Emergenzfelder und „Das Muster das verbindet“

Auf seiner Website Mimesis entwickelt der Sozialwissenschaftler Franz Friczewski Fragen und Ideen zum "Muster das verbindet" (G. Bateson), die sich lohnen durchdacht zu werden.
In der Vergangenheit durfte ich daran häufiger schon teilnehmen und möchte daher jetzt einen Beitrag zu wichtigen Begriffen in diesem Kontext liefern.

 

Während insbesondere auf Linkedin immer mehr Menschen darüber nachdenken, wie sie andere noch besser manipulieren können und man sich in den Medien und Social Media immer weniger dialogisch verbindend mit den großen und kleinen Themen von heute auseinander setzt, gehen große Fragen der Vergangenheit unter oder gar verloren.

 

Dazu gehört darüber nachzudenken, wer wir eigentlich sind, wo wir herkommen, oder, noch besser, wie wir funktionieren und was eben dieses „Muster das verbindet“, von dem Friczewski spricht, „sein“ könnte. Sind wir das Universum, das sich seiner selbst bewusst wird?

 

Über drei Emergenzfelder schreibe ich Ihnen dazu etwas über drei Begriffe, die dabei helfen, ein bisschen tiefer vorzudringen, ein bisschen mehr darüber zu lernen, woher wir kommen:

 


Entscheiden, Unterscheiden, Kontrollieren

 

Ich lege sie gleich, um es übersichtlich zu machen, in einer Tabelle an, anschließend fülle ich sie Ihnen auf:

 

Emergenzfeld 1

Emergenzfeld 2

Emergenzfeld 3

Entscheiden

Unterscheiden

Kontrollieren

Allopoietisch

Autopoietisch

Systemisch

 


Die meisten werden, wenn sie dazu befragt werden, was sie unter „Entscheiden“ verstehen, eher bei „Kontrollieren“ herauskommen, nämlich dass sie „Entscheiden“ zum Beispiel als etwas begreifen, das Bewusstsein voraussetzt, als etwas, wo reflektiert wird:

 

„Nehme ich den grünen oder den roten Apfel?“, „Kaufe ich die Cordhose oder doch lieber die Jeans?“, „Nehme ich den Fahrstuhl oder doch lieber die Treppe?“

Oder komplexer: „Programmieren wir das in C oder bekommen wir da später Probleme mit neuen Leuten, die damit nicht umgehen können?“, „Können wir unseren Teams momentan Selbstorganisieren überhaupt zutrauen oder werden wir uns dabei nicht eher Systeme einkaufen, in denen höheres Komplexitätsmanagement unterdrückt wird, so dass wir jetzt doch besser mehr mit Hierarchien arbeiten sollten?“

 

Darüber setzt man die Referenz zu entscheiden allerdings sehr hoch an.

Dann könnten Automaten nichts entscheiden.

 

Doch, wenn Entscheiden erst einmal nur bedeutet, Prozesse anzustoßen und zu prozessieren, lege ich den Begriff deutlich tiefer an und kann darüber dann Phänomene mit einbeziehen, die ich sonst nicht einbeziehen könnte.

Und ich lege damit einen Begriff an, den ich klar von Unterscheiden und Kontrollieren unterscheiden kann und der nach hinten und nach vorn kybernetisch und systemtheoretisch anschlussfähig ist:

 


Entscheiden bedeutet, Prozesse anzustoßen und zu prozessieren.

 

Ebbe und Flut, Stürme, Software entscheiden. Aber, sie unterscheiden nicht.

 

Entscheiden braucht kein lebendes System. Allopoietische Systeme entscheiden.

Entscheidungssysteme müssen sich ihrer selbst und ihrer Entscheidungen nicht bewusst sein.

Entscheidungssysteme können in Emergenzfeldern niederer Komplexität existieren, die ihnen zu unterscheiden nicht ermöglichen.

 


In autopoietischen Emergenzfeldern evolviert Kognition.

Unterscheiden benötigt Kognitionsfähigkeit. Entscheiden nicht.

