Politik auf dem Weg der Anerkennung

Im Rahmen der Gesprächsreihe zur Anerkennung der Systemische Therapie in Deutschland trafen sich im Sommer 2020 Sebastian Baumann, Rüdiger Retzlaff und Matthias Ohler. Sebastian Baumann war einige Jahre Geschäftsführer der Systemischen Gesellschaft und später hauptamtlich tätig für den Prozess der sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie. Im Gespräch gibt Sebastian Baumann Einblick in seine Erfahrungen aus der spannenden und auch aufreibenden Arbeit im politischen Kontext der Bundeshauptstadt Berlin. Welche Sensibilität und welches Wissen braucht es für politische Strukturen und Entscheidungsprozesse? Warum ist Vertrauen wichtiger als werbliche Kommunikation? Und wie gelingt die Balance zwischen Vertrauen und Konkurrenz?



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Transkription des Interviews


Ohler: Ja hallo, ihr beiden. Ich beginne mit Rüdiger Retzlaff, weil wir schon öfter zusammen gesessen sind und Gespräche geführt haben in diesem Themenformat, wozu der Rüdiger sicher gleich noch was sagen kann. Und wir haben heute zu Gast Sebastian Baumann, eine ganz wichtige Figur – abgesehen davon, dass er ein sympathischer Mensch ist – eine ganz wichtige Figur in der ganzen Geschichte und Entwicklung Systemischer Therapie und Beratung. Auch tätig in der SG als Vorstandsbeauftragter Psychotherapie und offenbar einer der Menschen, die eine bedeutende Rolle gespielt haben auf dem Weg zur Anerkennung der Systemischen Therapie, die ja im letzten Jahr erfolgt ist. Darüber werden wir uns freuen. Herzlich Willkommen, Sebastian. Du bist in Mannheim?


Baumann: Hallo Matthias, ja, ich bin in Mannheim in meiner Praxis, weil zuhause die Kinder sind, und ich dachte man hört besser, wenn nicht noch Kinderschreien (wir haben zwei dreijährige Mädchen zuhause) im Hintergrund ist. Deswegen bin ich in meiner Praxis, die neben dem Mannheimer Rathaus und dem Reiss-Engelhorn-Museum ist.


Ohler: Okay. Und Rüdiger, du bist in Heidelberg, oder? Wir sind über Zoom verbunden.


Retzlaff: Genau, ich bin in Heidelberg und ich bin auch in meiner Praxis, und ich freu mich sehr über diese abendliche Runde, die eigentlich eine Gesprächsreihe fortsetzt, die schon zu kühleren Jahreszeiten begonnen hat.


Ohler: Rüdiger, ich übergebe dir den Stab und dass ihr ins Gespräch kommt, mit Sebastian, der sicher spannende Sachen zu berichten hat, die du ihm entlockst.


Retzlaff: Ja, ich bin sehr froh, Sebastian, dass wir hier heute diese kleine Videoschaltung machen können. Die Frage, die ich eigentlich den Kollegen auch immer wieder gestellt habe: Wie bist du eigentlich zu dieser Arbeit gekommen? An der wissenschaftlichen beziehungsweise dann an der sozialrechtlichen Anerkennung, einem sehr großen Projekt, was wir Anfang des Jahres erfolgreich haben abschließen können, einigermaßen, erstmal auch. Work in Progress könnte man auch sagen. Wie ist es für dich losgegangen?


Baumann: Ich bin ja erst zum Teil der sozialrechtlichen Anerkennung dazu gekommen, das heißt mit der wissenschaftlichen Anerkennung und der Expertisegruppe und so hatte ich nichts zu tun. 2011 bin ich Geschäftsführer der Systemischen Gesellschaft geworden und habe da erstmal das Thema Therapie mit begleitet, war da aber noch nicht so richtig in dem Prozess drin. Dann haben wir 2012 eine Steuerungsgruppe gegründet zwischen SG und DGSF, und da waren damals Anni Michelmann, Enno Hermans, Hartmut Epple, Reinert Hanswille und Matthias Ochs und ich dabei. Jochen Schweitzer hat es eingestielt, während Bernhard Schorn, der Geschäftsführer der DGSF, den G-BA immer mit neuen Studien aus der Expertisegruppe versorgt hat. Wir haben das angefangen mit der Frage: „Was können wir als Fachverbände gemeinsam dafür tun, dass Systemische Therapie ein Kassenverfahren wird?“. Dann ist Anni Michelmann, die bis dato eigentlich die Einzige war, die engere Kontakte zu den anderen Psychotherpaieverbänden und auch in die Politik hatte, in den wohlverdienten Ruhestand gegangen, und es war klar, dass so jemand wie Anni nicht durch eine Person ersetzt werden kann, sondern es da gleich zwei für braucht. Weswegen sowohl die SG als auch die DGSF erstmals festangestellte Stellen ausgeschrieben haben. Bei der DGSF war es eine Referentenstelle, und bei uns war es der Vorstandsbeauftragte. Kerstin Dittrich, die das für die DGSF gemacht hat, und ich haben diesen Job von Anni Michelmann also zusammen übernommen. Das Vertrauen zwischen den Verbänden war so groß, dass ich als SG’ler sogar beim Auswahlgespräch der Referentenstelle der DGSF dabei gewesen bin, damit wir gut „matchen“. 2014 habe ich als Geschäftsführer aufgehört, um mich ab 2015 ausschließlich dem Projekt der sozialrechtlichen Anerkennung mit einer halben Stelle widmen zu können. Das war schon etwas Besonderes, dass wir dafür eine extra Stelle hatten, und es zeigte sich im Verlauf, dass sowohl wir Hauptamtlichen als auch viele Ehrenamtliche nötig waren, um dieses Projekt erfolgreich abschließen zu können.
Von den Pharma-Lobbyisten, die man in Berlin häufig trifft, habe ich gelernt, dass sie bei dieser elementaren Frage mindestens fünf Vollzeitstellen besetzt hätten. Wir hatten ja „nur einen Schuss“: Wenn es nicht geklappt hätte, wäre die Systemische Therpaie marginalisiert worden, ähnlich wie das leider die gesprächspsychotherapeutischen Kolleg:innen erleben mussten. Im Gegensatz zur Pharma haben wir ja nicht das nächste Medikament, falls es mit einem nicht klappt. Von dem her war ich sehr damit befasst, die letzten fünf, sechs, sieben, acht Jahre. Es gibt ja von David Schnarch so einen Satz für die Paarberaung: „Und müsste ich morgen sterben, dann wüsstest du wenigstens, mit wem du zusammengelebt hast.“ Bei mir wäre es so: Müsste ich morgen sterben, worauf wäre ich beruflich am meisten stolz? Dann wäre es tatsächlich, dass ich mit dazu beitragen konnte mit diesem großen Team, dass das geklappt hat mit der Kassenanerkennung der Systemischen Therapie.


