Quo Vadis Postmoderne?

"Die Philosophen, d.h. die Sinnkonstrukteure und Weltbildagenten haben die Welt nur verschieden verändert. Es kommt darauf an, sie zu schonen."


Dietmar Kamper (Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper. München: Fink, 1999, S. 29).


 


„Postmoderne“ ist ein schillernder Begriff, der insbesondere in den 1980er und 90er Jahren in den Sozialwissenschaften Furore machte. Ausgehend von der Diagnose des französischen Philosophen Jean-François Lyotard,[i] dass die großen Metaerzählungen der Moderne ihre Glaubwürdigkeit verlieren (Hermeneutik des Sinns, Dialektik des Wissens und der Geschichte sowie Emanzipation des Subjekts) und nun viele kleine Erzählungen populär werden, wurde die Postmoderne von vielen als Befreiung gefeiert. Allerdings erscheint dies als Verkürzung. Denn postmodernes Denken endet nicht in einer positiven Vision, sondern in einer Diagnose von Ambivalenzen, von Gleichzeitigkeiten des Gegensätzlichen.[ii] Dies wird bereits deutlich, wenn wir uns anschauen, in welcher Weise die drei benannten Metaerzählungen ihre Glaubwürdigkeit einbüßen.


Dass die modernen Metaerzählungen verebben, zeigt sich durch drei Dekonstruktionen, die Ambivalenzen zum Vorschein bringen, nämlich


- erstens durch die Dekonstruktion der Hermeneutik: dass wir den Sinn dessen, was immer wir gerade in der Welt (ob Biologisches, Psychisches oder Soziales) interpretieren, niemals gänzlich und abschließend erfassen können, sondern dass sich der Sinn wie ein Horizont verschiebt, wenn wir ihn zu erreichen suchen (Ambivalenz des Interpretierens),


- zweitens durch die Dekonstruktion der Dialektik: dass das Wissen zwar zunimmt und die Geschichte zwar voranschreitet, aber niemals an einer letzten Synthesestufe des Absoluten, Besten, Vollständigen oder Ganzen ankommt, sondern immer wieder erneut in Widersprüche und Gegenbewegungen gerät (Ambivalenz des Fortschritts) und


- drittens durch die Dekonstruktion der Emanzipation: dass sich das Subjekt des menschlichen Lebens oder der sozialen Geschichte niemals gänzlich aus seinen Verstrickungen und Abhängigkeiten befreien kann, sondern dass jede Befreiung mit neuen Einschränkungen einhergeht (Ambivalenz der Befreiung).


Angesichts dieser ernüchternden Diagnose der philosophischen Postmoderne sollten wir uns hüten, dem aktuellen Aufblühen von zahlreichen kleinen Erzählungen, die um den Status von neuen Metaerzählungen ringen, zu sehr aufzusitzen; dazu drei Beispiele:


Erstens – Corona: Der politische, wissenschaftliche, mediale und juristische Umgang mit Corona hat gezeigt, was geschieht, wenn die Hermeneutik des Sinns nicht die Ambivalenz des Interpretierens in Rechnung stellt, und von maßgeblichen Akteuren der benannten gesellschaftlichen Bereiche tatsächlich geglaubt wird, dass es nur eine Sicht auf die Realität gibt und daher alle anderen Perspektiven auszublenden sind. Zahlreiche Kollateralschäden der Pandemiemaßnahmen (etwa ausgelöst von undifferenzierten Lockdowns, Kita- und Schulschließungen oder völlig neuartigen Exklusions-/Inklusionsregeln angesichts körperlich-medizinischer Merkmale, wie etwa Test- und Impfpflichten) hätten vermutlich vermieden werden können, wenn die Vielfalt der relevanten Stimmen in der Interpretation des pandemischen Geschehens so gehört worden wäre, dass sich daran politische und juristische Entscheidungen hätten orientieren können. Gerade in Krisen brauchen wir unterschiedsgesättigte Diskurse, die zunächst die biopsychosoziale Komplexität einblenden, bevor davon ausgehend zu verantwortende Entscheidungen getroffen werden.


Zweitens – gesellschaftliche Transformation: Mit den anhaltenden Versuchen, die Gesellschaft nach vorgegebenen Plänen und Maßgaben zielgerichtet und zentralistisch, etwa durch politische Programme, hin auf bessere Zustände verändern zu wollen, wird die Hybris dieses Unterfangens übersehen. Der Glaube, der einer solchen Gesellschaftsklempnerei zugrunde liegt, ist naiv und sitzt den Illusionen auf, die etwa die sozialistischen Staaten im 20. Jahrhundert hatten und damit fulminant scheiterten. Die Gesellschaft zum Guten hin zu verändern, hat in diesen Ländern nicht selten das Gegenteil bewirkt, also das Schlechte gestärkt. Gesellschaft entwickelt sich gerade durch das Aufeinanderprallen der vielen kleinen und großen Widersprüche zwar dialektisch, aber eben nicht dem einen großen schönen Ziel zu. Sie bleibt in sich fragmentarisch, unvollkommen und unfertig. Die Gesellschaft „fertig“ machen zu wollen, zerstört sie schlimmstenfalls. Daher ist das Blühen und Aushalten von sozialer Pluralität, Dezentralität und Regionalität wichtig, die sich gerade nicht einem vor- oder übergeordneten singulären Schema fügen.


Drittens – biotechnologische Befreiung aus körperlichen Begrenzungen: Wenn die Menschheit intendiert, sich zunehmend auch aus körperlichen Restriktionen zu emanzipieren, indem sie beispielsweise versucht, das Altern aufzuhalten, dem biologischen Geschlecht zu entfliehen oder die menschliche Physis und Genetik nach eigenen konstruierten Modellen zu perfektionieren, liegt dieser Idee nicht nur die Hybris der Machbarkeit zugrunde, sondern auch das Absehen von evolutionär entstandener Komplexität. Die Befreiung aus der möglicherweise als Entfremdung erfahrenen körperlichen Realität wird durch eine neue Entfremdung erkauft, nämlich durch die Ablehnung der biologisch wie sozial-kulturell geformten Gewordenheit des Menschen. Die problematischen Folgen, die aus diesem Prozess resultieren könnten, sind aufgrund der dadurch angestoßenen Veränderungen im Gefüge biopsychosozialer Komplexität nicht im Geringsten absehbar.


Wohin geht also die Postmoderne?  


Wenn wir die Postmoderne nach wie vor als präzise und kritische Antwort auf die Illusion der Moderne verstehen, die Welt nach vermeintlich rationalen (hermeneutischen, dialektischen und emanzipatorischen) Konstrukten verändern zu wollen, dann ist der Weg dieses sozialphilosophischen Reflexionsprogramms weiterhin, gesellschaftliche Entwicklungen wach zu beobachten und diese mit ihren ausgeblendeten Ambivalenzen zu konfrontieren. Genau dies scheint heute nötiger denn je. Denn die Kosten einseitiger Auslegungen der Hermeneutik, der Dialektik und der Emanzipation sind möglicherweise so hoch wie lange nicht mehr in die Geschichte der Menschheit.


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[i] Jean-François Lyotard (1979): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen (1994).


[ii] Siehe etwa grundsätzlich dazu sowie am Beispiel der Sozialen Arbeit vorgeführt: Heiko Kleve (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Wiesbaden: Springer VS. Oder auch: Heiko Kleve (2007): Ambivalenz, System und Erfolg, Provokationen postmoderner Sozialarbeit. Heidelberg: Carl Auer.