 


In unserer noch kleineren Geschichte der Zeit fällt der Urknall Entscheidungen, ohne zu wissen, was er macht. Er emergiert einfach. Bang.

Wir hingegen als Beobachter können seine Entscheidungen beschreiben.

Und damit können wir, in der Hoffnung, darüber Zukunft zu gestalten, unterscheiden.

 

Ich benötige Kognitionsfähigkeit, um unterscheiden zu können, um eine Relation mindestens zweier nicht gleicher Phänomene zu formen.

Ich muss unterscheiden können, um Entscheiden beobachten zu können, aber Etwas muss nicht unterscheiden können, um zu entscheiden.

 

Das heißt: Entscheidungssysteme müssen nicht dazu in der Lage sein, ihr eigenes Entscheiden unterscheiden zu können.

Dafür benötige ich Kognition.

 

Ich kann einen Automaten bauen, der Entscheidungen fällt, aber kann ich auch einen Automaten bauen, der unterscheiden kann?

Das ist die Frage auf den Punkt gebracht, die sich diejenigen stellen, die Künstliche Intelligenz bauen wollen, über die wir am Ende vielleicht sogar nicht mehr entscheiden können, ob sie bewusst ist oder nicht.

 

Heutzutage können wir bislang nur Automaten bauen, die uns den Eindruck vermitteln, dass sie unterscheidungsfähig sind, aber wenn wir genauer hinsehen, müssen wir doch zugeben: Sie sind nur entscheidungsfähig, denn:

 

Wir können in sie hineingreifen und sie bauen.

Sie entwickeln sich nicht im autopoietischen Emergenzfeld.

 

Gehen wir davon aus, dass Stürme und andere Naturphänomene, in die wir nicht hineingreifen können, wie das Wetter, Entscheidungen fällen, nicht aber unterscheidungsfähig sind, dann muss das natürlich für Computerprogramme, die wir manipulieren können, erst recht gelten.

 

Das ist der wichtige Unterschied.

So unterscheiden wir Unterscheiden von Entscheiden.

So können wir zwischen Amöben und Steinen unterscheiden, denn Steine können zwar zu Entscheidungen beitragen, aber sie organisieren sie nicht.

 


Lebenden Systemen wird ihre Entscheidungsfähigkeit klar

 


Das sehen wir auch nicht erst seit gestern so.

Sprüche wie alea iacta est zeigen das.

Sie wurden natürlich häufig mit Schicksalsbegriffen gekoppelt, weil vielen nicht klar war, dass sie Entscheiden mit Kontrollieren verwechseln – irgend jemand musste dafür verantwortlich sein.

In Japan und vielen alten Kulturen haben allopoietische Systeme, also Systeme, die sich nicht selbst reproduzieren können, eine Seele: Sie fällen Entscheidungen, welches Dorf sie (der Sturm zum Beispiel) überfallen, ob sich das Meer die Seefahrenden holt oder nicht.

 

Wenn ich darüber nachdenke, wo Entscheiden eigentlich angelegt ist, müsste ich antworten: „Im Universum!“.

Doch der Anlage-Begriff stammt aus der Biologie, also kann ich ihn in diesem Zusammenhang nicht nutzen.

 


Ich trenne Entscheiden und Unterscheiden durch Emergenzfelder

 


Emergenz bedeutet, eine andere Komplexität wird (re)produziert.

 

Emergenz ist ein natürliches Phänomen, und sie ist überall.

Wasser wird bei hinreichender Kälte zu Eis, bei hinreichender Wärme zu Gas.

Der Schwarm von Heringen macht es mit seiner schillernden Oberfläche dem Raubfisch schwerer, den einzelnen Fisch zu isolieren. Dem einzelnen Fisch hingegen nutzt seine schillernde Oberfläche allein gar nichts. Erst im Schwarm erfüllt sie ihre Funktion.

