Systemisch – damals, heute, morgen. Ein Rück- und Ausblick.
Jochen Schweitzer gehört zu den maßgeblichen Persönlichkeiten in der Entwicklung systemischer Therapie und Beratung der letzten Jahrzehnte, unter anderem als Autor und Herausgeber einflussreicher Bücher und weiterer Publikationen, Organisator der Heidelberger Tagungen zu systemischer Forschung, langjähriger 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF), Organisator von eigenen Forschungsprojekten, Mitgründer des Helm-Stierlin-Instituts, Professor und Leiter der Abteilung Medizinische Organisationspsychologie an der Universität Heidelberg. Im April 2022 trat Jochen Schweitzer in den Ruhestand. Rüdiger Retzlaff lädt Jochen Schweitzer zu einem spannenden Gespräch über erste Erfahrungen mit Familientherapie in Baltimore (USA), seine Zeit am Institut für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg, zu einem kritischen Blick auf Konzepte und Praxis– wie die paradoxe Intervention der Mailänder Schule – die Neuausrichtung der Weiterbildungsorganisation am Helm-Stierlin-Institut und die Einschätzung anstehender Entwicklungen im systemischen Feld.
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Transkription des Interviews
Ohler Wir sind hier zusammen in Heidelberg im Helm-Stierlin-Institut, HSI. Mein Name ist Matthias Ohler und ich bin hier zusammen mit Rüdiger Retzlaff und Jochen Schweitzer, was mich sehr freut, auch vor allem, dass wir uns persönlich treffen können nach dieser langen Corona-Zeit. Das ist eine ganz besondere Qualität. Wir treffen uns im Rahmen der Heidelberger Systemischen Interviews, und deswegen übergebe ich den Ball an den Ideengeber dieser Interviews, bitte, Rüdiger.
Retzlaff Lieber Matthias, herzlichen Dank für Deine freundliche Einführung. Danke Dir auch, Jochen, dass du dir heute an einem so wunderschönen Maienabend Zeit nimmst für dieses Gespräch. Du bist Mitgründer des Helm-Stierlin-Instituts und du hast die systemische Szene sehr lange begleitet und auch geprägt zu einem erheblichen Teil. Du bist am 1. April in den Ruhestand gegangen aus deiner Tätigkeit in der Medizinischen Psychologie. Das ist leider kein Aprilscherz, dass es so gekommen ist. Und ich würde sehr gerne die Gelegenheit nutzen, deine ganz persönliche, subjektive Perspektive auf die systemische Szene, auf die systemische Landschaft ein bisschen zu erkunden heute Abend. Und die erste Frage, die ich auch häufig in Interviews gestellt habe: Wie bist du eigentlich zur systemischen Szene gekommen? Was waren deine ersten Kontakte? Wie ist das geschehen?
Schweitzer Der zweite Kontakt war der entscheidende. Er spielt 1977 in Baltimore in den USA, wo ich das letzte meiner drei Psychologie-Praktika machte. Und es gibt dort für die psychology interns – das sind die Leute, die ihr letztes Studienjahr machen und da das ganze Jahr über praktisch arbeiten – Seminare, und ein Seminar ist über Familientherapie. Ein Schüler von Jay Haley gab das. Es gab ein Rollenspiel, und ich wurde das "Kind". Ich war auch biografisch der Jüngste von denen, und das Kind saß zwischen "Vater" und "Mutter". "Vater" und "Mutter" waren sich uneinig, wie sie das "Kind" behandeln sollten, und das tauschten sie immer an dem "Kind" vorbei aus. Und dann sagte der Therapeut: "Junge, komm mal hierher, setz dich mal neben mich und lass jetzt die Eltern das mal untereinander besprechen. Aber wir beide hören zu." Und dann ging das Gespräch so weiter, und ich war fasziniert davon, dass man sich hier bewegt, dass da Stühle verrückt wurden. Und ich dachte, das ist ja eine enorm lebendige Angelegenheit. Mein Psychotherapiebild war damals natürlich von Freud und Couch geprägt, also der Patient liegt auf der Couch, der Analytiker sitzt dahinter und schweigt überwiegend. Und der ist sicherlich motorisch auch sehr eingebremst. Das fand ich faszinierend, und das ist mein Schlüsselerlebnis, wo ich dachte, davon mehr. Davon hat es seinen Ausgang genommen. Es gab aber schon ein Jahr vorher, also 1976, eine Erfahrung. Ich guckte einfach als Psychologiestudent, was kann man später so machen? Ich habe ja in Gießen studiert, wo Horst-Eberhard Richter damals eine sehr bekannte Figur war, ein progressiver Analytiker und Familientherapeut, und ich hatte eigentlich gedacht, da könnte man eine Weiterbildung bei denen machen. Das hatte sich auch so rumgesprochen, war aber nicht, sondern nur für Leute, die das Studium schon fertig hatten. Und dann habe ich gedacht, na gut, wenn sie uns hier nicht wollen, dann muss man das irgendwie woanders suchen. Und so kam ich dann auf die Amerikaschiene.
Retzlaff Das heißt, deine ersten Kontakte waren, abgesehen von Horst-Eberhard Richter, eigentlich Ostküsten-Familientherapie, was ja ein ganz besonderer Blick ist. Es gibt ja ein paar in der Szene, die, mich inbegriffen, eigentlich über die USA zur Familientherapie gefunden haben. Du hast diese Kontakte weiter gepflegt?
Schweitzer Diesen speziell nicht. Aber ich hab dann noch auf der Rückfahrt von dem Praktikum, ich musste ja wieder nach Hause, Zwischenstopp in Philadelphia gemacht und habe an zwei Orten, die damals prominent waren, geguckt, ob ich da ein Interview kriegen könnte mit Leuten, die da selber in einer Weiterbildung waren, und kam so zur Philadelphia Child Guidance Clinic, in der Salvador Minuchin damals der Ausbildungsleiter war, und ich kam zum Hahnemann Medical College, wo Iván Boszorményi-Nagy tätig war. Das klang gut. Und ich bin nach Hause gefahren mit dem Entschluss, nach dem Diplom dann dort eine Weiterbildung zu machen, oder zumindest das zu erkunden.
Retzlaff Das heißt, du hattest einige familientherapeutische Kontakte im Gepäck, und irgendwann bist du als Zivildienstleistender in der Mönchhofstraße in Heidelberg angenommen worden. Wie kam es dazu?
Schweitzer Das war dann, nachdem ich aus den USA wieder zurückgekommen bin. Jetzt muss ich schauen, was ich hier erzählen darf und was ich nicht erzählen darf. Manche Dinge bewegen sich am Rande der Legalität ... Man konnte damals den Zivildienst auch nach dem Studium machen, und das habe ich dann gemacht, habe mich an zwei Orten beworben, nämlich in Göttingen bei Eckhard Sperling, Günter Reich und Almuth Massing. Und hier in Heidelberg war Gunthard Weber die Ansprechperson. Ich war immer gleichzeitig auch noch als Jurastudent eingeschrieben und hatte jetzt die Frage: Stürze ich mich da jetzt drauf mit der Familientherapie, oder mache ich mein Jurastudium noch zu Ende? Und irgendwann mitten in dem amerikanischen Jahr dachte ich: Das ist es, das will ich machen, und da brauche ich kein Jurastudium mehr dazu. Das gab dann den Entschluss, und am 1. Oktober 1980 bin ich hier aufgeschlagen.
