Gesang der Schnecke

Gesang der Schnecke
Wald Dialoge: Das tätige Handeln


Als Teil des Lehrteams begleite ich hier im Wald der Rigi 1 eine Gruppe von Frauen und Männern aus Deutschland und der Schweiz, die sich weiterbilden: in Natur-Dialog Beratung und Systemischer Naturtherapie. Wir arbeiten vier Tage lang unter freiem Himmel, schlafen, essen, kochen und leben hier gemeinsam. Zu diesem «Gemeinsam» gehört im natur-dialogischen Setting immer auch der Raum in seinen unterschiedlichen Naturqualitäten, gehören auch mehr-als-menschliche Lebewesen und interessieren wir uns für jene Phänomene, die sich sympoietisch zu einem Resonanzgeschehen verbinden wollen.


In den zwei Tagen, die wir bereits hier auf der Rigi verbracht haben, erzählt Dominic immer wieder begeistert von den vielen unterschiedlichen Vögeln und ihren Gesängen hier. Er kennt und erkennt sie, sogar jene, deren Namen die meisten von uns noch nicht einmal gehört habe. An diesem Morgen jedoch ist seine «Geschichte aus der Nacht» von einem gewissen Stirnrunzeln begleitet: «Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht durch ein seltsames Geräusch. Ein Geräusch, dass ich noch nie gehört habe, und ich war mir sicher da ist etwas in meinem Schlafsack drin. Es hat mich geweckt und irgendwie für einen Moment auch beunruhigt, dieses knack…knack…knack.»


Wir lauschen gespannt während vor uns das Feuer knistert und rundum das bekannte, bunte Vogelkonzert der Rigi ertönt. «Schlussendlich war es…eine Schnecke die direkt bei meinem Ohr innen am Nylon des Schlafsacks geknabbert hat – als wäre es ein Blatt! Unglaublich!», ist Dominic erstaunt, fast schon empört: «Schnecken sind ja jetzt schon eher eklige Tiere, draussen am Schlafsack ok, das kann es mal geben - aber drin muss jetzt echt nicht sein.»


Im Feuerkreis-Dialog (vgl. Kreszmeier, Natur-Dialoge, 2021, S. 148f) den wir an diesem Morgen führen, greift mein Kollege Philippe Crameri die Begebenheit auf. «Jetzt bist Du so vertraut mit all den Geräuschen und Tieren der Luft und so neu und erstaunlich sind die Klänge und Lebewesen der Erde, wie eine völlig fremde oder neue Welt. Ist das nicht interessant?»


Der «Gesang» der Schnecke und die damit verbundenen Dialoge bewegen Dominic. Auf ganz sanfte, freundliche Art regen Natur-Dialoge Perspektivenwechsel und neue Möglichkeiten an. Wie bin ich mit der Welt verbunden? Was ist mir vertraut, wo will etwas Neues entdeckt sein, welche Elemente sind mir Heimat und mit welchen will sich eine neue Freundschaft anbahnen? Dominic befindet sich aktuell in einer Phase beruflicher Neuorientierung. Nach Jahren im luftigen Reisebusiness sehnt es ihn nach einer nachhaltigen, erdverbundenen Arbeit. Tätiges Handeln, konkretes elementares Tun, sinnhaftes, zirkuläres eingebettet sein in einen Beruf oder eine Aufgabe gehören aus natur-dialogischer Sicht zum Element Erde. Während die Luft in ihrer Weisheit eher der Sprache, der Organisation und der Kommunikation verbunden ist, nährt unsere Beziehung zu Erdqualitäten Prinzipien von Ordnung, Sinn und Handlung. «Die Erde ist … jenes Element, das sich am besten berühren, ergreifen und sinnlich erfassen lässt. Oft führt die Erfahrung von Erde in einer neuen Art an die Bedeutung der Hände oder, allgemeiner, an jene von Handlung im Sinne dessen, was man mit den Händen tut, heran» schreibt Astrid Habiba Kreszmeier in Ihrem Buch Systemische Naturtherapie (Kreszmeier, 2012 S. 158f).


Welchen Impuls oder Unterschied diese neue Perspektive für Dominic machen wird, weiss ich nicht genau. Bestimmt ist es jedoch eine andere Qualität, auf berufliche Fragen mit einer luftigen Perspektive, vielleicht auch davonfliegend und zwitschernd zu schauen, als schleichend, kriechend, nah dem Boden und in handelndem, friedlichem Kontakt mit Erdwesen und ihrem Raum unterwegs zu sein.


