Impflicht jetzt!

Bei der Diskussion über die geringe Zahl der Corona-Geimpften in Deutschland wird - z. B. in Talkshows zu hören - immer wieder mit der Freiheit des Individuums argumentiert. Viele wohlmeinende Menschen (ich will sie hier nicht Gutmenschen nennen, da ich ihre Intentionen nicht disqualifizieren will, sondern nur ihre Argumentation) plädieren für Aufklärung, Erklären, Überzeugen der bislang noch nicht Impfwilligen. Dass dies nicht funktioniert, zeigen die Zahlen (nicht nur in Deutschland). Der erkenntnistheoretische Irrtum liegt meines Erachtens in der zugrunde gelegten Prämisse, es ginge um die Motivation und die Entscheidung von Einzelnen. Natürlich betrifft jede Impfung erst einmal die körperliche Unversehrtheit - die, je nach Perspektive, durch das Virus oder die Impfung als bedroht erlebt werden kann. Das ist die individuelle Ebene. Aber bei eine Epidemie oder Pandemie geht es zwar auch um die Gesundheit des Einzelnen, es geht aber vor allem um etwas ganz anderes: um den Zustand sozialer Systeme. Die Weitergabe von Viren von einer Person zu einer oder vielen anderen ist eine Kommunikation, welche die körperlichen Umwelten der sozialen Systeme betrifft und damit für das Funktionieren und Überleben des sozialen Systems relevant ist. Dieses sicherzustellen ist Aufgabe der Politik. Nach aller wissenschaftlicher Erkenntnis ist die Impfung die beste - wenn nicht die einzige - Möglichkeit das Funktionieren unseres gesellschaftlichen Lebens einigermaßen zu sichern. Im Idealfall würden alle Menschen geimpft, und alle hätten dann wieder die Freiheit zu tun und zu lassen, was sie wollen (auch wenn dann weiterhin Hunderte an Covid sterben würden, wie bislang an der Grippe oder anderen Infektionskrankheiten). Covid würde normalisiert. Dabei wäre es vollkommen egal, aus welchen Gründen sich die Bevölkerung impfen lässt, d.h. ob dies aufgrund einer Impfpflicht geschieht, aufgrund der incentivierenden Bratwurst, die man als Impfling erhält, oder aufgrund moralischen Drucks oder der Einsicht in medizinische Notwendigkeiten. Soziale Regeln funktionieren ja, unabhängig davon, ob diejenigen, die sie einhalten, eine originäre eigene Motivation dafür besitzen oder nicht… Natürlich werden sich nach dem Erlass einer Impfpflicht die lt. Umfragen 28% der bislang Ungeimpften, die sich auf keinen Fall impfen lassen wollen, immer noch nicht impfen lassen. Man wird sie ja nicht per Haftbefehl suchen können (und wollen). Aber es bleiben dann immer noch die 72% anderen Prozent. Sie werden es wahrscheinlich deshalb tun, weil sie Sanktionen fürchten, nicht moralisch disqualifiziert werden wollen, die Außenseiterrolle fürchten usw. Es werden aber dann auch viele die Impfung akzeptieren, weil von staatlicher Seite das eindeutige Signal gegeben wird, dass es keine Privatsache ist, ob man sich impfen lässt; dass es unverantwortlich wie Geisterfahren auf der Autobahn ist, sich nicht impfen zu lassen. Dann mag es zwar immer noch genügend Leute geben, die sich nicht nur nicht impfen lassen, sondern nur mit Aluhut das Haus verlassen, aber die Zahl ist dann so klein, dass sie nicht das Wohl der Gesamtbevölkerung bedroht.


Allerdings werden sich wahrscheinlich auch ohne Impfzwang die Verhältnisse normalisieren. In absehbarer Zeit werden alle Leute entweder infiziert oder geimpft sein. Das Ergebnis dürfte dann ähnlich dem durch eine Impfpflicht zu erreichenden sein. Nur dass es bis dahin dann einige Tausend Tote mehr gibt, die noch länger leben könnten, wenn andere Leute sich geimpft hätten. Es ist ein Versagen der Politik - erklärbar wahrscheinlich durch das Nicht-Verstehen der Funktionsprinzipien sozialer Systeme oder der Angst vor Populisten - wenn nicht für klare Regelungen gesorgt wird. Wer hier primär mit individueller Freiheit argumentiert, hat den Schuss nicht gehört. Die Freiheit des Individuums endet dort, wo sie das Wohl anderer Leute beeinträchtigt. Nie würde ich dafür plädieren das Freeclimbing zu verbieten. Aber mit einer Pistole sollte man auch nicht schießend durch die Fußgängerzone gehen dürfen.