Retzlaff Das war ja eine kleine, aber eben auch große, berühmte Abteilung, damals schon, und von den Räumlichkeiten sehr viel weniger beeindruckend als eigentlich der sehr klangvolle Name. Wie hast du das erlebt in diesem kleinen 20er-Jahre-Einfamilienhaus, oder Zweifamilienhaus? Wie war das so mit dem Team?
Schweitzer Also räumlich dachte ich: Ja, irgendwie unspektakulär, aber auch nicht unangenehm. Es war lebendig. Es passierte viel in dem Haus. Leute kamen und gingen. Übrigens wurde ja auch der Carl-Auer Verlag da gegründet, oben unterm Dach. Aber ich glaube erst sehr viel später. Wie habe ich das erlebt? Also die Sache wird noch ein bisschen komplizierter. Helm Stierlin hatte eigentlich gar keine Zivildienststelle mehr übrig. Die, die er hatte, hatte er an einen anderen Kollegen vergeben, einen Arzt. Und damals war das immer das Thema: Wir würden Sie ja gerne nehmen, wenn Sie Arzt wären, da haben wir immer was. Aber für Psychologen haben wir nur wenige, und die bleiben ewig ... Aber jetzt war es so: Stierlin ging zum Chef der Psychosomatik, das war Walter Bräutigam, und sagte: Hey, hast du mal eine halbe Zivildienststelle für mich? Bräutigam hatte mehr, es war eine größere Abteilung. Und dann haben sie sich geeinigt, dass ich vormittags in der Psychosomatik arbeite und nachmittags in der Familientherapie. Beide Einrichtungen waren damals in starker Konkurrenzspannung zueinander, aber eher auf der Ebene Nummer zwei, also der Oberärzte, Hans Becker hier, Michael Wirsching dort, alle habilitierten über Krebs in Familien. Und ich bin mittags mit den Kollegen dort noch Essen gegangen – die haben mich bedauert, dass ich da jetzt rüber musste – und schlug dann um halb drei drüben auf, und die haben mich bedauert, dass ich den Vormittag dort drüben verbringen musste. Also irgendwie mochten sie mich alle, waren aber ein bisschen verwundert, warum ich denn den anderen Teil der Zeit da drüben fristen musste.
Retzlaff Ich habe vorhin über Scheidungs- und Patchworkfamilien im Kurs etwas erzählt, und wie so typische Botengänger in between eine Rolle bekommen. Und das war erträglich für dich? Du hast keine psychosomatischen Beschwerden entwickelt ...?
Schweitzer Nein, es war ja alles mir gegenüber wohlwollend. Für mich war eher das Problem zweier Rollen gleichzeitig, weil Zivildienstleistende in der Psychosomatik so damit besetzt waren: Der fährt Patienten, die gehbehindert sind, mit dem Rollstuhl, er holt reparierte Sachen irgendwo ab, und er macht Telefondienst. Und dann gab es eben die Rolle des Psychologen, der macht andere Sachen. Und das war sowohl in der Psychosomatik, aber auch in der Familientherapie. Dort gab es die Idee, ich solle die Video-Bestände pflegen, und wer mich kennt, weiß, dass es keinen ungeeigneteren Kandidaten dafür gibt. Und als, ich glaube es war bei Michael Wirsching, ein- oder zweimal oder sogar dreimal das Videoband in der Vorlesung abstürzte, hat man eingesehen, dass ich dafür der falsche Kandidat sei, und hat mich zunehmend als Co-Therapeuten in den Familiengesprächen eingesetzt. Aber das brauchte ungefähr sechs Monate, sieben Monate, bis ich da so einen langsamen Rollenwechsel erfuhr.
Retzlaff Wie lange war der Zivildienst damals?
Schweitzer Der Zivildienst ging 16 Monate.
Retzlaff Okay, das heißt, du bist, ein bisschen ähnlich wie in Baltimore, reingerutscht, also in konkrete Gesprächssituationen?
Schweitzer In der Mönchhofstraße? Ja. Und ganz am Ende habe ich sogar auch selber Therapien gemacht.
Retzlaff Und Wirsching war im Team, Stierlin natürlich, und wer noch?
Schweitzer Gunhard Weber. Das waren die beiden, Oberarzt und Unterarzt. Und dann waren zwei Frauen dabei, Barbara Wirsching, Michael Wirschings Frau, und Bettina Haas, die waren beide Projektmitarbeiterinnen in diesem Brustkrebs-Projekt.
Retzlaff Ich glaube, man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen – so etabliert, wie die systemische Therapie heute ist – wie es in den Anfangsjahren war, ein paar Jahre nach der Gründung der Abteilung durch Helm. Wie war denn die Atmosphäre? Das war ja was ganz Besonderes, das war auch, na ja, ketzerisch ist vielleicht zu viel gesagt, aber so in der Richtung, ein ziemlicher Bruch mit der bisherigen Tradition. Helm hatte auch durchaus kein so ganz einfaches Verhältnis zu dem psychoanalytischen Establishment, wenn ich das richtig im Kopf habe, war aber trotzdem immer, bis zuletzt im Leben, in den Vereinigungen. Hast du davon was mitbekommen als Zivi?
Schweitzer Ja, die Meinungsverschiedenheiten darüber, was gute Therapie ist, die waren groß, und hingen sich insbesondere an der Frequenz oder an der Zahl von Sitzungen auf. Wir haben damals in der Familientherapie fast genauso viele Menschen "behandelt", wenn du so willst, also Patienten gehabt, wie die Psychosomatik auch hatte. Ich glaube, wir hatten so etwa hundert Patienten im Jahr. Aber natürlich sahen wir die im Vier-Wochen-Rhythmus. Und in der Psychosomatik – da habe ich auch später zweieinhalb Jahre als Assistent gearbeitet – da waren das zweimal in der Woche Einzelgespräche, da kommst du auf hohe Dosen mit wenig Patienten. Und das haben wir natürlich auch ein bisschen vor uns her getragen. Braucht man wirklich zweimal die Woche? Aus der Zeit ist auch meine Überzeugung gekommen, dass man mit weniger Sitzungen, aber idealerweise im Mehr-Personen-Setting, eigentlich genauso viel erreichen kann. Potenziell. Das hat sich bei mir später dann auch noch mal differenziert, aber die Grundhaltung kommt von dort.
Retzlaff Du hast ja später dann das Diplom gemacht, und irgendwann hast du ja über Kooperationsprozesse deine Promotion und Habilitation gemacht, über delinquente Jugendliche, oder?