Retzlaff: Du hast es eigentlich schon gesagt, du hast aus Pharmasicht für fünf gearbeitet. Das ist sicher ein riesen Einsatz gewesen. Und ich glaube, jemand, der diese Prozesse nicht zumindest am Rande mitbekommen hat, kann sich nicht richtig vorstellen, was da eigentlich dran ist. Und aus meiner Sicht was ganz besonderes, du warst ja auch in Berlin, sozusagen näher an der politischen Schaltzentrale dran. Und ich glaube, man muss im System auch präsent sein und dran sein um überhaupt inhaltlich gehört zu werden und man muss gute Inhalte haben, von denen ich überzeugt bin, dass wir die hatten, aber lange Zeit war es ja so, dass die wissenschaftliche Anerkennung da war, tolle Sache, für Erwachsene und Kinder, das war ein riesen Erfolg. In der Therapieforschung gibt es ja das sogenannte Problem „file drawer problem“, also das Schubladenproblem, dass gute oder schlechte Studien einfach verschwinden und nicht wieder hervorgekramt werden. Und es gab ja eine lange Zeit, wo sich auf dieser politischen Ebene nicht viel getan hat und wir gewartet haben, dass irgendjemand sich mal damit befassen möge und das war ja der Fall gewesen, aber es ging dann eigentlich nicht so richtig weiter. Kannst du deine Arbeit skizzieren für Leute, die nicht so in dieser Gremienarbeit drin sind?


