schwierige Idee dieser Beziehungsform, die als eigenständiges Drittes zwischen zwei Personen entsteht, darzustellen, verwendet Watzlawick oft den Moiré-Effekt, wie im Büchlein Die Lösung ist immer der beste Fehler veranschaulicht. Und er bringt oft zwei mE anschauliche Beispiele: das Wasser – die physikalische Eigenschaft des Wassers wird man nie verstehen, wenn man getrennt Wasserstoff und Sauerstoff untersucht, denn Wasser ist eine Beziehungsstruktur zwischen diesen beiden. Erst die Beziehung ergibt das Phänomen Wasser. Oder wie Goethe es in „Faust I“ beschreibt: „Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt, leider! nur das geistige Band.“


In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen inspirierenden Herbst mit dem zu folgenden Briefe-Austausch im Zweiwochentakt!


Andrea Köhler-Ludescher


Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/