Schweitzer Ich bin von Heidelberg dann nach Weinsberg gegangen, ein Weindorf in der Nähe von Heilbronn, und war auf der Jugend-Station. Und auf dieser Jugend-Station kamen damals gehäuft Jugendliche an, die von zu Hause ausgerissen waren. Diese Jugendlichen waren vorher im geschlossenen Heim untergebracht. Die waren angeblich jetzt geöffnet worden, und die Jugendlichen trieben halt weiter ihr Unwesen. Und da kam die Idee, ob man die nicht wenigstens krisenmäßig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie bringen könnte. Die aber nicht wusste, was sie mit denen anfangen soll. Das war kein definiertes Krankheitsbild, es gab keine klare Strategie, medikamentöse schon gar nicht, außer vielleicht in höchsten Erregungszuständen. So, und da kam dann die Idee mit der Klinik auf. Die Unikliniken haben sich davon suspendiert und es blieb eigentlich an drei Kliniken hängen. Wir waren fast überflutet mit solchen Anfragen, und einige kamen eben zu uns. Und das Problem war hier, dass vollkommen unklar war, aus der familientherapeutischen Sicht: Wer muss unser Ansprechpartner sein? Es gab schon die Idee, die Eltern wieder in ihre Position zu versetzen, die auch Wilhelm Rotthaus damals noch, den ich da kennenlernte, sehr vertreten hat. Aber wer sind hier die Eltern? Meistens geschieden, gegenseitig abwehrend, häufig eine Großmutter noch dabei, ein Jugendamt, das Entscheidungen zu treffen hatte, vielleicht zwei Jugendämter, weil man sich örtlich unklar war, und so weiter. Also ein ganz zersplittertes System. Und wir haben damals mehr aus der Not heraus angefangen, solche Rundtischgespräche zu machen, also alle, die meinten, irgendwas damit zu tun zu haben, einzuladen. Zwei Stunden. Und die erste Runde war: Was denkt denn jeder, was das Problem ist? Und die zweite Runde war, was denkt denn jeder, was getan werden sollte. Der Jugendliche saß, wenn er das ausgehalten hat, mit dabei, mit einem Pfleger dabei, der ihm so ein bisschen auch gesagt hat: Komm, Junge, du schaffst das. Und es gelang uns, dass es für die Zeit des Aufenthaltes dann auch relativ ruhig und gesittet zuging, was aber keine langfristigen Auswirkungen gehabt hat. So, das war diese Rundtischgespräch-Idee, die hatte mich auf die Idee gebracht, dass du hier halt mehr brauchst als eine Familie. Und das hat mich dann im Weiteren sehr geprägt.
Retzlaff Eigentlich auch ein multi-systemischer Blick, wenn man so will, und somit dann wieder sehr aktuell.
Schweitzer Ich hatte zwei Doktorväter. Der eine war Reinhart Lempp, Kinder-Psychiater, und der andere war Hans Thiersch, Sozialpädagoge, der damals mit dem Lebenswelt-orientierten Ansatz sehr populär war. Ich hatte das Gefühl, wir verstehen uns intuitiv total gut, auch wenn andere Theoriesprachen dahinterstehen. Das war die eine Erfahrung. Und die zweite Erfahrung mit Kooperationsforschung war dann die Habilitation.
Retzlaff Reinhart Lempp stand ja damals der Familientherapie sehr offen gegenüber. Das war ein sehr aufgeschlossener Kinder- und Jugendpsychiater.
Schweitzer Er sagte: Ich habe von Systemtheorie keine Ahnung, außer dass ich weiß, dass das mit der Doublebind-Theorie nicht stimmt. Aber machen Sie mal.
Retzlaff Das hat sich aber nicht rumgesprochen. Wobei es eine Teilung gab, Beyond the Doublebind. 1988 wurde die als Allerklärungs-Prinzip ganz offiziell in den USA beerdigt. Sicherlich ganz interessant ... Dieses Thema Kooperations-Prozesse zieht sich ja ziemlich durch. Also nicht nur in deiner Habil, sondern schon die Idee, berufspolitisch, aber auch in Familien, zu kooperieren ist ja eigentlich ein Grundprinzip systemischen Denkens. Für mich zumindest. Dass man aus Konflikten Aushandelns- und Verhandlungsprozesse macht, auch wenn das nicht immer einfach ist und nicht immer gelingt. Aber ein ganz wesentliches Grundmotiv, oder?
Schweitzer Ich habe später mal zwei Begriffe versucht zu popularisieren. Das eine war "Probleme als Gemeinschaftsleistung" und das andere "Lösungen oder Heilerfolge im Gesundheitsbereich als Gemeinschaftsleistung". Und was das bedeutet. Das klingt ja erst mal trivial. Aber ich erlebe es jetzt zum Beispiel selber, wenn ich an der Stelle auch was Persönliches sagen darf. Ich bin ja jetzt selber mit einer Krebserkrankung erkrankt und bin erstaunt, wie viele Menschen damit beschäftigt sind, mir zumindest ein gutes und möglichst noch eine Weile bleibendes Leben zu bescheren. Allein schon diese künstliche Ernährung, die ich hier mit mir herumtrage, da sind etwa sechs Leute, die ich kenne, damit beschäftigt, das möglich zu machen. Und wenn man das ganze Nationale Tumor-Zentrum nimmt, und meine Hausärztin, und meine Frau, die da auch viel hilft, wahrscheinlich am meisten, dann ist das eine enorme Gemeinschaftsleistung, dass ich so in diesem Zustand hier sitze.
Ohler Gut für uns, danke an alle.
Retzlaff Danke auch für deine Offenheit. Du hast jetzt etwas von Gemeinschaftsleistung gesagt. Das ist ja auch eigentlich die Definition, die wir in diesem Expertise-Buch zusammen reingeschrieben haben und die ich sehr hochhalte, dass psychische Beschwerden, Störungen, aber auch die Lösungen eigentlich Gemeinschaftsleistungen sind. Wenn man so will, ist das eigentlich der alte Gedanke von Sullivan. Helm Stierlin ist ja zu Sullivan an die Ostküste gegangen, um diese interaktionelle Sicht auf die Psychiatrie kennenzulernen. Das ist ja für dich wie mich, glaube ich, ein Grundmotiv des systemischen Denkens. Es gibt ja auch das tolle Teile-Modell, das "Innere System", und und und. Und eine Perspektive ist ja, immer zu schauen, wer ist noch drum herum? Und das ist eben nicht nur bei Krebserkrankungen oder im familienmedizinischen Bereich sehr wichtig, sondern auch bei der Erziehung von Kindern, oder im Jugendhilfe-Kontext natürlich, wie das gelingen kann, oder wo es auch hakt, dass das nicht so funktioniert.
Ohler Ihr hattet ja gerade die Maudsley-Leute hier, das ist ja auch ein Kontext dafür, und andere, Asen, van Lawick ...