Baumann: Du hast ein ganz wichtiges Stichwort genannt: Berlin. Da war es praktisch, dass ich damals da gelebt habe únd zu den Events mit der U-Bahn fahren konnte. Es ist tatsächlich so, man muss irgendwie in den Kreisen drin sein, weil es wie in allen politischen Entscheidungen das Offizielle und das Inoffizielle gibt. Für dieses Inoffizielle gab es aber keinerlei Vorerfahrungen. Wir kannten die Personen nicht, die Entscheidungen treffen und hatten keine Ahnung davon, “wie der Hase läuft”. Um sich in den entsprechenden Kreisen präsent zu machen, muss man, das habe ich dann verstanden, zum Beispiel Abendveranstaltungen besuchen. Es gibt große Veranstaltungen, die von den Playern - also die großen Player sind ja die vielen Krankenkassen bzw. ihre übergeordneten Bundesverbände, die Krankenhausgesellschaft und die kassenärztliche Bundesvereinigung sowie der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) selber. Der G-BA ist ja das - übrigens sehr mächtige - Gremium, wo das dann eben entschieden worden ist. Diese Stakeholder, wie sie im Politischen genannt werden, machen Veranstaltungen, Neujahrsempfänge, Frühjahr-, Sommer-, und Herbstfeste, Jubiläen etc. Doch zu denen muss man erst einmal eingeladen werden und es ist eine Herausforderung, da überhaupt hinzukommen. Das sah dann am Anfang so aus, dass ich am Abend dort hin gegangen bin ohne eine Einladung, weil ich am Anfang noch keine Einladung gekriegt habe, aber mich informiert hatte, wie man das macht, dass man da irgendwie trotzdem reinkommt. Man muss früh genug da sein, ist eine der Botschaften und seine Visitenkarte dabeihaben und bei vielen Veranstaltungen kommt man auch so rein und dann lernt man Leute kennen und dann gilt es, sich ein Netzwerk aufzubauen, das auf Vertrauen basiert. Das ist, glaube ich, etwas sehr Wichtiges. Dass man die Leute eben nicht nur damit zulabert, wie toll systemische Therapie ist, weil jeder der da unterwegs ist, hat ein Produkt, das er verkaufen möchte, oder Botschaften oder Informationen oder sonst etwas. Wenn man dann den ganzen Tag bzw. Abend sagt, wie wunderbar hilfreich systemische Therapie ist, macht man wenig Unterschied, weil alle anderen auch sagen, wie toll ihre Sachen sind. Überzeugtheit vom eigenen “Produkt” ist also gar nicht so der entscheidende Faktor, sondern so etwas wie, dass man weiß, dass man einander vertrauen kann. Das hab ich dann zum Beispiel daran gemerkt, dass selbst Kassenvertreter, die uns nicht wohlgesonnen waren, auf mich zugekommen sind um für Familienangehörige Therapie vermittelt zu bekommen. Wenn es um das persönlich Eingemachte ging, war ich Ansprechpartner. Ich würde sagen, das ist ein wichtiger Punkt, dass man aufeinander vertrauen kann. Und natürlich geht es auch darum, Informationen und ein bisschen eine Idee davon zu bekommen, was gerade der Stand des Verfahrens ist. Als Dachverbände sind wir ja nicht selbst Verfahrensbeteiligte, obwohl es einen selber ja total betrifft und deswegen würde ich sagen, sind wir Systemiker sehr geeignet dafür, weil wir ja in Netzwerken denken und weil wir autopoietisch denken und deswegen nicht nur immer unser eigenes Lied von der tollen systemischen Therapie singen, sondern uns auch überlegen, wie werden da normalerweise Entscheidungen getroffen, auf was kommt es da an, was bewegt die Leute gerade. Und da konnten wir glaube ich, bei einigen Themen, ganz gut auf einer Welle mit schwimmen, die für Entscheidungsträger:innen wichtiger waren als “noch so ein Psychotherpaieverfahren”, die bei manchem immer noch etwas Suspektes haben im biologistisch geprägten Gesundheitswesen. Was eben nicht nur heißt „systemische Therapie ist toll“, sondern zum Beispiel die Frage „wie lange braucht der G-BA, um Entscheidungen zu treffen?“. Das war intern, für den G-BA, eine sehr wichtige Frage, auch für die Politik war es eine sehr wichtige Frage. Und dass wir die mitgegangen sind, uns als Beispiel für verschleppte Verfahren zur Verfügung zu stellen, war wichtig.
Aber du hast ja auch schon angesprochen, Rüdiger, es war zunächst die Frage, wie bekommt man überhaupt jemanden dazu, diesen Antrag zu stellen? Man kann diesen Antrag nicht von außen - etwa durch SG und DGSF - sondern nur durch Player im G-BA selbst stellen. So wie der G-BA strukturell aufgestellt ist, gibt es nicht so viele natürliche Unterstützer, um da von außen als Neuer reinzukommen. Die Kassen sind besorgt, dass man mehr Kosten verursacht und für die anderen Verfahren, die in der KBV vertreten sind, ist man ja in gewisser Weise das Konkurrenzverfahren. Die Krankenhäuser haben für ambulante Fragen natürlich nicht so viele Eisen im Feuer. Bei dieser Gemengelage jemanden zu finden, der den Antrag stellt, das hat uns die Jahre 2012/13 beschäftigt. Und wir kannten damals ja vor allen Dingen nur Briefe zu schreiben, weil wir ja kaum Menschen direkt kannten. Deswegen war es glaube ich ganz wichtig, dass wir entscheidende Stakeholder auch mal in anderen Kontexten kennengelernt haben, was ja dann dazu geführt hat, dass 2013 der damalige Vorsitzende des entsprechenden Ausschusses, des Unterausschusses Methodenbewertung des G-BA, erstmalig in der Geschichte selber den Antrag gestellt hat auf Überprüfung und nicht wie üblich einer der Trägerorganisationen, also Kassen, KBV oder Krankenhäuser (oder Patientenvertreter:innen, die haben aber vergleichsweise wenig Einfluss im G-BA). Das war schon ein sehr wichtiger Milestone.


Ohler: Unbedarfte Seitenfrage: Das kommt mir gerade so vor, wie eine Paradoxie zwischen Vertrauen und Konkurrenz. Das finde ich ein sehr interessantes Anforderungsprofil und das finde ich sehr spannend, dass das Vertrauen da so eine große Rolle spielt, das war vielen gar nicht so klar.


Baumann: Ja genau. Und Konkurrenz aber eben auch. Und das ist auch wirklich so. Wenn man nur Everybody’s Darling ist und nur nett und lieb, dann fehlt halt die Hälfte, weil auch offensichtlich ist, dass man ein Ziel hat und dass es auch darum geht, dieses Ziel zu erreichen. Das ist aber auch jedem klar in diesem System, dass natürlich auch alle Interessen haben und der G-BA auch ein großer Interessensausgleichsvermittler ist. Keine leichte Aufgabe übrigens.


Retzlaff: Deine Schilderungen erinnern - und wir haben ja gelegentlich auch über diesen Prozess in Berlin gesprochen - erinnern mich so daran, wenn man neu in eine fremde Stadt kommt, ein Land, dessen Sprache man vielleicht nicht so gut beherrscht und man sich erstmal kundig macht, wer ist hier alles, wie ist das Terrain, was sind die entscheidenden Knotenpunkte entgegen zu manchen systemischen Ansätzen, denk ich schon, die Arbeit, die ihr oder wir gemacht haben, hat auch sehr deutlich gezeigt, es gibt sowas in Systemen und gesundheitspolitischen Systemen wie zentrale Schlüsselpersonen, die in Schlüsselpositionen sitzen und die man ansprechen oder gewinnen muss. Und wenn man das nicht macht, dann ist man immer draußen und macht so ein bisschen die Politik, die wir als Studenten in der Fachschaft gemacht haben: „wir fordern das“, bei denen man gegen verschlossene Türen anrennt. Auf Dauer tut das weh und bringt auch nicht so viel und es gibt ja die Maxime „Kommste nicht zur Vordertür, gehste zur Hintertür rein“ und diese Tür war ja im Grunde genommen auch erstmal sich ein Stück weit zu vernetzen und präsent zu sein, immer wieder Leute anzusprechen und ich find das ja bemerkenswert, dass es gelungen ist, jetzt auch den gemeinsamen Bundesausschuss so zu gewinnen, dass das einfach gestellt wurde. Kannst du kurz was dazu sagen, was dazu beigetragen hat? War das persönlicher Charme, Beharrlichkeit oder Kurz… Ist das irgendwie charakterisierbar?