In der nächsten «Morgenpost» meldet sich Dominic zu Wort. Wieder wirkt er erstaunt, diesmal aber mit einem Lächeln im Gesicht. Er habe den Schnecken gestern Abend vor dem Einschlafen noch mitgeteilt, dass es ok sei, wenn sie es sich bei ihm draussen gemütlich machen, aber der Schlafsack gehöre ihm. Auf freundliche Art und Weise habe er um eine Art Koexistenz gebeten. Um abermals in der Nacht geweckt zu werden. Diesmal jedoch fand er die Schnecke tatsächlich ausserhalb des Schlafsackes, auf der Matte neben ihm auf Kopfhöhe friedlich platziert. «Es war irgendwie rührend und ich konnte nur staunen, wie sauber sie da lag und gewissermassen meiner Bitte gefolgt war. Etwas in mir konnte Frieden schliessen mit diesen, manchmal ja echt auch gruseligen Erdwesen und durch diese ganz konkrete kleine Erfahrung ist eine Tür aufgegangen, wie ich mit diesem Leben in Kontakt kommen kann.


Unser «Waldmodul» hier auf der Rigi steht unter dem Titel Zusammenleben. Im Sinne des sympoietischen Ansatzes interessieren wir uns für das ständige, wechselseitige und lebendige Zusammenspiel und Mit-Kreieren zwischen Menschen und der vorhandenen Natur. Wir lassen darin sinnhafte Geschichten auftauchen und wieder davonziehen. In der Schlussrunde am Waldrand führt Dominic die Dialoge mit Schnecke und Erde fort, als er, mit staunendem und lächelndem Gesicht erzählt wie sehr ihn dieser Boden mit all seinen Lebewesen nun zu interessieren beginnt. Dass er gar noch nie gesehen hat, was es da alles gibt und wie vielfältig, auch im Kleinen und Kleinsten, das Leben ihm in dieser Erdperspektive begegnet. Neugierig und voller Entdeckergeist, aber auch vital und freudig wirkt er auf mich und erinnert mich dabei an den natur-dialogischen Begriff vom «schönen».


«Schönen, als Tunwort verstanden, ist unmittelbar mit sympoietischer Begleitung verbunden. Wenn Menschen beginnen zu «schönen», wenn sie die Konstellationen der Dinge in ihrem Zusammenwirken begreifen und sie sich selbst auf ihrem Platz der Dinge wahrnehmen, dann ist Leben im Gange. Mehr kann man nicht erwarten. Muss man auch nicht.» (Kreszmeier, Natur-Dialoge, 2021, S. 77)


P.S. Während dieser Text geschrieben und veröffentlich wird, ist Dominic unterwegs auf seiner Erdreise. Einem Praxisformat, das ebenfalls im Buch Natur-Dialoge (S. 159 ff) von Astrid Habiba Kreszmeier beschrieben ist. Eine Erdreise also. Zufall?


P.P.S. Der nächste Weiterbildungszyklus «Natur-Dialog SNT Zertifikatslehrgang» startet im August 2022 und hat noch freie Plätze. Ein Infotag findet am 25. Juni in der Schweiz statt


1 Die Rigi ist ein Bergmassiv zwischen dem Vierwaldstättersee, dem Zugersee und dem Lauerzersee in der Zentralschweiz. Die Rigi war schon früh für Badekuren und Wallfahrten bekannt. Bereits 1540 wurde die heilende Wirkung der Rigi-Kaltbad-Quelle ein erstes Mal erwähnt. 1871 wurde mit der Vitznau-Rigi-Zahnradbahn die erste Bergbahn Europas in Betrieb genommen. Geologisch ist die Rigi für das aus verschiedenen Materialien zusammengepresste, nicht sehr feste Gestein namens Nagelfluh bekannt. Und für Ihre weiten Blicke in die Seen- und Berglandschaft der Schweiz.


2 https://www.nature-and-healing.ch/lehrgaenge/natur-dialog-snt-zertifikatlehrgang/


3 Infotag Natur-Dialoge


Astrid Habiba Kreszmeier
Sinha Weninger

ist Systemische Naturtherapeutin, Dozentin für Sozialpädagogik und Mutter eines 6-jährigen Waldkindes. Sie schreibt im Natur-Dialog Magazin, pflegt die Kunst des feuermachens und zerbricht sich den Kopf über Gemeinwohl und Ökologie. Weitere Infos unter www.weninger.info




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.