Retzlaff Danke, dass du das ansprichst. Das ist ja schon auch toll, wenn es gelingt, im gesundheitspolitischen Bereich zu Kooperationsprozessen zu kommen und dafür zu sorgen, dass solche Dienste, wie in Großbritannien, auch flächendeckend angeboten werden. Und dann aber auch die Kooperation, zum Beispiel Menschen zu gewinnen, Jugendliche, die irgendwie Terz machen, oder Mädchen, die magersüchtig sind, dafür zu gewinnen, dass sie wirklich mitarbeiten oder dass die Eltern als Team verstanden werden. Das ist, glaube ich, etwas, das sich leicht sagt, aber von der Umsetzung ganz schön anspruchsvoll sein kann.
Schweitzer Ich habe irgendwann mal mit einem Heimleiter zusammen einen Artikel geschrieben, "Wenn der Kunde König wäre", 1989. Und da war die Idee drin, dass in dem Bereich, in dem wir arbeiten, ja die Klienten meistens die Dienstleistung nicht selber zahlen, sondern jemand Drittes. Also, zum Beispiel, die Krankenkasse bezahlt 90 % aller deutschen Behandlungen. Damit ist aber auch dem Patienten ein bisschen die Kontrolle über die Produktion entzogen, die ein Privatzahler, zumindest theoretisch, hat. Es sind Kunden, die nicht zahlen. Die Frage ist aber, wenn man die trotzdem so behandelt, als wenn sie zahlen würden – das war meine These – dann werden Behandlungen produktiver. Das kannst du ganz schön ausbuchstabieren am Beispiel psychiatrischer Kliniken. Gute psychiatrische Kliniken haben eine komplexe Speisekarte. Da gibt es Medikamente, da gibt es Gruppentherapie, da gibt es ein Dach überm Kopf, da gibt es nachts eine Schwester, wo man hingehen kann. Und das Interessante ist ja, dass nicht alle Patienten alles wollen, was da in diesem bunten Strauß enthalten ist. Und da gibt es ganz viele kritische Situationen, die du in Supervisionen antriffst, zum Beispiel in Tageskliniken, wenn die Leute einfach nicht das nutzen wollen, was da gegeben ist. Und wenn du da mal durchbuchstabiert, wir würden einfach mit dem gehen, was die wollen, was würde denn dann passieren? Also wir würden ihnen zwei Tage Asyl gewähren, damit sie mal von zu Hause rauskommen, und das wäre alles, was sie momentan bräuchten, und dafür eine Auftragsklärung zu machen, die das heraufführt, das hat mich total gereizt.
Retzlaff Ich meine, diese Idee der Kooperation, und auch Klienten zu gewinnen, für bestimmte Ziele mitzuwirken in einem kooperativen Prozess, das ist ja schon auch eine besondere Leistung, die sich mehr und mehr in den letzten Jahren herauskristallisiert hat. Wenn ich zurückdenke an die Sprache, die Mara Selvini-Palazzoli in den Anfangszeiten verwendet hat, die du auch sehr gut kennst, die "Bombe der paradoxen Intervention" in die Familien werfen ... schreckliche Begriffe gerade im Kontext dessen, was heute politisch auf der Bühne los ist. Auch das ist schon ein ganz schöner Wechsel ...
Schweitzer Und das ist, glaube ich, die größte Selbstkritik, die mal jetzt, sage ich, wir selber leisten müssen, glaube ich. Die 80er Jahre, diese ganze Pionierzeit, sie hat was Autoritäres, was Kämpferisches, Bellizistisches an sich, sozusagen. Weil wir davon ausgingen, nach dem Homöostase-Prinzip, die Menschen wollen sich eigentlich nicht verändern, aus unterschiedlichen Gründen. Und deshalb müssen wir eine starke Gegenkraft entwickeln. Diese Idee steckt in der paradoxen Intervention, wie sie die Mailänder entwickelt haben und wie wir sie auch gemacht haben, sehr drin. Das sehen, glaube ich, viele auch zurzeit kritisch, weil da ja auch häufig implizite Schuldvorwürfe an die Eltern – aber nicht nur an die – enthalten sind. Also das ist, glaube ich, so der Fleck, der aber wahrscheinlich so um 1990/95 allmählich überwunden wurde. Es ist hochinteressant, wenn du damals ... Ich war ja als DGSF-Vorsitzender manchmal in der Schlichtungskommission drin – und die Hauptklientel waren da alte Pioniere, die wussten, wo's langgeht und die keinerlei Neigung hatten, sich mit den Ansprüchen ihrer Kursteilnehmer auseinanderzusetzen und schon gar nicht mit den Neigungen eines Verbandes, den ich damals repräsentierte. Also das waren auch schon harte Knochen.
Ohler War sicher nicht so einfach, diese Zeit ...
Schweitzer ... Knochen und Knöchinnen ...
Retzlaff Woran sich das vielleicht auch spiegelt: Ich erinnere mich an Bänder aus der Mönchhof-Straße – also ich war ja sozusagen der letzte, der eigentlich den Laden damals hochgehalten hat. Ich hatte Zugriff auf die ganzen Bänder. Und da gab's eben auch Aufzeichnungen von Familien-Lunch mit Gunthard Weber oder auch mal mit Minuchin, und ich habe das mit den Kollegen diskutiert. Ich mach das seit Jahren, und bei mir läuft es immer sehr einvernehmlich. Früher war das richtig Kampf. Und die haben auch gesagt, das ist im Prinzip eine einfache Intervention, wo man gemeinsam unterstützt und hilft und kooperiert, was auch nicht leicht ist, aber vom Feeling her hat sich da unheimlich geändert, das muss man auch sehr selbstkritisch sagen ... Du hast ja auch bei den großen Tagungen mitgewirkt, Helm Stierlin hatte viele von den Pionieren auch zu Gast bei sich immer im Kapellenweg. Wie ist es dir so ergangen, du warst jünger und, ja, "Anfänger", die waren schon zum Teil sehr erfahren, du hast gesagt, dass die manchmal auch – zumindest die deutschen Pioniere – vielleicht einen sehr starken Faktor an Eigensinn hatten. Ist das so gewesen?
Schweitzer Ich war nicht bei allen dieser Konferenzen dabei. Mein Haupterlebnis ist 1991, "Das Ende der großen Entwürfe". Das habe ich ja mit Arnold Retzer und mit Hans Rudi Fischer primär organisiert, anderthalb Jahre Lebenszeit da reingesteckt, aber es war großartig. Wir waren ganz überwältigt: 2200 Teilnehmer, und das war ja direkt nach, oder kurz nach dem Mauerfall und vor allem der Öffnung der innereuropäischen Grenzen. Und wir hatten 150 Leute aus Mittel- und Osteuropa. Da sind viele Freundschaften neu entstanden. Gleichzeitig hatten die Amerikaner beschlossen, den Irak zu überfallen, als der Irak wiederum Kuwait besetzt hatte. Das war jetzt erst mal beeindruckend, diese ganzen Promis zu erleben von Watzlawick, Capra, bis hin zu, bei den Philosophen, Vattimo , Weizenbaum, und so weiter. Die Postmoderne war ja die inhaltliche Klammer. Und das hat mir gut gefallen, diese Kritik der französischen Philosophen, dass die großen Erzählungen, wo man sagt, eines Tages wird alles besser und dafür müssen wir jetzt aber alles in den Kampf für die gute Sache einstellen, dass die meistens in irgendwelchen Konzentrationslagern oder in Kreuzzügen enden und was Terroristisches an sich haben, potenziell Terroristisches. Das hat mir sehr eingeleuchtet. Und die Idee des "Anything goes" als Gegenmetapher fand ich befreiend. Da bin ich jetzt mit meinen Söhnen, die Sozialwissenschaftler geworden sind, zum Teil in Disputen, weil die das gar nicht so gut finden, dass da "anything goen" soll, weil das für sie mit Donald Trump verbunden ist. Und mit Fake News. Die gehen dann wieder auf Adorno oder die Frankfurter Schule zu.
