Begegnungen mit Spencer-Brown IXa

Nachtrag (hab ich noch gefunden, gehört weiter nach vorn):


2.10.1993


Ich hole George Spencer-Brown vom Flughafen ab. Er sieht ebenso abgewrackt aus wie in London und er stinkt auch genauso. Er lächelt bei der Ankunft etwas unsicher und geht im Sturmschritt an mir vorbei, hastet weiter. Später erklärte er, daß ich anders ausgesehen hätte als in London. Außerdem - so stellt sich heraus - ist er auf der Suche nach einer Toilette.


Während der Fahrt begeistert er sich an dem vielen Wald um den Frankfurter Flughafen herum. Er war noch nie in Deutschland, hat sich nie für dieses Land und die Leute interessiert. Das ist jetzt anders, er fühlt, daß jetzt seine deutsche Zeit kommt. Deutsche Frauen interessieren sich für ihn, rufen bei ihm an wegen seiner Stimme, wollen ihn kennenlernen. Eine davon, Tinkerbell (Katinka Welz oder so ähnlich), war bei ihm. Sie hat eine Hakennase, mitten aus einem ansonsten wohlgestalteten Gesicht herausragend, was bei ihm alle Regungen auf den Nullpunkt bringt. Eine Operation wäre die Lösung. Er scheint erleichtert bei dieser Idee.


Heinz von Foerster fällt ihm ein, auch ein Deutscher oder so etwas Ähnliches. Ein furchtbarer Mensch. Er hat zwar eine gute Review über die Laws of Form geschrieben, aber in seinem Seminar (- wahrscheinlich in Esalen), war er unmöglich. Erst hat er von einer der hinteren Reihen diskutiert, von George nach vorne gebeten hat er eine halbe Stunde ohne Unterbrechung gesprochen. Eine Puppe, die man aufzieht. Output without input.


Ich frage ihn, was er im letzten halben Jahr gemacht hat, seit wir uns zuletzt getroffen haben. Ein mathematisches Werk abgeschlossen, an dem er dreißig Jahre gearbeitet hat. Irgendein Verfahren, um herauszufinden, ob eine Zahl eine Primzahl ist (falls ich das richtig verstanden habe). Offenbar ein großes Problem der Mathematik, das bislang noch nicht gelöst wurde. Aber es wird ihm wohl keine Anerkennung bringen, da er es auf eine Weise gelöst hat, an die bisher noch keiner gedacht hat. Publiziert hat er noch nichts davon. Es ist fast unmöglich, mathematische Werke zu publizieren, wenn man sich nicht an die Konventionen hält, zitiert usw. UniversitÑten sind genauso schrecklich. Alle Großen waren außerhalb der UniversitÑten. Gauss fällt ihm ein, auch außerhalb der Universität. Einfache Sprache, alles Große ist einfach.


Sechs Jahr hat es gedauert, bis die Laws of Form zur Publikation angenommen wurden. Der alte Unwin (Allen & Unwin), der Verleger Russells, hat es genommen, weil Russell es mochte. Nur deshalb hat er auf Gutachter verzichtet, sonst hätte es keine Chance gehabt. Als es dann so weit war, starb Unwin, und alles begann von vorne mit seinem Sohn. Schrecklich.


Angekommen in Heidelberg, findet er die Einfahrt in Handschuhsheim schrecklich, Polizeiautos sind grün, nicht blau, er war noch nie im Ausland, außer in den USA und Holland. Heidelberg selbst ist pittoresk. Wir gehen die Hauptstraße lang, suchen nach einem Platz, wo es Rührei gibt. Bei Schafheutle besteht er darauf, seine ersten deutschen Worte zu erproben: Zwei Rührei mit Schinken. Die Kellnerin gefällt ihm. Er wußte nie, daß es solche Frauen hier gibt (ca. 20 Jahre, kurze braune Haare, breite Hüften). Ob ich die Schachweltmeisterschaft verfolge? Gary Kasparow gewinnt gegen den Engländer, der so schlecht spielt wie vor ihm noch nie jemand bei einer Weltmeisterschaft. Die Tragik der Engländer ist, daß sie solch eine große Sympathie für Verlierer haben. Man gewinnt bei ihnen nur, wenn man verliert.
Er will Geld wechseln. Das geht nur am Bahnhof. Weiter die Hauptstraße langzugehen lohnt sich nicht, es sei sowieso nur Mehr-desselben. Auf dem Weg zum Auto diskutieren wir, ob er Rassist sei. Ronnie Laing hat ihm das auch vorgeworfen. Die Schwarzen in London stellen den größten Anteil an Kriminellen, sehr gefährlich. Sei wohl doch eher eine Frage der verschiedenen Kulturen als Rassen. Enoch Powell ist nicht Ministerpräsident geworden, weil man ihn für einen Rassisten hielt. Französinnen erkennt man sofort an ihrem Gang. Wahrscheinlich nichts Genetisches.


