Nichtwissen

engl. not knowing. Die Expertise, die notwendig ist, um professionelle Hilfe (Helfen) nützlich zu gestalten, lässt sich unterteilen in die Expertise des Wissens und die Expertise des Nichtwissens. Im Falle eines Sozialarbeiters oder eines Organisationsberaters ist die Expertise das Wissen, das fachspezifische Wissen, das für den jeweiligen Fall notwendig ist: etwa Kenntnisse über rechtliche, soziale und politische Rahmenbedingungen, Wissen über institutionelle Ressourcen, Wissen über Organisationen u. v. a. Unter der Expertise des Nichtwissens verstehen wir die Kompetenz des professionellen Helfers oder Beraters, den Hilfeprozess gemeinsam mit dem Klienten zu steuern.


Lineare Interventionen mit gesicherten Auswirkungen sind nicht möglich – weder auf der Ebene der Person noch auf der Ebene von Sozialsystemen. Mit der Expertise des Nichtwissens kennt der Helfer oder Berater (Beratung) diese und andere Ungewissheiten, und sein Handeln ist paradoxerweise oder gerade deshalb oft verblüffend einfach und hoch wirksam. Die Expertise des Nichtwissens führt dazu, mit den Klienten und Systemen zu arbeiten und nicht gegen sie. Dabei nutzen und unterstützen professionelle Berater Eigensinn, Eigenwillen und Eigenart der Klienten und der Systeme so weit wie möglich. Die Expertise des Nichtwissens gründet sich einerseits auf Grundannahmen und Haltungen und andererseits auf Wissen und Fertigkeiten wie Gesprächsführungstechniken, aber auch Erfahrungen und Wissen über Designs und Architektur von Hilfeprozessen. Diese technische Ebene operationalisiert die Grundannahmen und Haltungen. In der Aus- und Weiterbildung kann das Üben von Techniken helfen, die dahinter stehenden Haltungen besser zu verstehen und sie sich anzueignen. Mithilfe der Expertise des Nichtwissens lässt sich der Berater auf den Bezugsrahmen des Klienten ein: Es wird davon ausgegangen, dass die Klienten subjektiv gute Gründe haben für das Verhalten, das sie zeigen. Gerade wenn der Berater das Verhalten des Klienten nicht versteht, kann er interessiert und neugierig fragen: »Sie müssen gute Gründe dafür haben, dass Sie das so tun (oder so sehen)?« Die Haltung des Nichtwissens hilft, dem hierarchischen Gefälle (Schein 2009), das einer Klienten-Helfer-Interaktion (Interaktion) implizit ist, entgegenzuwirken: Der professionelle Helfer wird vom Klienten als Experte angesehen, unabhängig davon, wie dieser sich selbst sieht. Die Expertise des Nichtwissens hilft dem Helfer, den Klienten als jemanden anzusehen, der mit Ressourcen, Selbstheilungspotenzialen und Veränderungskräften ausgestattet ist. Dies führt dazu, dass der Klient sich und den Berater verändert wahrnimmt. Insofern dient die Expertise des Nichtwissens nicht nur dazu, den Bezugsrahmen zu ergründen, sondern gemeinsam mit den Klienten auch einen veränderten Bezugsrahmen zu entwickeln. Indem der Helfer Fragen stellt, gezielt und ressourcenorientiert zuhört, die Ziele des Klienten exploriert, verändern die Klienten ihren Bezugsrahmen und ihre Selbstwahrnehmung selbst.


Durch die Expertise des Nichtwissens wird das Arbeitsbündnis verbessert, das den größten Wirkfaktor professioneller Interventionen darstellt (vgl. Duncan et al. 2000, S. 35). Außerdem wird ein weiterer wichtiger Wirkfaktor unterstützt: Der Klient erlebt den Helfer als kompetent (ebd., p. 37). Die Expertise des Nichtwissens dient im Prozess der Hilfe dazu, die Übergänge und den Wechsel zwischen Handlungsprogrammen (wie z. B.: an Zielen arbeiten, Informationen geben, anwaltschaftlich handeln für den Klienten) zu steuern. Anzeichen von Widerstand oder als mangelnde Kooperationsbereitschaft erlebtes Verhaltenen zeigt dem Helfer, dass ein Wechsel in die Expertise des Nichtwissens erforderlich dafür ist, die »guten Gründe« zu erkunden und neuerlich Ziele und Vorgangsweisen zu verhandeln (Auftrag; Auftragskarussell). Die Expertise des Nichtwissens ist geprägt von großer Neugierde. Die Neugierde bezieht sich weniger auf die Ursachen von Problemen als vielmehr auf das, was der Klient für sich als wichtig ansieht, die Neugierde bezieht sich auch darauf, was das Leidvolle ist, wenn das für einen Klienten wichtig ist. Die Neugierde des professionellen Begleiters bezieht sich vor allem auch auf die Potenziale und Stärken, auf die Ideen, wie Veränderung erfolgen kann, auf die Ziele – auf die Bilder einer erwünschten Zukunft, die der Klient entwirft, und darauf, welche Bewältigungsstrategien er für schwierige Situationen entwickelt hat und entwickelt.