Baumann: Erstmal hat der G-BA ja einen gesetzlichen Auftrag. Nach der wissenschaftlichen Anerkennung war eigentlich klar, der Schritt der Antragstellung im G-BA ist der nächste, irgendwann würde er kommen. Der G-BA hat aber parallel hunderte von völlig unterschiedlichen Projekten laufen und ein gesamtes Psychotherapieverfahren zu prüfen ist vergleichweise komplex.
Dann hatte man beim G-BA ja schon die Erfahrung mit der am Ende abgelehnten Gesprächspsychotherapie, die glaube ich auf allen Seiten viele Verletzungen hinterlassen hat. Deswegen war der G-BA da auch ein bisschen vorsichtig und hatte erstmal eine Vorprüfung unserer Studien gemacht, weil deren Idee nicht war, das nächste Verfahren rauszuprüfen. Und dann gibt es, glaube ich, schon manchmal so etwas wie ein Kairos, so ein Momentum … Könnte sein, dass für uns so ein Moment der 65. Geburtstag vom damaligen Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer Rainer Richter gewesen ist, weil Rainer Richter ja auch jemand ist mit einem sehr großen Netzwerk und er da viele eingeladen hat und das für uns auch eine Möglichkeit war, dort Menschen kennenzulernen und unser Problem einmal vorzutragen, aber persönlich vorzutragen und vielleicht auch mal in einer lockereren Atmosphäre als wenn man sonst vielleicht ein offizielles Gesprächsgesuch gestellt hätte, was möglicherweise abgelehnt worden wäre. Da waren damals Cornelia Östereich eine sehr wichtige Person dafür, Hans Schindler - als er noch lebte - war da, Anni Michelmann, Hartmut Epple waren da, ich hatte den Erstkontakt gemacht und das war so ein Abend, der war da recht wichtig, weil wir mit vielen Personen sprechen konnten, um einfach mal das Dilemma klar zu machen. Und ich glaube Cornelia Östereich hat das damals auch sehr gut als ärztliche Direktorin einer Psychiatrie verdeutlichen können, was es bedeutet, dass systemisch eben nur stationär angewandt werden kann und nicht ambulant.


Retzlaff: Was waren denn für dich so die größten Hindernisse, die es zu überwinden galt und was waren Höhepunkte und Tiefpunkte auf diesem Weg?