Ohler Es gibt ja zwei Bände, die du mit herausgegeben hast damals, bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: "Das Ende der großen Entwürfe" und "Systemische Praxis und Postmoderne", der eine eher theoriebezogen, der andere auf die Praxis. Sie sind heute noch, finde ich, paradigmatisch in manchen Beiträgen, die Diskussion kommt wieder, wie du gerade selbst erzählt hast.
Schweitzer Ich habe zwei Veranstaltungen selber moderiert. Eine ging über Männer und Frauen in der systemischen Therapie. Das ging ziemlich in die Hose, vor allem aufgrund der Männer-Beiträge. Und das andere, was ich aber sehr produktiv fand, war "Ökologische Prozesse als Interaktions-Prozesse". Da haben wir die damals neugewählte Oberbürgermeisterin von Heidelberg, Beate Weber, die damals von Gerhard Schröder neu bestellte Umweltministerin in Niedersachsen, nämlich Monika Griefahn, und Ellis Huber als den Präsidenten der Ärztekammer Berlin eingeladen und haben versucht, von denen zu erfahren: Wie ändert sich denn Politikpraxis, wenn man ökosoziale Gedanken mit hineinbringt? Das hat mir viel Spaß gemacht. Wir haben dann auch spontan ein Teach-in gemacht, gegen die, oder vielleicht doch mit der amerikanischen Invasion. Arist von Schlippe hat das mit mir moderiert. Und ich erinnere mich, dass zum Beispiel Luc Ciompi da sehr aktiv war. Also ich habe so meine eigenen kleinen Inseln da gesetzt, die mich dann auch sehr beschäftigt haben.
Retzlaff Na ja, "Ende der großen Entwürfe", "anything goes". Ein paar Jahre später kam dann die große Hellinger-Bewegung. Meine Interpretation war auch, dass, wenn man bestimmte Dinge, für die zum Beispiel aus meiner Sicht Boszorményi-Nagy steht, Werte, Fairness, Gerechtigkeit in nahen Beziehungen, wenn man bestimmte Kategorien nicht mehr bedient, dann gibt es andere, die das übernehmen und, sozusagen, das Vakuum füllen. Das war so eine Art Gegenbewegung, für mich ein bisschen wie beim Segeln. Wenn man sich zu sehr auf der Lee-Seite rauslegt, muss man auf der Luv-Seite ausgleichen, solche Prozesse. Du hast ja auch die Forschungstagung in deiner Zeit in der Medizinpsychologie hier nach Heidelberg geholt und gestaltet, und da waren auch sehr wichtige internationale Wissenschaftler hier. Und das hat den Prozess der Anerkennung auch gegenüber Herrn Krommer, der damals Kammerpräsident war, sehr befördert. Und im Vergleich dazu – also auch wenn ich mir die Rednerliste auf diesem Kongress "Ende der großen Entwürfe anschaue", das war ja eine große internationale Bühne – im Vergleich dazu wirkt die systemische Landschaft, aus meiner Sicht, heute hier in Deutschland eher ein bisschen – vielleicht nicht wie in einer Blase, aber doch sehr Deutschland-zentriert, wenig international aufgestellt. Wie siehst du das?
Schweitzer Da grübele ich auch drüber. Das ist gekommen irgendwann in den 90ern. Und die einfachste Hypothese ist: Der deutsche Sprachraum hat etwa hundert Millionen Menschen, ungefähr. Und er ist wahrscheinlich, nach dem englischen Sprachraum, derjenige, wo die meisten Bücher verkauft werden, und vielleicht auch gelesen werden. Ich würde mal tippen noch vor dem spanischen. Ich kann nichts über Hindi sagen, das müsste ja auch ziemlich groß sein, oder China, natürlich, wird noch groß werden. Also eine Hypothese ist: Der deutsche Sprachraum ist sich selbst genug, mit den Übersetzungen dazu, aber er will sich nicht der Anstrengung der englischen Sprache unterziehen. Das müsste jetzt allmählich anders werden. Jetzt wachsen die Leute doch so mit Englisch – nicht gerade in der Muttermilch – auf, es müssten doch eigentlich jetzt wieder bessere Voraussetzungen sein.
Ohler Wir haben es – das soll jetzt kein Werbeblock sein - bei unseren Reden-reicht-nicht!?-Tagungen auch wieder internationalisiert gehabt. Trotzdem muss man kucken: Wird das auch so bleiben? Vielleicht gibt es noch andere Felder, die vielleicht wieder miteinander in ein fruchtbares Dienstleistungsverhältnis kämen und die Internationalisierung wieder ein bisschen verstärken.
Schweitzer Ich glaube, es bedarf einer gewissen Anstrengung, das sehen wir auch hier im Helm-Stierlin-Institut. Da ist noch ein bisschen mehr Arbeit zu machen, und ich glaube, wenn man sich der unterzieht, dann kommt da was bei raus. Aber man muss über ein Hügelchen drüber.
Retzlaff Na ja, wir wissen eigentlich, dass Systeme, die sich abschotten, auf Dauer nicht richtig stabil sind. Man braucht Wachstum und den Blick von außen und korrigierende Erfahrungen, was man bei diesen kommunikativen Filterblasen sieht. Wir waren ja im Bereich der systemischen Familienmedizin unterwegs, Du mit dem Projekt, das es lange gab, Nierentransplantation und Familie, und bei mir eben das Thema Behinderung und alle möglichen anderen Dinge. Und ich fand, dass zum Beispiel da der Kontakt zu den amerikanischen Kollegen, Susan McDaniel, noch mal ganz frischen Wind hier reingebracht hat. Ich empfand das ganz wesentlich als Bereicherung. In der Zeit waren im deutschsprachigen Raum nicht so viele ärztliche Kollegen systemisch unterwegs, und ich glaube, das ist eine ganz wichtige Ergänzung. Von daher hätte ich sehr den Wunsch, dass wir uns nicht auf eine rein nationale und für uns alle ein bisschen provinzielle Kiste zurückziehen. Du bist ja auch Mitglied der AFTA. Und ich glaube, das ist auch ganz wichtig, dass man andere Länder bereist, frisch bleibt und über den Tellerrand schaut.
