Immunität der Omegas

Warum sind einige Menschen resistenter als andere gegen politisch-mediale Angstkommunikation?


Kürzlich sprach ich mit einer Freundin und stellte die Frage, wie es aus ihrer Sicht wohl kommt, dass einige Menschen seit März 2020 sehr angstgetrieben erscheinen und alle politischen Maßnahmen mit extremer Disziplin, Selbst- und Fremdbeobachtung umsetzen, während andere Leute fast immun wirken, sich von der medialen und politischen Pandemie-Kommunikation nicht in dieser Weise mitreißen lassen. Sie äußerte die These, dass die eher distanziert oder kritisch wirkenden Beobachter der Pandemie-Diskurse gruppendynamisch als so genannte Omegas betrachtet werden könnten.[i] Mit dieser Position ist in einer Gruppe die Person gemeint, die gegen den vorherrschenden Diskurs, der von der Alpha-Position bestimmt wird, opponiert und damit die Folgsamkeit infrage stellt sowie Alternativität in den Sichtweisen, Gefühlen und möglichen Handlungsstrategien einführt.


Ohne auf diese Dynamiken detaillierter einzugehen, finde ich die Idee plausibel, dass Menschen, die dem gängigen Pandemie-Diskurs nicht folgen, die immer wieder Einwände kommunizieren sowie Relativierung von Zahlen und Interpretationen einfordern, nicht erst in der aktuellen Krise zu Omegas geworden sind; vielmehr haben diese Menschen in ihrer bisherigen Biographie Strategien entwickelt, ihre Außenseiter-Position auszuhalten und offensiv zu nutzen. Offenbar sind es Leute, die eine besondere soziale Immunität aufweisen, die sie davor schützt, sich zu schnell einem Gruppenkonsens unterzuordnen. Sie stellen diesen Konsens zumindest dann infrage, wenn sie kognitiv-psychische oder auch emotional-intuitive Dissonanzen verspüren, wenn also ihr Selberdenken es verunmöglicht, alle ihre Wahrnehmungen oder zumindest ihre Beiträge zur Kommunikation der Konsensprämisse der Gruppe unterzuordnen.


Damit sind diese Omegas auch hinsichtlich ihres Denkens immun, ja geschützt, resistent: Sie grenzen sich ebenso psychisch von dem ab, was sie nicht selbst nachvollziehen können, was zwar andere als plausibel und als Konsens markieren, was ihnen jedoch aus denklogischen Gründen als nicht akzeptabel erscheint. Solche Kritiker sind jene Traditionalisten, welche den alten Immanuel Kant bemühen und unermüdlich (zumindest für sich selbst) postulieren: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“


Soziale Immunität meint in diesem Kontext die individuelle Fähigkeit, sich dem Gruppenkonsens zu entziehen, sich von den vorherrschenden Meinungen abzugrenzen, diesen zu widersprechen und damit auch die Zugehörigkeit zur Gruppe nicht über die eigene als passend empfundene Position zu stellen. Psychische Immunität bedeutet komplementär dazu die Abgrenzung von sozial vorherrschenden Meinungen, weil diese das selbstständige Durchdenken nicht bestehen. Ähnlich wie biologisch-körperliche Immunprozesse können wir die sozialen und psychischen Immunitäten als spezifische Formen der systemischen Abgrenzung und Verarbeitung von Umwelteinflüssen betrachten. Diese Einflüsse prallen zwar am betreffenden System nicht ab, werden aber in jeweils ganz eigener Weise verarbeitet.


Ob solche resistenten Omegas besser durch die Krise kommen, ob sich ihr Denken, Fühlen und Handeln schließlich bio-psycho-sozial bewährt, ob sie also vielleicht sogar die Alphas von morgen sind, ist eine spannende Frage, die hier freilich nicht beantwortet werden kann. Jedenfalls wären die Omegas der aktuellen Krise gut beraten, wenn sie ihre eigene Gegenposition permanent befragen und immer wieder den Ausgleich suchen. Denn zumeist liegen die passenden kognitiven Positionen, die unterstützenden Gefühle und die lösenden Handlungsstrategien in der Mitte, also zwischen den Extremen. Dies könnte mit Aristoteles oder gar mit dem mittleren Weg des Buddhismus begründet werden, was jedoch als Thema eines neuen Beitrags aufgeschoben werden muss.


 


[i] Dieser Begriff ist dem Rangdynamischen Positionsmodell der Gruppendynamik entlehnt, das der österreichische Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Psychiater Raoul Schindler (1923-2014) bereits in den 1950er Jahren entwickelt hat. Siehe ausführlich dazu: Schindler (2016): Das lebendige Gefüge der Gruppe. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Christina Spaller u.a. Wien: Psychosozial Verlag.