 

Wir sind heute in eine emergente Ära – Wirklichkeitsemulation – eingetreten, in der wir plötzlich damit konfrontiert sind, dass Maschinen mit uns zusammen Wirklichkeit emulieren. Das wiederum führt dazu, dass viele nicht mehr wissen, wie sie faktenbasiert und wissenschaftlich denken können, denn zum Beispiel füttern die Youtube-Programme mit immer den gleichen Geschmacksrichtungen die Vorstellung, Welt sei so, wie es dieser einzelne beispielsweise ideologische Tunnel vorgaukelt.

 

Wenn sich viele Entscheidungen zusammenklumpen kann, es dieses „Bang“ oder „Plopp“ der Emergenz geben, und plötzlich taucht Unterscheiden auf und damit Kognition. Das System hat seinen reproduktiven Zyklus geschlossen, eine Grenze geformt und beginnt, sich von Umwelt zu unterscheiden und dann auch Umwelt von Umwelt und sich von sich.

 

Amöben können entscheiden und unterscheiden, aber sie beginnen gerade erst zu versuchen zu kontrollieren.

 


In diesem Versuch zu kontrollieren, indem Operationen operiert werden, beginnt das systemische Emergenzfeld.

 


Und im systemischen Emergenzfeld emergiert das Interesse an Zielen und das Experiment, ob sie mittels Kontrolle erreicht werden können:

den Baum hochzuklettern, um an die Früchte ranzukommen, Nester zu bauen, um es in der Nacht wärmer und bequemer und sicherer zu haben, Vorräte anzulegen, um im Winter gut versorgt zu sein, und, mit dem Menschen:

Pläne zu entwickeln, um Ziele zu erreichen, wie im kontrollierten Zusammenwirken der Phalanx den unkontrollierten Ansturm der barbarischen Horden aufzubrechen und die Schlacht zu gewinnen,
oder Organisationsmodelle auszuarbeiten, um höhere Kommunikationskomplexitäten zu organisieren ...

- wo uns spätestens auffallen kann, dass zielbezogene Kontrolle nur Orientieren auf Ziele sein kann. Kontrolle verliert, je präziser sie versucht sich zu gestalten, die Kontrolle über sich selbst.

 

Im systemischen Emergenzfeld entwickeln wir unsere Analyse des Musters das verbindet.

Im Urmatsch wird zwar jede Menge entschieden, aber es gibt kein Operationen operierendes Bewusstsein.

 

Suchen wir nach einem Muster das verbindet, wie Franz Friczewski das tut, dann ist es dieses simpelste, aber doch hoch komplexe Muster, das ermöglicht, Selektionen vorzunehmen, und dazu gehört das hier:

 


Das Muster das verbindet ist Konstituieren von Einheit.

 


Es ist diese Fähigkeit unterscheidungsfähiger und damit kognitionsfähiger Systeme, Phänomene als Einheiten zu fassen und damit umzugehen – und das selbst dann, wenn sie im ontischen Sinn gar keine sind.

Es ist die Fähigkeit, mit Paradoxien zu jonglieren und sich darüber hinwegzusetzen, dass die Natur uns keine Einheit zur Verfügung stellt.

 

Das ist, was in diesem dritten Emergenzfeld passiert.

 

Ohne diese Fähigkeit kann der Tiger die Gazelle nicht ausmachen.

Ohne sie könnten wir keine Speere herstellen und erst recht nicht so etwas wie diesen hoch komplexen und komplizierten Einheitsmeter erfinden, den wir erfunden haben.

So entwickelt sich die komplexe, lichtempfindliche Zelle zum Auge.

Wozu? Um fokussieren zu können. So zumindest der gemutmaßte Plan ...

 

Dafür ist Differenzierungsfähigkeit erforderlich.
Dafür müssen Dimensionen angelegt werden können.

 

So bauen wir Autos, Computer, entwickeln Mathematik, Philosophie und Kunst und wurden so vom Universum hervorgebracht und verfügen nun über die Fähigkeit, es zu beobachten und zu erschaffen, indem wir Einheiten schaffen und sie relationieren:

Das Muster, das verbindet ...

 


Mehr:

Davor: Humberto Maturana - Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit

Danach: Ralf Peyn - uFORM iFORM https://www.uformiform.info

und: Ralf Peyn - eigenFORM