Baumann: Also, ich würde sagen, Hindernisse waren erstmal, dass wir nicht kapiert haben, wie das Spiel funktioniert. Das hat ein bisschen gebraucht, bis wir das verstanden haben, dass die politische Willensbildung eine eigene Aktivität erfordert, die, ähnlich wie du es vorher beschrieben hast, nicht in selbstgerechtem aber wirkungslosen Protest endet und auch nicht darin, Briefe zu schreiben, sondern, beim Fußball würde man vielleicht sagen, in den Strafraum gehen, dahin, wo es wehtut. Denn man ist da natürlich auch immer so ein Bittsteller, das ist vielleicht nicht immer so eine angenehme Position, aber das würde ich sagen, war ein Hindernis, was wir ganz gut überwunden haben.
Was manchmal etwas schwierig war, in dieser politischen Gemengelage: Es geht natürlich auch darum, den Gegner zu analysieren und auf Schwächen abzuklopfen, also sozusagen das Gegenteil von dem was wir in der Psychotherapie machen, weil es ja gerade in der systemischen darum geht, Stärken abzuklopfen und vielleicht welche anzunehmen, wo die Person sie selber nicht annimmt. Von einigen Kassenvertretern hab ich das erlebt, das sind schon ausgebuffte Profis, die gerade am Anfang ganz gut darin waren, einzuschätzen, wo man jemanden (hin)kriegen könnte. Da hat mir irgendwann die Fußballmetapher geholfen, der ich als Fußballfan aufgeschlossen bin, und die für mich die Einschätzung des “Bösen” im strategischen Analysieren rausgenommen hat: Wenn ich will, dass Deutschland Fußballweltmeister wird, weiß ich, dass Jogi auch eine Analyse des Gegners macht und dort auch Schwächen des Gegners analysiert und schaut, was man damit anfangen kann. Aber das habe ich am Anfang als persönlich bedrohlich erlebt und fand es nicht schön, dass so miteinander umgegangen wird. Oder wie Informationen gegeben werden oder wie Gespräche dafür genutzt werden, gezielt falsche Informationen zu streuen. Da waren so ein paar Sachen dabei, die fand ich nicht so schön. Aber so ist das, wenn man mit einer gewissen Naivität für die Härte des Geschäftes rangeht. Am Ende ist die Frage, wer wem wie weh tun kann eine nicht ganz unentscheidende, auch wenn das jetzt vielleicht etwas unromantisch ist. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir bei all dem immer sauber geblieben sind. Da gab es manchmal Angebote, gerade von der Pharmaseite, sich für uns einzusetzen, wenn wir uns als Verfahren der Psychotherapie, die einen guten Ruf hat, als moralisches Feigenblatt für offensichtlich nicht so gute Ziele mit stark machen würden.
Und Highlights gab es wirklich ganz viele. Zunächst denke ich da an die beiden Verbände. Da war es irgendwann total egal, ob man DGSF oder SG ist. Die Leute von außen konnten uns sowieso nicht unterscheiden, die fingen dann schon mit der judäischen Volksfront und von der Volksfront von Judäa an Witze zu machen, wer das von Monty Python kennt. Nach außen hin waren wir einfach die systemischen Gesellschaften und gut ist. Keiner hatte die Sorge übervorteilt zu werden und dass der eigene Verband nicht gut genug wegkäme. Das fand ich toll. Sowohl innerhalb der Steuerungsgruppe, aber auch mit der Expertisegruppe zusammen. Also mit dir, Rüdiger, mit Kirsten von Sydow, mit Markus Haun, der sehr wichtig war, mit Stefan Beher und Matthias Ochs. Das war sehr wichtig, dass wir auf vielen Ebenen gute Leute hatten, die kooperativ miteinander zusammenarbeiten und nicht ihr eigenes Ding machen. Denn es gibt schon Situationen, da wird man mal gehyped und denkt “ha, ich weiß jetzt viel mehr als Andere“ oder so. Was mache ich jetzt mit dieser Information? Behalte ich sie für mich und das ist mein Herrschaftswissen? Dass wir alles miteinander geteilt haben, habe ich als eine ganz große Stärke erlebt. Da sind wir auch sehr kreativ gewesen. Das bleibt für mich wirklich ein Highlight. Ja und dann der Entscheidungsmoment im G-BA. Am 22.11.2018, die alles entscheidende öffentliche Sitzung. Es gilt die Mehrheit der 13 Stimmen zu erreichen. Fünf haben die Kassen, die sind gegen uns, das ist klar. Fünf hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die sind für uns, das war auch klar, wen nauch nicht von Anfang an selbstverständlich. Aber wie die drei Unparteiischen - so heißt die Funktion der drei vom Gesundheitsausschuss des Bundestages gewählten Personen - entscheiden würden, auf das kam es an. Als sich dann in der Sitzung andeutete, dass sie alle drei für uns stimmen würden, da stockte mir der Atem. Im Vorfeld sagte ich zu den Anderen: “Liebe Kollegen, ihr wisst, wenn wir das Ding verlieren, werde ich in eine tiefe Depression verfallen und ich bitte euch jetzt bereits um Therapiegutscheine, weil ich sie hinterher brauchen werde“. Ich war mit deisem Prozess schon sehr verbunden und er hat mir auch einiges an Schlaf gekostet, weil ich zwischendurch mal nicht mehr wusste, wer uns für was benutzen wollte und wer für und wer gegen uns ist. Als es dann gut gegangen ist, war das eine großartige Sache. Ich glaube die Auswirkungen werden wir erst in ein paar Jahren so richtig bemerken.


Retzlaff: Hmm.. Du hast gesagt, dass es natürlich gewesen wäre, dass die Kassenvertreter nicht für die systemische Therapie gestimmt hätten. Und ich hab das lange davor eigentlich ganz anders erwartet. Wir haben ja immer wieder auch Studien von Russell Crane, den ich in Berlin auf der Tagung kennengelernt hatte und der uns ja auch immer wieder fantastische Kostenstudien geliefert hat und ich hab auch immer wieder versucht, das Publik zu machen, auch in Kassenkreisen, über die Kammer und über Artikel und so. Dass eine gut gemachte systemische Therapie letzten Endes für die Betroffenen, die Klienten, die Patienten sehr viel bringt, aber auch für die Kassen eigentlich ein erhebliches Sparpotential hat und gerade bei schweren Krankheiten, die nicht so richtig in der Versorgungslandschaft abgedeckt sind, wirkt und so weiter. Und da hab ich gedacht, eigentlich würden die Kassen eher auf unserer Seite sein und die KBV, die eher die Mitanbieter, also die Mitwettbewerber vertritt, eigentlich nicht. Und das fand ich völlig irre. Aber man muss auch verstehen, dass die Kassen natürlich auf dem Geld sitzen und sagen, alles zu teuer und die müssen zusammenhalten. Da gabs dann also immer wieder auch Überraschungen. Was hat dir an dem Prozess eigentlich am meisten Freude gemacht?