Schweitzer Vielleicht darf ich an der Stelle noch eins ansprechen. Mein Berufsleben unterscheide ich vor 1996 und nach 1996, sowohl mein privates Berufsleben also das Leben der ganzen Szene. Ab da war ja klar, es wird ein neues Psychotherapeutengesetz geben, und das wird alles stärker regulieren. Wir kamen in eine Zeit, wo auf einmal der Begriff Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement, aus der Ingenieurwissenschaft in die Krankenhauslandschaft und dann auch in die psychosoziale Landschaft flutete. Und da war es ja nicht mehr die Idee, gut ist was ästhetisch ist oder was spannend ist, sondern gut ist, wo man nachgewiesen hat, dass keiner zu Schaden kommt und die meisten auch nicht schlechter behandelt worden sind als der Durchschnitt. Das sage ich mal ein bisschen provokant. Qualitätssicherung ist ja nicht der Versuch, im Regelfall, Spitzenleistungen zu erzeugen, sondern dafür zu sorgen, dass keine faulen Eier passieren, also dass niemand schlechter behandelt wird, als es eigentlich sein müsste. Und ich habe das Gefühl, viel von dem, was ich dann selber auch gemacht habe, waren Beiträge, zu zeigen, auch die systemische Therapie kann ihre eigene Qualität darstellen und kann sie überprüfen. Und von daher kam eben der Versuch, sie auch in der Sprache darzustellen, die schon vertraut war; nicht zu zeigen, wir sind genauso wie die anderen, aber wir können das, was die anderen können, auch immer mit ähnlichen Begriffen darstellen, wenn wir es probieren.
Ohler Probieren mit den Formen.
Schweitzer Das ist natürlich auch eine defensive Praxis, das ist auch keine besonders freudvolle, so habe ich es erlebt.
Retzlaff Na ja, ich meine, das war ja auch ein Beitrag, wie ich finde, und sehr gelungener Kooperationsprozess zwischen uns beiden. Wir hatten, zum einen, mal so eine Sprechstunde für Ärzte oder, andersherum, ein systemisches Fall-Seminar für niedergelassene Ärzte gemacht. Irgendwann hatten du und Helm und auch Manfred Cierpka gesponsert, dass ich in den USA in die AFTA reinkomme. Und dann kam ich mit dieser Idee der Expertise zurück, und da haben wir über lange Zeit sehr intensiv zusammengearbeitet. Ohne deine Möglichkeiten über deine Abteilung wäre das sicherlich so nicht gegangen, und ich glaube, das war auch ein ganz wichtiger Punkt. Darüber hatten wir ja auch schon mal geredet im vorangegangenen Interview, aber ich glaube, das ist auch so ein Punkt, dass wir umgeschaltet hatten von einer Haltung "Wir sind draußen vor der Tür" zu "Wir sind eigentlich drin". Du warst damals gut etabliert, und ich auf andere Weise auch, und wir müssen einfach zeigen, dass wir noch mehr reinkommen. Das war ein Wechsel von einem Loser-Spiel zu einem Winner-Spiel, aus meiner Sicht. Zum Thema Systemische Familienmedizin: Mir hatte, als wir unsere erste Tochter bekommen haben, einer meiner Ausbilder an der Child Guidance Clinic geschrieben: Man wird bescheidener, wenn man selber Kinder hat, oder demütiger. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass man gnädiger umgeht mit Eltern, auch wenn man die in der Therapie hat. Dass man vielleicht auch die eigene Rolle etwas relativiert und denkt, es gibt auch andere Faktoren, die zu Gesundheit und Krankheit beitragen. Ich glaube, das war für mich zumindest auch ein wichtiges Korrektiv. Und ich denke, vor Jahren hattest du auch mal Ähnliches erzählt, wenn ich es richtig entsinne. Man kennt sich drin wieder. Das Helm-Stierlin-Institut war ja auch eine große Pionierarbeit, Aufbauarbeit. Magst du dazu etwas sagen, zu den Anfangsjahren, mit den Kolleginnen und Kollegen?
Schweitzer Gerne. Wir haben ja, sagen wir mal, grob um das Jahr 2000 herum beschlossen, dass es gut wäre, für etwa die Hälfte der Kollegen oder etwas mehr als die Hälfte der Kollegen einen eigenen Weg zu gehen und ein neues Institut zu gründen, aus der i.g.s.t., wo wir vorher zusammen waren. Und das Interessante war hier, das hat erst in dem Moment geklappt, in dem einige Sachen schief gegangen sind – oder nicht schiefgegangen, aber nicht zustande kamen. Die Idee war schon, ich glaube 1999, im Raum, aber dann mussten zwei Sachen passieren, nämlich bei Andrea Ebbecke-Nohlen, meiner Kollegin, dass ein Umzug nach Chile mit ihrem Mann nicht zustande kam, für beide nicht, sie haben sich gemeinsam entschieden, nicht hinzugehen. Und dass ich mich entschieden habe, zwei Rufe an andere Universitäten nicht anzunehmen. Und erst dadurch hatten wir sozusagen Zeit und Energie, uns diesem Projekt zu widmen. Und das waren dann Andrea und ich, die die konkrete Arbeit gemacht haben. Und vier ältere Kollegen plus eine, die so am Reinkommen war, Carmen Beilfuß, die dann im Hintergrund sehr unterstützend tätig waren. Wir haben uns alle dann selber Kredite gegeben, damit wir überhaupt Stühle kaufen konnten, die Cafeteria umbauen, und und und. Und dann haben wir überlegt, wie wollen wir das neue Institut ein bisschen anders organisieren als das frühere? Wir hatten das Gefühl, dass wir früher zu viel Konkurrenzprinzip drin hatten, und wollten mehr Kooperativität. Eine Folge war zum Beispiel, dass wir es unmöglich gemacht haben, dass man die gesamte Weiterbildung bei einem von uns machen konnte. Also man hat nicht immer konsekutiv angeboten. Man konnte maximal zwei Jahre bei einem von uns machen. Also diese Schüler – Rüdiger-Schüler, Jochen-Schüler, Liz-Schüler – das wollen wir vermeiden, und auch zu viel Konkurrenz um die Frage, wer wie viele Anmeldungen hat. Das hat insofern gut geklappt, als das der Atmosphäre untereinander gutgetan hat.
Retzlaff Na ja, und ihr habt ein Prinzip eingeführt, von dem ich manchmal höre, dass sich das Leute für den Bundestag wünschen, dass man nämlich noch einen anderen Beruf und nicht nur da stimmberechtigtes Mitglied ist, sondern auch noch eine andere Quelle hat, aus der man beruflich schöpft und finanziell ganz gut dasteht, aber eben auch Erfahrungen reinbringt, schreibt, liest oder forscht oder was auch immer.
Schweitzer Also meine Hybris war ein bisschen, wir lehren die Sachen, die wir auch selber mit erfinden oder an denen wir selber mitbasteln. Also ein bisschen mehr am Original und nicht so sehr nach dem, was wer wohl von anderswo abgeguckt hat. Wobei, um was zu erfinden, muss man auch viel gucken, was andere machen.
