Begegnungen mit Spencer-Brown X

3.10.93


Die Wohnung in der Handschuhsheimer Landstraße behagt ihm offenbar nicht, er stellt nur fest, wie sauber sie ist. Wir sprechen nicht weiter über die Wohnung.


Diesmal bestellt er im Café Spiegeleier. Das Risiko ist nicht so groß wie bei Rühreiern. Wir warten auf die Butter zum Toast. Lange. Sie schmecken ihm offenbar. Unsere Verhandlungen will er nicht hier abhalten.


Wie gestaltest Du normalerweise Deinen Tag, George?


Ich tue, was zu tun ist. Dumme Frage.


Als Peter und Sophie kommen, gehen wir beide zur Heiliggeistkirche, um die Sunday Times zu kaufen. Das Ergebnis der Schachparty zwischen Kasparow und diesem Engländer, dessen Namen ich mir nicht merken kann, steht nicht drin. Wir gehen zu Auto. Ob ich das Buch von Helmholtz über die "Sensations of tone", die Mathematik der Musik, kenne. Er war Chirurg. Großartiges Werk, alles steht drin, was drin stehen könnte. Auch ein Deutscher. Ob ich ihm die Originalausgabe verschaffen kann.


Wir fahren ins Institut und warten dort auf die anderen. Daß noch jemand dazu kommen soll, ärgert ihn. Daß wir warten müssen, auch. Es ist unprecedented. Er hat harsche Worte zu sagen. Ich ermutige ihn.


Als Peter, Sophie und Gunthard kommen, startet er die harschen Wort, will Gunthard des Raums verweisen. Der darf schließlich bleiben, weil er erklärt, er sei einer der Entscheidungsmacher und er verpflichte sich, nichts zu sagen.


George steht auf, um zu sagen, was er zu sagen hat. Besser: Er hält einen Vortrag, eine Stunde, ohne Pause oder Unterbrechung, auf die Sekunde genau.


Er steht neben meinen grünen Polsterelementen, den Blick an die Decke gerichtet, gelegentlich nur einen versichernden Seitenblick auf sein Auditorium.


Was er zu lehren hat, kann man ihm nicht vorschreiben. Auch Beethoven konnte man nicht sagen, was er zu komponieren hatte. Er hat nichts zu lehren. Denn es existiert nichts, was man lehren könnte. Er muß eine Beziehung zu seinen Zuhörern aufnehmen und ihnen ihre Irrtümer nehmen, Was er zu lehren hat ist total negativ. Was die westliche Wissenschaft macht, ist ein einziger großer Irrtum. Sie unterscheidet zwischen Realität, Erscheinung und Wahrnehmung. Es ist alles dasselbe. Was er in den Laws of Form beschrieben hat, ist, was möglich ist. Conditioned Co-Production nennt es Satyamuna. Conze hat ihn übersetzt, 700 Seiten, 1975. Gesesen hat George es 1982. Viel religiöser Quatsch, aber ein bis zwei Prozent Sinnvolles. Satyamuna hat ihm klargemacht, was er in den Laws of Form dargestellt hat. Triplizität: Was existiert, was nicht exisitiert, und die Grenze dazwischen.


Die Wissenschaften sind an Materie interessiert. Wittgenstein war auch ein Materialist. Ein Homosexueller, der von seiner Mutter unterdrückt war. George hatte ein ähnliches Schicksal. Der Begriff Materie stammt vom Lateinischen "mater", Mutter. Sie ist es, welche füttert, Materie in uns hineinpresst. Aber es gibt auch einen Paterialismus, von "pater", Vater, die geistige Ebene ist das.


Die Laws of Form beschreiben, was möglich ist. Vergangenheit ist nur eine Kette (string) von Erinnerungen. Die erste Gleichung: Ein Kreuz und ein Kreuz ist gleich einem Kreuz. Confirmation, das ist Vergnangeheit.


Die Zukunft existiert nur, weil wir nicht wissen, was kommt. Daß er stirbt, ist bedauerlich, weil er seine Erinnerungen allein hat. Daß er sich an seine frühere Existenz als Frau in San Francisco, die sich umgebracht hat, erinnert, ist unerklärlich. In Heidelberg hat er noch nicht gelebt, er erinnert sich nicht. Aber daß er sich an sein Leben vor 50 Jahren erinnert, ist genauso unerklärlich. Eine Kette von Erinnerungen.


Das peterialistische Prinzip ist auch erkennbar daran, daß man seinen Körper verlassen kann. Die Geschichte mit dem Suizidversuch seines Bruders, der nach der Einnahme einer ungeheuren Dosis Aspirin seinen Körper von der Decke aus beobachten konnte. Aber auch Fremde können in andere Körper eindringen. Einst hatte er eine Patienten, die immer wieder von seinem Körper Besitz nahm. Er besprach die Angelegenheit mit Ronnie Laing, der ihm riet, Miete zu verlangen. Eines nachts spürte er, wie sie in ihn eindrang, er schmiß sie unter Aufbietung aller Kraft heraus und in diesem Moment klingelte das Telefon: Sie war dran und sagte "You dropped me".


Er kommt zurück zum Thema: Er hat nichts zu lehren, greift zu einem Blatt, das er vorbereitet hat heute morgen.


The only teacher who self-confessedly

maintains he has nothing to teach

The only teacher who answers you

by informing you only of the

shape of your mistake

The only teacher who can teach you

to know everything by instructing

you that there is nothing to know.


Er gibt es mir, nicht ohne vorher um eine Fotokopie zu bitten. Es ist so schwer, etwas so klar zu formulieren. Wie ein Gedicht. Er hat Charisma, kann jedes Auditorium in Bann ziehen - wie wir ja gesehen hätten. Aber wir dürfen ihm nicht sagen, was er zu lehren haben, und in meine Wohnung kann er auch nicht einziehen. Das ist nicht der Platz, der sein Platz ist. Er muß selbst einen finden. Erfahrungsgemäß findet er innerhalb kürzester Zeit einen per Magie.


Wir diskutieren die Einzelheiten. Die anderen übernehmen die Rolle der Verhandler. Sie scheinen einverstanden mit seinen Wünschen. Wir gehen essen, trennen uns, ich fahre ihn auf das Heidelberger Schloß, wo er mir die Geschichte von der Queen und Prinz Philip erzählt, die auf den Bahamas waren. Der Präsident bohrte mit einem Zahnstocher in seinen Zähnen, worauf die Queen sagte: Mit uns ist das gut so, aber was machen sie, wenn sie in der High Society sind?


Unser Abschied ist kurz, ein Händedruck vor dem Hotel, see you, er geht eilig, ohne Blick zurück Richtung alte Brücke, obwohl er eigentlich in sein Hotel wollte.