Baumann: Ja, sag ich sofort. Ich sag noch kurz einen Satz zu den Kassen. Ich hab so holzschnittartig gesagt „die Kassen“. Das ist natürlich auch eine heterogene Gruppe. Es gibt ja viele Kassen und es gibt am Schluss den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, wo alles gebündelt wird. Es gab Kassenvertreter, die aus den von dir genannten Gründen für uns waren und die waren extrem wichtig, ohne die hätten wir es wirklich nur schwer geschafft. Aber ich glaube, die Kassen hören sehr oft „wenn ihr das bezahlt, kommt es euch am Schluss billiger“. Ich glaube, das ist ein Argument, was sie aus ganz vielen Richtungen kennen. Ich glaube, die trauen dem nicht mehr so ganz richtig, weil sie natürlich unsere eigenen Interessen auch sehen. Aber es ist schade, weil das Innovationen ein bisschen schwierig macht. Man ist schnell in so einem Lager: das sind die Leistungserbringer, die wollen immer mehr Geld. Ich glaube, es gibt so Ideen voneinander, da würde es ein wertschätzenderer Blick wahrscheinlich ein bisschen leichter machen oder man würde wirklich auf noch mehr innovative Dinge kommen. Am meisten Spaß gemacht hat, glaub ich, wenn man an so einer Stelle mit gestalten kann. In einem Team in einem so entscheidenden Moment für die systemische Therapie in Deutschland mittendrin sein zu können, wo die Quellen ja auch immer zusammengelaufen sind. Das fand ich schon etwas wirklich Tolles. Wenn man dann ein paar Jahre dabei ist, dann sind es auch immer die gleichen etwa 200 Leute, die auf so Abendempfängen der Gesudheitspolitik unterwegs sind. Man kennt sich, man schätzt sich. Irgendwann hatte ich dann einen gesundheitspoltischen Stammtisch für alle, die auch im Prenzlauer Berg in Berlin wohnen mit einer Kollegin aus der Deutschen Krankenhausgesellschaft zusammen, die ich bei einem Abend für syrische Flüchtlinge kennengelernt hatte, ins Leben gerufen. Dieser Stammtisch war ein Ort, wo man über diese üblichen schwarz-weiß-Grenzen - ihr seid die Bösen … aus Leistungserbringersicht sind ja immer die Kassen die Bösen, die das Geld nicht geben und aus Kassenseite sieht es natürlich genau andersrum aus - dass die zusammenkommen. Es gibt natürlich einige solcher Stammtische in Berlin, das besondere hier war, dass man anders miteinander ins Gespräch gekommen ist und gemerkt hat, jeder hat an seinem Arbeitsplatz doch, zumindest auf einer formalen Ebene, ähnliche Themen, mit denen er zu kämpfen hat in seiner Organisation. Und dann ist es auch egal, ob man von der oder der anderen Seite arbeitet.


Retzlaff: Hmm.. Und gab’s irgendwas, das dich voll genervt hat? Was war am nervigsten?


Baumann: Also es gab schon so einen Teil. Ich mag die Rolle des Bittstellers nicht so gerne; das waren wir aber. Das eine oder andere Telefonat hat mich so richtig Überwindung gekostet. Eine ganze Reihe von Menschen und Institutionen wollten uns nicht im System haben, aber wir wollten es unbedingt und da galt es manchmal über seinen Schatten zu springen, das hat Nerven gekostet. Es gab auch die eine oder andere Beziehung, wo ich mir gedacht habe: schade, dass das auf so einer ganz kühlen Ebene geblieben ist. Mit einigen war das anders, egal von wo die kamen und auch egal, ob man in der Sache diametrale Interessen hatte. Da gab es trotzdem eine andere Ebene - ich würde sagen von Mensch zu Mensch. Es gab bestimmt noch andere nervige Sachen, aber ich ticke so, dass ich die bald vergessen habe. Spannend war es mitzubekommen, wie Entscheidungen im Gesundheitswesen fallen und wer da so alles mitspielt. Wir hatten ja die sehr gute Studienlage durch das IQWiG bestätigt, aber das ist ja nicht immer so. Im Gesundheitswesen geht es um sehr viel Geld, mehr als 300 Milliarden werden jedes Jahr umgesetzt. Damals wusste man ja noch nichts über Maskendeals etc. Man kann jetzt nur keine Tagesschau mehr gucken, weil man weiß, dass das allerhöchstens die halbe Wahrheit ist, die da präsentiert wird. Nicht, dass gelogen würde, aber Entscheidungen kommen dann doch öfter anders zustande als öffentlich verkündet wird.


Retzlaff: Hmm..


Ohler: Höre ich da einen Rat raus? Von einem Erfahrenen im Umgang mit Medien für Andere?


Baumann: Ja, also zumindest mal, wenn es denn schon öffentlich wird, dann ist schon viel vorher passiert, sag ich mal. Es ist immer eher die Spitze des Eisberges. Aber ich glaube gleichzieitg, es braucht auch solche Räume, in denen man mal etwas besprechen kann, was nicht gleich öffentlich wird. Davon lebt das natürlich. Wir hatten vor der Entscheidung einen parlamentarischen Abend gemacht und eine Pressekonferenz im Bundespresseamt abgehalten. Da kamen auch Fragen zum Hintergrund der Entscheidung, die wir dann für die Journalist:innen mit “unter drei” gerahmt haben. Es sind eben Hintegrundinformationen, die nicht zitiert und verbreitet werden dürfen. Ein Bild hat sich bei mir besonders eingeprägt, der von unserer politischen Beratungsagentur kam: „Weißt du, Sebastian, du musst dir das so vorstellen: Das sind ja immer dieselben 200, 300 Leute, die da so unterwegs sind im Gesundheitswesen und das ist wie wenn wir alle eine Affenherde wären, die über eine Steppe läuft. Du musst dich dieser Affenherde anschließen, dazugehören, dann teilen sie irgendwann die Ressourcen mit dir.” Dieses Bild hat mich die ganzen Jahre sehr begleitet. Es steht dafür, in den Kontakt zu gehen, mit dabei zu sein, über dieselben Dinge sprechen können, über dieselben Dinge lachen können. Vielleicht auch über manche Sachen weinen können, aber so zeigt man sich ja meistens nicht, aber ich glaube das ist ein wichtiger Teil dieser Arbeit.