Ohler Aber es muss nicht so Karaoke werden.
Retzlaff Wenn du jetzt diese Jahrzehnte auf einer Zeitlinie abschreiten würdest, für die 70er, 80er, 90er, 2000, 2010, 2020 – es ist ja wirklich eine lange Zeit, die du in der systemischen Landschaft unterwegs bist und die auch mit beeinflusst hast, das Ganze auch mit einem Lehrbuch mit Arist von Schlippe zusammen, ganz nachhaltig mit vielen anderen Kongressen und Artikeln und und und ... Was fällt dir so auf, wie erlebt sich das? Wenn man so alte Modehefte zum Beispiel sieht, 70er bis heute, denkt man: Mein Gott, wie sehen die denn aus?
Schweitzer Die allergröbste Unterteilung wäre eben vor 1996 nach 1996. Im Januar 96 ist das Lehrbuch fertig geworden. Ebenfalls im Januar 96 habe ich meine Antrittsvorlesung gehalten. Und mit dieser doppelten Geschichte, als Lehrbuchschreiber, also in der Situation, wo es noch wenig oder gar keine gab, und dann mit der Habilitation, bekam ich, glaube ich, in der Außenperspektive eine neue Rolle. Und zwar wurde ich öfter angefragt: "Sie sind doch der von der systemischen Therapie, wir haben ja dieses Lehrbuch mit 20 Kapiteln, können Sie das 19. über systemische Therapie schreiben?" Vorher wurde Fritz Simon gefragt, oder Arnold Retzer. Und dann war ich irgendwann in der Reihenfolge da dran, und inzwischen auch andere Leute wie Christina Hunger-Schoppe oder Julika Zwack. Ich glaube, ich hab dich da auch schon öfter gesehen. Und auf einmal ist man jetzt wie so eine Art Außenminister, um die Politik der systemischen Therapie anderen zu erklären, die sich fragen: Was ist das? Um so ein Bild zu malen, sozusagen, von der systemischen Therapie. Es gab das Gefühl, das ist im Angebot. Das Problem ist, als Schreiberling wird man dabei nicht besonders pfiffig. Das sind keine spannenden Sachen. Das sind Fleißarbeiten. Aufklärungsarbeiten. Das ist nötig und gut, aber es hat nicht so viel Spaß gemacht. 1997 habe ich dann zum ersten Mal Drittmittel eingeworben von der Heidehof-Stiftung für dieses Projekt "Wenn Krankenhäuser stimmen hören", und jetzt konnte ich auf einmal zumindest eine Person damit einstellen. Die erste war Liz Nicolai, die zweite war Julika Zwack. Und so ging das weiter. Und dann kriegte ich eine andere Rolle. Also eher, andere machen was und ich bin mit dabei. Ich denke mit und diskutiere mit und schreibe mit. Das sieht man immer, wenn ich in der Autorenliste als Letzter auftauche. Und dann wurde sozusagen eher die Förderung jüngerer Leute, als ich das selber war, zum zentralen Motiv. Ich habe mal gesagt, ich glaube 2004, ich fände es gut, wenn wir in den nächsten zehn Jahren fünf Leute habilitieren in Deutschland. Ich glaube, zwei sind es bisher geworden – das hat also noch nicht so richtig geklappt bisher. Zum Teil aber auch, weil die akademischen Laufbahnen, glaube ich, immer weniger attraktiv geworden sind, als sie es früher waren.
Ohler Aber du hattest schon Spaß. Dieses Lehrbuch, das muss Spaß gemacht haben, weil ich weiß, wie viel Spaß es vielen gemacht hat, es zu lesen. Sie haben wohltuend den Unterschied erlebt, wie da dranangegangen wird. Illustrationen, die ganze didaktische Aufbereitung ...
Retzlaff Ich meine, das sind vielleicht, wenn ich wieder etwas Persönliches sagen darf aus meiner Sicht, Dinge, die wir teilen. Also ich habe dich immer so erlebt, dass dir die systemische Theorie total viel Spaß macht, dass da Begeisterung dabei ist., und genauso speziell die Arbeit im Mehrpersonen- und Familien-Setting. Da haben wir beide uns sehr eingesetzt. Das wird sicherlich noch weitergehen, die Auseinandersetzung, aber diese multiystemische Perspektive, dass man nicht immer nur alles auf den Einzelnen reduziert, prägt dich, glaube ich, auch sehr. Und dann auch dieser Grundgedanke: Man muss auch was in dem weiteren Feld, nämlich im sozialpolitischen Feld machen. Um eine gute Arbeit zu ermöglichen, eine gute Weiterbildung Ausbildung zu ermöglichen, muss man sich auch irgendwie positionieren, sonst fällt man hinten runter. Und das ist, glaube ich, auch ein sehr offenes und breites Denken, was zum Systemischen für mich sehr dazugehört. Aber ich glaube, das ist etwas, was dich auch sehr ausmacht.
Schweitzer Du hast ja ganz am Anfang gefragt, wie das so mit persönlichen Erlebnissen oder Erfahrungen zusammen hängt. Vielleicht drei Sachen. Das eine ist, ich bin auf einer NebenerwerbsL-andwirtschaft großgeworden. Also wir hatten Hühner, 200, in den Spitzenzeiten mal, 800, und waren ein Familienbetrieb. Das heißt, nach der Schule gingen meine Schwester und ich erstmal in den Hühnerstall, füttern und Eier rausholen. Das war so die eine Erfahrung. Dann bin ich so mit elf in die Evangelische Jugend gegangen, und mit 16 in den Wandervogel Deutscher Bund. Also solche Jugendgruppen, wo die Gitarre eine bedeutsame Rolle spielte natürlich. Und ja, das sind, glaube ich, so persönliche Sachen, die mich geprägt haben. Und da zu sein war ich immer schon gewohnt, in Gruppen zu sein und vor Gruppen keine Angst zu haben. Ich habe inzwischen kapiert, dass es für manche Leute wirklich besser ist, wenn sie Einzeltherapeuten werden und bleiben. Weil, wenn die Mehrpersonen-Situation Furcht macht und man hat schon ein bisschen versucht, die zu überwinden, dann ist es wahrscheinlich ein Teil der Persönlichkeit geworden, und dann soll man das auch akzeptieren. Daher empfehle ich Leuten manchmal auch durchaus, Psychoanalytiker zu werden, weil ich das Gefühl habe, das passt zu ihnen.
Retzlaff Na ja, eine der schönen Erfahrungen, die wir gemacht haben in den Sommer-Intensiv-Kursen waren auch gemeinsame Feiern, Feten, und besonders schön war, wenn du und der Matthias Ohler zusammen Musik gemacht haben.
Schweitzer Vielleicht wir das ja dies Jahr noch mal machen. Kuckst mal in deinen Kalender.
