Kann man „Kairos“ lernen?

Kairos: so haben die Philosophen aus dem antiken Griechenland den besonderen Moment, den rechten Zeitpunkt zum Ergreifen einer günstigen Gelegenheit genannt. Und wie das bei den alten Griechen üblich war, haben sie dazu einen Gott erschaffen. Dieser ist glatzköpfig mit einem blonden Schopf – die gute Gelegenheit, die es zu packen gilt.


Nur: wie erkennt man die magischen Momente, in denen es heißt: Jetzt oder nie?


Ist Kairos ein Geschenk, sozusagen „gottgegeben“, oder kann man ihn aktiv anstreben? Fakt ist, dass es Menschen und Organisationen gibt, die mehr Erfahrung und Erfolg im Ergreifen günstiger Gelegenheiten haben als andere. Man denke nur an den Aufstieg von Apple, Google und Amazon. Oder an den „Eisbären“, den pensionierten Lehrer, der sein Vermögen mit Spekulationen an der Börse in nur einem halben Jahr vervierfachte. Wahre Kairos-Künstler? Die Antwort ist wie so oft: ja und nein.


Es geht um Entscheidungskompetenz.


Dem besonderen Augenblick Kairos wohnt sicherlich etwas von Mystik, Glück und Magie inne. Die Kunst liegt nicht nur darin, Kairos zu ergreifen, sondern die günstige Gelegenheit überhaupt wahrzunehmen. Kairos ist vor allem eine Kompetenz beim Entscheiden, die nicht vom Himmel fällt, sondern gelernt und geübt sein will. Beim Tiefenblick auf die Erfolgsstorys dieser Welt wird schnell ersichtlich, dass die Gelegenheit selbst nur ein kleiner Teil des Ganzen ist: Nur wer sich intensiv mit den Chancen der Entscheidung beschäftigt, kann sie auch ergreifen. Dazu gehören fundierte Kenntnisse, ein diszipliniertes Üben und Trainieren ebenso wie die bewusste Auseinandersetzung mit den Gefahren, einem möglichen Scheitern und dem Umgang damit – das sind die Faktoren, die aus der Gelegenheit ein florierendes Geschäft machen. So hat auch der Eisbär 30 Jahre lang trainiert, Gelegenheiten an der Börse zu erkennen und ein System zu entwickeln, das Gefahren und Scheitern mitberücksichtigt, bevor sich der Erfolg einstellte. Und bei Apple, Google und Amazon ist der Erfolg ebenfalls nicht über Nacht gekommen.


Übung macht den Meister – das alleine macht die Kairos-Kompetenz noch nicht aus.


Selbsterkenntnis, das Bewusstsein für die eigenen Überzeugungen und Werte, ist ebenfalls wesentlich, um im offensichtlichen Glücksfall die gute Gelegenheit zu erkennen. Das zeigen die Erfahrungen von Lottogewinnern, denen der Millionensegen zunächst zur Last fiel. Damit der Lottogewinn zur Freude wird, muss der Geldsegen zur Identität, zum eigenen Lebenssinn passen. Dafür muss ich wissen, wer ich bin und wie ich ticke.


Nach welchen Mustern entscheide ich?


Sich mit dieser Frage nach dem eigenen Entscheidungsverhalten auseinanderzusetzen lohnt sich. Wer sich seiner eigenen Sicherheitsmotive bewusst ist, wer die eigenen Potenziale und Grenzen beim Entscheiden kennt, kommt dem Kairos näher, schafft sich neue Denk- und Freiräume. Je mehr und besser wir verstehen, welche Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen wir beim Entscheiden haben, desto besser sind wir in der Lage, aus dem Warten auf die eine magische Gelegenheit ein aktives Suchen nach den vielen günstigen Momenten zu machen, die entscheidend gestaltet werden können.