Retzlaff: Das bestätigt dann, was du beschreibst, bestätigt ja eigentlich auch diese uralte Erkenntnis von Bateson, dass wenn die Beziehungsebene stimmt, die Chance auf der Sachebene weiterzukommen, viel größer ist als wenn man auf der Beziehungsebene ein Gerangel hat. Und für mich war so ein Zeichen dafür, dass da ganz viel Positives passiert ist, dass mehr und mehr Fachverbände, der Mitanbieter der anderen Therapieverfahren das eigentlich unterstützt haben und auch die Landeskammer und die Bundeskammer, das find ich ist ne ganz tolle Sache. Die hätten ja auch sagen können, das sind die Neuen,  die hier zünftemäßig kommen und rein wollen. Und die haben das aber ja, zum Schluss zumindest, sehr sehr unterstützt aus Solidarität und vielleicht auch aus dem Gefühl, dass sie das inhaltlich gut finden. Kann ich gar nicht genau sagen, aber das war ja ne tolle Sache, dass wir da so viel Rückenwind bekommen haben, auch bei den Stellungnahmen, bei IQWiG da wurden wir ja sozusagen immer angehört und da haben wir sehr viel Zustimmung und Rückenwind bekommen, finde ich. Und das liegt sicherlich auch an deiner und eurer Arbeit in Berlin, dass das so gelungen ist und auch eben an den Leuten aus den Landeskammern und so weiter.


Baumann: Ja und wenn du Landeskammern sagst: Ich hab gerade nochmal an Anni Michelmann an Birgit Breyer, Hans Schindler gedacht und die frühere Strategiegruppe der Verbände. Ich fange gar nicht erst an die Namen alle aufzuzählen, weil ich garantiert welche vergesse und das möchte ich nicht. Wir haben mit der Steuerungsgruppe ja nicht angefangen 2011/12, sondern die Bemühungen haben ja schon eine ganz lange Geschichte. In der Zeit noch vor der wissenschaftlichen Anerkennung, wo man ja viel schwieriger für das Systemische stehen konnte. Nach der wissenschaftlichen Anerkennung 2008, da hatte man ja immerhin schon einmal ein externes Gütesiegel drauf, das hat es natürlich einfacher gemacht. Wenn ich überlege, wie das vorher in den Kammern gewesen sein muss, wo man diese Anerkennung nicht hatte und dann zwischen etwas Esoterischem oder keine Ahnung was lief, auf jeden Fall nichts ganz Fundiertes. Die Kollegen hatten es echt noch schwerer. Von diesen Pionieren haben wir den Staffelstab übernehmen können. In den Dachverbänden SG/DGSF sind ja vor allen Dingen Kolleg:innen, die in der Jugendhilfe, in der Beratung und im arbeitsweltlichen Kontext organisiert sind und wenige aus dem Gesundheitswesen. Schon 2012 haben sich bei einer online-Umfrage 80% der SG-Mitglieder dafür ausgesprochen, sich für die sozialrechtliche Anerkennung einzusetzen. Und das obwohl man wusste, dass man in der Jugendhilfe nicht direkt, nicht in erster Linie sofort davon profitieren würde, weil ja klar war, dass nur Kollegen und Kolleginnen mit Approbation später mit der Kasse abrechnen können. Aber wenn wir diese Mitglieder nicht gehabt hätten, weil die ja die Verbände finanzieren, dann wäre das auch mit der sozialrechtlichen Anerkennung nichts geworden, da bin ich mir ziemlich sicher. Von dem her find ich es heute manchmal fast ein bisschen schade, dass manche aus der Jugendhilfe da nicht mit noch mehr stolzgeschwellter Brust kommen und sagen „ohne uns hättet ihr das nicht hingekriegt!“


Retzlaff: Jeff Zeig hat mal gesagt, es gäbe in der Psychotherapie so kurze und so lange Wellen. Und kurze Wellen wären immer so ein drei- bis fünf-Jahreshype, da gäb’s dann immer Weiterbildungen und tralala und wenn man was erreichen will, müsste man in eine lange Welle kommen, die dann so 15 Jahre weiterschwappt. Das bedeutet aber dummerweise auch, dass man rein muss in die Struktur. Und du bist ja auch wirklich in die Berliner Strukturen vorgedrungen und hast dich da vernetzt, wo wir Systemiker eigentlich den Anspruch zumindest haben, dass wir Experten sind und jetzt stehen wir aber natürlich auch vor neuen Herausforderungen, weil es geht nichts ohne einen Preis auch und was siehst du denn jetzt nach der wissenschaftlichen und der sozialrechtlichen Anerkennung jetzt auch, was siehst du denn jetzt auf das Feld der systemische Therapie zukommen?


Baumann: Eher kurzfristig müssen wir natürlich noch die Kinder und Jugendlichen durchkriegen, das ist jetzt nochmal auf der G-BA-Ebene. Und ansonsten, ich glaub wir müssen noch mutiger werden. Wir haben ja etwas anzubieten und wir waren bis jetzt immer die Underdogs und die Opposition, auf die nicht gehört wurde und da muss man glaub ich, ein bisschen aufpassen, dass man jetzt aus dieser Rolle rauskommt. Dass man jetzt mutig anbietet, was wir anbieten können. Und wenn ich sehe, wie unsere PiAs, also die Psychotherapeuten in Ausbildung, wenn die jetzt in die Kliniken kommen, bekommen wir plötzlich Anfragen wie: „Könnt ihr uns mal zeigen wie man „Reflecting Team“ macht, weil unsere PiAs erzählen das so begeistert“. “Wir sind zwar aus einer anderen Tradition, möchten aber lernen, Familiengespräche zu führen. Wie macht ihr das?” Ich denke wir kommen etwas mehr mit Macht in Verbindung, weil wir jetzt selber stärker gestalten können und ich glaube wir sollten das annehmen ohne gleich auf die ganz andere Seite zu gehen. Es gibt ja auch die, die mahnen: „werdet nicht Mainstream!” Sie meinen damit z. B. dass wir plötzlich nicht mehr über Menschen, sondern über Diagnoseträger sprechen oder dass man halt seinen Praxisalltag im 50 Minuten-Rhythmus runterreißt und in 20 Jahren keinen Bock mehr hat. “Bleibt irgendwie quirlig!”. Da liegt mir auch ziemlich viel dran, nicht verkrustet zu werden, weil man ge(satt)elt ist. Das glaube ich, ist eine große Herausforderung. Wahrscheinlich ebenso, wie die Familien in die ambulante Therapie zu bekommen und in diesem Setting von 50 oder 100 Minuten auch etwas anzubieten, was nicht nur Einzeltherapie ist. Das ist ja von einigen eine Sorge, auch von dir glaube ich, Rüdiger, dass wir jetzt nicht nur Einzeltherapie anbieten.