Ohler Ich muss nochmal kucken. Jedenfalls habe ich teils einen Kurs in der Schweiz. Aber es würde mich natürlich sehr freuen. Da gibt es direkt eine Anschlussfrage, die ich persönlich gerne stellen würde. Wir hatten es davon im Vorgespräche, und Rüdiger hat dazu gesagt: Es gibt ja gewisse Quellen, aus denen man schöpft. In der langen Zeit, die du auch als Repräsentant der DGSF sehr viel politisch gearbeitet hast, muss man ein bisschen Streitbarkeit haben, wahrscheinlich eher Standfestigkeit, und man braucht Quellen, aus denen man schöpft. Mir scheint Musik – du hast es selber angesprochen, als 16-jähriger – Musik, Singen vor allem – ich weiß nicht, ob ich da richtig liege – scheint mir eine ganz besondere Quelle für dich zu sein. Was ist Musik für dich? Was macht es so bedeutend für dich persönlich? Und was würdest du denken, macht es zu etwas Bedeutendem für Menschen überhaupt?
Schweitzer Also Musik in der Form, die wir zusammen gemacht haben, ist auch ein Gemeinschaftswerk. Und ich singe nicht gerne für mich alleine.
Ohler Okay.
Schweitzer Dann bin ich auch kein besonders disziplinierter Sänger. Also meine Anträge bei ein oder zwei Chören aufgenommen zu werden, sind schon daran gescheitert, dass der Chorleiter sagte, das wäre ja ganz nett, aber ich wäre nicht diszipliniert genug, um zu einem ruhigen Klangteppich beizutragen.
Ohler So viel zum Thema Streitbarkeit ...
Schweitzer Musik macht mir einfach mehr Spaß im Gemeinsamen. Und dass trifft biologische Prozesse, neurobiologische Prozesse in mir, die ich spüre, auch wenn ich sie nicht benennen kann. Das würde mir einfallen. Also komplizierter Sachen, Theorien, könnte ich nicht anbieten.
Ohler Ich glaube, dass die meisten komplizierten Theorien eigentlich darauf basieren, was du als Erlebnis gesagt hast.
Schweitzer Ja, da ist noch was. In der Musik reizt mich ja insbesondere die Rhythmik. In unserer Rockband war ich Bassist. Schlagzeuger nicht. Dazu müsste man, glaube ich, noch mehr die Rechts- und Linkshändigkeit unabhängiger machen können. Ja, ich würde jetzt eigentlich gerne – als Rentner hätte ich ja jetzt Zeit – ... ich habe auch mal angefangen, wieder Gesangsunterricht zu nehmen. Mal sehen, ob die Energie reicht, um das weiter zu machen.
Ohler Und Basso continuo.
Schweitzer Die Gesangslehrerin hat festgestellt, dass ich ein Typ sein könnte für italienische Arien ... wenn es nicht so kitschig wäre ...
Ohler Jochen, ich glaube, wir sollten noch eine Frage stellen, die wir klassischerweise auch in die HSI-Forum übernommen haben. Wenn man sich trifft und spricht miteinander, dann denkt man sich ja auch, was wir denn thematisiert werden und vielleicht auch, was würde ich gern sagen, was würde ich gern gefragt werden. Oder es fällt einem während des Gesprächs etwas ein, und dann legt man es links ab, da komme ich noch drauf. Und jetzt es liegt da noch. Gibt es noch irgendetwas, von dem du sagen würdest: Ach, das würde ich gerne mich selbst noch fragen? Oder würde ich gerne noch kurz thematisieren. Oder vielleicht sogar ein Statement? Wenn nicht, dann nicht.
Schweitzer Ich fand das jetzt sehr umfassend in gewisser Weise und vollständig für das, was ich erwartet habe und habe, glaube ich, keine Wünsche offen. Aber doch, ich kann noch eine Sache sagen. Rüdiger sprach Gesellschaftspolitik an. Das ist, glaube ich, eine der Sachen, wo ich sagen würde, da ist, gemessen an dem Aufwand, den es für mich bedeutet hat, nicht so viel herausgekommen. Der alte Vorstand 2012 hat ja versucht, gesellschaftspolitische Debatten in der DGSF zu aktivieren, und das hat sich als viel komplizierter herausgestellt, als ich dachte. Zum einen war es natürlich in einem Verband mit inzwischen fast 9000 Mitgliedern extrem schwierig ... Ich habe die Heterogenität der politischen Auffassungen unterschätzt. Ich habe gedacht, die sind sich alle mehr oder minder so ähnlich. Kritiker würden sagen, die "Linksgrünversifften" ... aus dem AfD-Spektrum würde sowas kommen? Und das ist nicht der Fall. Und das andere: Es gibt ja ganz heterogene Vorstellungen, was man macht, wenn man sich mit Politik beschäftigt. Also beschäftigt man sich damit selber mit der Frage, wie gehe ich mit Altpapier um und wie entsorge ich, also ökologische Politik als Alltagsgeschäft? Oder soll ich mich gut informieren, damit ich zu allem eine Meinung habe? Oder will ich auch irgendwo eingreifen? Ich habe jetzt ganz zum Schluss noch, 2021, mit Diana Köhlenberg eine Untersuchung in der DGSF gemacht, was die da für Vorstellungen haben. Und die sind eigentlich so: Man sollte sich positionieren und engagieren, aber es darf nicht parteipolitisch sein und es muss was mit der eigenen Kompetenz zu tun haben. Es sind sehr viele einschränkende Bemerkungen dazu gewesen, so dass ich einfach gemerkt habe, dieses Experiment,"Wie viel Politik verträgt ein Fachverband?", das darf man nicht zu optimistisch – also optimistisch im Sinne meiner damaligen Annahmen – sehen. Und die Leute, die es jetzt übernehmen, haben da, glaube ich, kluge Konsequenzen daraus gezogen, dass ich sehr stark bei dem eigenen Erleben ansetzen kann. Das habe ich nicht so gemacht. Ich habe gleich mit Stellungnahmen angefangen zur Schließung der Balkanroute oder zu Hartz IV, zu den Sanktionen in Hartz IV. Übrigens soll das wieder abgeschafft, für ein Jahr darf nicht sanktioniert werden. Also wir waren schon auf der Spur, aber man hat es nicht gesehen damals.
Ohler Gut, dass du das noch erwähnst. Es gibt denen Recht, die sagen, man sollte machen und dranbleiben.
Schweitzer Und manchmal ist man dem Zeitgeist doch auf der Spur und weiß es noch nicht.
Ohler Das ist ein tolles Schlusswort. Danke für die Räume, dass wir uns hier treffen konnten zu den Heidelberger Systemischen Interviews.
Retzlaff Lieber Jochen, herzlichen Dank für Deine Schilderung. Ich fand es jetzt sehr reich und sehr vielfältig. Draußen ist es noch immer ein wunderschöner Maien-Abend. Eine wunderschöne Kulisse, würde ich sagen. Danke dir, Matthias, dass du das moderiert hast. Und schönen Abend noch.
Schweitzer Vielen Dank von meiner Seite. Vielen Dank. Ich fand es ein ganz einfühlsames Interview. Danke.