Die Haltung des Nichtwissens bedeutet nicht, dass nicht strategisch interveniert wird: In jeder Interaktionssequenz kann der Helfer die Gelegenheit nutzen, Stärken und Ressourcen wertzuschätzen und Aspekte der Situation aufzugreifen, die bereits in die vom Klienten gewünschte Richtung gehen. Die Haltung des Nichtwissens entspricht einem induktiven oder abduktiven Vorgehen, ist eine Operationalisierung von Empowerment und bildet ein Gegenmodell zum medizinischen Modell, bei dem deduktiv vorgegangen wird und dem die Annahme zugrunde liegt, dass der professionelle Helfer das Wissen zum Klienten bringen muss bzw. er besser als der Klient weiß, welche Hilfe erforderlich ist (De Jong u. Berg 1998, S. 27 ff.; Kunstreich 2001, S. 299 ff.). Die Haltung des Nichtwissens wird mithilfe sprachlicher Werkzeuge operationalisiert – sie unterstützen die Klienten dabei, Wissen zu generieren und einzubringen. Werkzeuge der Expertise des Nichtwissens sind offene Fragen, die Wunderfrage, Fragen zum Zweck des Skalierens, Fragen nach den Ideen und Vorstellungen der Klienten und ihre Wertschätzung, das Fokussieren auf Ressourcen und bereits Gelungenes, Fragen nach den Zielen, Fragen nach dem Wie (wie die Klienten etwas tun werden oder erreicht haben), relationale (Beziehungs-)Fragen.


Viele Ansätze und Konzepte nutzen die Expertise des Nichtwissens für ihre Arbeit – einige Beispiele: Familienrat, aktivierende Befragung, Salutogenese, Recovery (Amering u. Schmolke 2010), hypnosystemische Therapie, Validation, T-Gruppen in der Gruppendynamik, Appreciative Inquiry, systemisch-lösungsfokussierter Ansatz (de Shazer u. Dolan 2008), CDOI-Clinical Work (Duncan et al. 2000), Open Space Technology, aktivierende Pflege, AufstellungenCase Management, Signs of Safety für die Jugendwohlfahrt nach Turnell (Turnell a. Edwards 1999; Turnell a. Essex 2008), Brügger Modell der Alkoholismusbehandlung (Isebaert et al. 2005) etc.


Verwendete Literatur


De Jong, Peter u. Insoo Kim Berg (1998): Lösungen (er)finden. Das Werkstattbuch der lösungsorientierten Kurztherapie. Dortmund (Modernes Lernen).


Duncan, Barry L., Scott D. Miller a. Jacqueline Sparks (2000): The heroic client: A revolutionary way to improve effectiveness through client-directed, outcome-informed therapy. San Francisco (Jossey-Bass).


Gaiswinkler, Wolfgang a. Marianne Roessler (2009): Using the expertise of knowing and the expertise of notknowing to support processes of empowerment in social work practice. Journal of Social Work Practice 23. Verfügbar unter: http://www.netzwerk-ost.at/publikationen/pdf/using_the_expertise_of_knowing_and_the_expertise_of_not_knowing.pdf [27.12.2011].


Isebaert, Luc et. al. (2005): Kurzzeittherapie – Ein praktisches Handbuch. Stuttgart (Thieme).


Kunstreich, Tim (2001): Grundkurs Soziale Arbeit Bd. II. Bielefeld (Kleine).


Schein, Edgar H. (2009): Helping. San Francisco (Berrett-Koehler).


Weiterführende Literatur


Amering, Michaela u. Margit Schmolke (2010): Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn (Psychiatrie).


de Shazer, Steve u. Yvonne Dolan (2008): Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg (Carl-Auer), 2. Aufl. 2011.


Turnell, Andrew a. Steve Edwards (1999): Signs of safety: A solution and safety oriented approach to child protection. New York (Norton).


Turnell, Andrew a. Susie Essex (2008): Working with denied child abuse: The resolution approach. Berkshire (Open University Press).