Retzlaff: Das war ja ein Punkt, der uns am Ende sehr bewegt hat, auch dich und mich und die anderen in der Steuerungsgruppe. Wie viel kann man verlangen? Kriegt man das durch? Ist das realistisch oder nicht? Und ich glaube, ob das besser honoriert wird, weil Familiengespräche ja auch aufwendig sind, ist meines Wissens noch nicht ganz geklärt. Am ersten Juli sollte eigentlich alles durch sein. Ich habe hier ein dickes Buch, den neuen EBM von der kassenärztlichen Vereinigung gekriegt, mit elfhundert Seiten, Stichtag 1. April. Das haben wirklich eine riesen Menge von Ärzten, Psychologen, Psychoherapeuten und Kindertherapeuten gekriegt, aber die systemischen Ziffern sind noch nicht drin. Ich war ein bisschen enttäuscht, ich hatte im Kopf, da stand drin ab 1. Juli, und ich hoffe total, dass es dann im Sommer so weit sein wird und die letzten Punkte für den Erwachsenenbereich dann auch geklärt sind. das wär dann auch ein inniger Wunsch von mir und dann schaut man dann einfach weiter.


Ohler: vielleicht liegt es am ersten April, am Erscheinungsdatum


(Gelächter)


Baumann: Zumindest spielt einem da ja in die Karten, dass es zumindest nicht mehr auf den good will von jemanden ankommt, sondern sechs Monate nach Beschluss, also nach dem 24.1.20, an dem die neue Psychotherapie-Richtlinie in Kraft getreten ist, eine Leistung auch abgerechnet werden können muss. Zumindest da ist man mal safe, dass da nichts mehr passieren kann. Es wär schön, wenn es zum 1.7.20 dann losgehen kann, aber ich gehe davon aus.


Retzlaff: Ja Hmm.. Ja, schön.


Ohler: Du hast vorhin schon die Minuten genannt, Sebastian. Deshalb muss ich jetzt diese unruhige Rollen des zeitlichen Bittstellers nehmen. Vielleicht werden auch manche Hörerinnen und Hörer denken „warum will der jetzt aufhören?“. Nein, also wir haben ja so einen Zeitraum gemacht. Rüdiger, hattest du noch eine Frage, die du Sebastian stellen wolltest, für heute?


Retzlaff: Nee, ich würde Sebastian, dir und vielleicht auch den anderen die auf politischer Ebene so fantastische Arbeit gemacht haben, nochmal meinen Dank aussprechen. Ich glaube, es geht eben nicht nur um Inhalt und Wissenschaft oder solche Dinge, sondern auch, dass man die gut vertritt und das Eine ohne das Andere wäre, glaube ich, nicht gelungen. Und das ist ein ganz wesentlicher Beitrag gewesen und der hat uns enorm weitergebracht und das finde ich einfach Klasse!


Baumann: Gerne. Dankeschön dafür.


Ohler: Sebastian, eine kurze Abschlussfrage. Hattest du irgendeine Frage erwartet oder dir vielleicht sogar gewünscht und die kam jetzt nicht? Dann wäre jetzt die Gelegenheit sie dir selbst zu stellen und wenn du willst auch zu beantworten oder auch nicht.


Baumann: Jetzt hoffe ich, dass ich selbst dich, Matthias, und dich, Rüdiger, nochmal insofern überraschen kann, als dass es bei mir eher andersrum gewesen ist: Ich hatte eher befürchtet, dass bestimmte Fragen kommen könnten, die mich in die Bredouille bringen. Etwas sagen zu sollen das zum informellen und stillgeschwiegenen Teil gehört, der nicht veröffntlicht werden kann. So fällt mir jetzt keine weitere Frage ein, die ich gerne gestellt haben würde.


Ohler: Wie wichtig das ist, hast du ja gezeigt, und ich glaub, das hat die Welt auch verstanden. Rüdiger, Sebastian, vielen Dank für die Zeit in diesem Raum, diesem Gesprächsraum, in den drei verschiedenen Räumen, in denen wir uns aufhalten. Ich würde jetzt eigentlich gerne ein Glas erheben und anstoßen, das müssen wir dann real irgendwann nachholen. So weit voneinander weg sind wir ja nicht.


Baumann: Ja, das stimmt, das ist ja alles ganz in der Nähe. Ja, danke für diese tolle Gelegenheit, danke für diese Fragen, auch weil das für mich nochmal schön ist, weil ich es noch einmal durchlebt habe in der Erzählung. Und danke auch für eure Anerkennung.


Ohler: Vielen Dank und auf bald. Chapeau!


Baumann: Genau, auf bald!


Retzlaff: Danke!