Der Wechselkurs ist nicht gut genug auf der Bahnhofsbank. In England gibt es keine Banken an Bahnhöfen, man kann nicht ins Ausland fahren.


In unserem Institut findet er die Bilder schrecklich, sonst ist es ein Ort mit guter Atmosphäre. Dirk Baeckers Buch über den Kalkül der Form, das ich ihm gebe, tut ihm gut. Er versucht, es zu lesen, entdeckt zitierte Arbeiten die er unter anderen Namen veröffentlicht hat. Er ist ohne Persönlichkeit, deswegen hat er die Namen jeweils gewechselt. Es ist nicht gut, eine Identität zu haben. In letzter Zeit merkt er, daß die Menschen nur an Menschen interessiert sind. Ihr Werk ist unterschieden von ihnen, fremd, ein Teil der Welt, hat mit ihnen nichts zu tun. Er ist müde, ich bringe ihn ins Hotel.


Im Hotel muß ich auf ihn warten, er beginnt ein Gespräch mit dem hübschen jungen Mann am Empfang, der sehr gut Englisch spricht, wir fahren dann schweigend zu mir nach Hause.


Peter und Sophie sind schon da, Christel hat Sherry eingegossen. Er kann Sherry nicht ausstehen, nichts von dem, was wir anzubieten haben, mag er. Er ist empört, daß kein Wodka im Haus ist. Schließlich wüßte ich, dass er nur Wodka mit Tomatensaft trinkt. Ob ich Scotch habe. Nur irischen und kanadischen Whisky. Er besteht auf Wodka. Ich solle gehen, und Wodka und Tomatensaft kaufen. Wenn ich Beethoven eingeladen hätte, hätte ich mich auch vorher erkundigt, was er trinkt. Er ist aber nicht Beethoven, wirft Peter ein. Das ist richtig: Er lebt noch. Es ist unerhört, daß kein Wodka da ist, ich hätte gewußt, daß er Wodka trinkt. Ich gebe ihm recht und gehe Wodka kaufen.


Die Flasche geht nicht auf, er holt sein dreckiges Taschentuch aus der Tasche und versucht, die Flasche zu öffnen. Ohne Erfolg. Als ich sie endlich auf habe, besteht er auf Eisstücken und Worcestersauce. Daß er Gemüsesaft statt Tomatensaft serviert bekommt, fällt ihm nicht auf.


Beim Essen hat er keine Bedenken, die Lasagne zu essen, sie scheinen ihm sogar zu schmecken. Werner Erhardt hat sein Training ganz auf den Laws of Form aufgebaut: Erst das Ego der Zuhörer brechen, dann zu ihnen sprechen.


Peter will - ganz auf der Ebene: Wir Jungs aus dem Sauerland - mit ihm Gimmicks austüfteln, um ihn besser in Deutschland verkaufen zu können. George geht mit, raucht Sophies Zigaretten, erzählt von seiner Zeit als Hypnotiseur seines Bruders. Als er versuchte, auch seine Schulklasse in Trance zu versetzen, hat sein Lehrer ihn mit der Bemerkung, Jesus habe erst ab seinem 30. Lebensjahr Wunder getätigt, zur Ordnung gerufen.


Ronnie Laing war ein Mann, der an seiner Kindheit gescheitert ist. Ich kann ihn nur mit Mühe davon abhalten, vorzumachen, wie er in Laings Wohnung die Wand hochgelaufen ist.


Auch Wittgenstein ist ziemlich verrückt gewesen. Eines Nachmittags ging er mit ihm in Cambridge spazieren, Wittgenstein fragte, was er in seinem Leben machen wolle. Als er sagte, er wolle psychische Forschung (psychic research) betreiben, hob Wittgenstein die rechte Faust, erstarrt und verharrte kataton in dieser Position. Spencer Brown weiß bis heute nicht, warum.


Die Gimmick-Diskussion geht weiter, Peter überrollt George, ich werde immer ruhiger, hoffe, daß dieser Abend irgendwann aufhört. Die Kinder sind ins Bett gegangen.


Warum gibt es in England so viele Dichter, in Frankreich diese erstaunliche Zahl von Mathematikern, in den Niederlanden Maler und in Deutschland Musiker, Mozart, the greatest composer since Gluck, playing a piece get stuck... Er ist in Grimsby (?) geboren, einem Ort, über den Witze gemacht werden.


Ich bringe ihn in sein Hotel und weiß, daß ich ihn nicht zu nah bei mir haben will, am besten gar nicht in Heidelberg.