Einbeziehen der Ausgeschlossenen

Worum es in der Corona-Debatte „eigentlich“ noch geht


Wir kennen das von der individuellen Psyche. Sigmund Freuds gesamte Arbeit basierte darauf: Wenn wir etwas verdrängen, was zu uns gehört, weil wir es – aus welchen Gründen auch immer – nicht aushalten, uns damit zu beschäftigen, tritt es anderer Stelle wieder hervor. Es zeigt sich dann als Symptom, als neurotische Verhaltensauffälligkeit oder destruktive Handlung. Eine ähnliche Dynamik können wir in sozialen Systemen, in Familien, Organisationen, Unternehmen oder ganzen Gesellschaften beobachten: Das ins Abseits Gestoßene prallt unerwartet erneut hervor – zumindest dann, wenn es eine berechtigte Zugehörigkeit beanspruchen kann. Da das in dieser Form wieder sichtbar Gewordene häufig „maskiert“ auftritt, ist nicht immer gleich klar, worum es „eigentlich“ geht.


In der Auseinandersetzung um die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ist offensichtlich, dass eine bunte Mischung von zahlenmäßig immer mehr werdenden Menschen unzufrieden ist mit der anhaltenden Pandemie-Politik. Die berechtigten Demonstrationen und Meinungsäußerungen auf der Straße irritieren dennoch, weil sich Rechtsextreme, Reichsbürger und Ewiggestrige unter die Protestierenden mischen und so versuchen, die Mitte der Gesellschaft zu erreichen. Zudem ziehen die spontanen Aktionen dieser Leute, etwa die Besetzung der Reichstagstreppe am 29. August 2020 am Rande der Berliner Querdenken-Demonstration, die Aufmerksamkeit der Politik und der Medien auf sich. Damit wird jedoch der Blick vom Ausgangspunkt der Proteste abgelenkt. Was hat also die meisten Protestierenden bewogen, auf die Straße zu gehen und dabei nicht mehr so genau zu differenzieren, wer da noch mitläuft?


Obwohl es so aussieht, als ob hier grundsätzliche politische Fragen wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit oder Eigenverantwortung adressiert werden, verbirgt sich hinter dem Protest die Erfahrung des Ausschlusses, der Exklusion und der arroganten Diskursverweigerung. Spätestens als die politische und mediale Kommunikation in den Stay Home-Pfad von Flatten The Curve einrastete, wurden im so genannten Mainstream, also in den meisten Qualitätsmedien und der etablierten Politik weitgehend alle alternativen Positionen ausgegrenzt. All jene, welche sowohl die Corona-Pandemie als auch die eingeleiteten Maßnahmen anders einschätzten als das Robert-Koch-Institut, Christian Drosten oder Karl Lauterbach, erlebten eine Ignoranz oder eine massive Abwertung ihrer Verlautbarungen.


Angesichts so weitreichender Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens kann jedoch zurecht erwartet werden, dass laute Kritiker dieser Staatsinterventionen wie etwa der ehemalige Bundestagsabgeordnete, Lungenfacharzt und Gesundheitsamtsleiter Wolfgang Wodarg, der emeritierte Medizin-Professor Sucharit Bhakdi oder der Wirtschaftsprofessor Stefan Homburg nicht nur in alternativen Internetkanälen Interviews geben, sondern in öffentlich-rechtlichen Medien auftreten können sowie von der Politik gehört und ernst genommen werden. Dies ist jedoch nicht geschehen – im Gegenteil: Die genannten und andere Personen, die die gängigen Narrative zu Corona kritisierten, erfuhren massive Abwertungen, und zwar nicht nur bezüglich ihrer Positionen. Sondern sie wurden in den Kreis von „Verschwörungstheoretikern“ gestellt, die die gesamtgesellschaftliche Solidarität massiv stören würden, das Virus verharmlosen und damit gefährlich seien.


Wenn wir uns heute das Infektionsgeschehen anschauen, dann zeigen sich zahlreiche Thesen der Kritiker als bestätigt. Die Sterblichkeit des Virus ist weitaus geringer als ursprünglich behauptet. Die meisten Infektionen verlaufen ohne Krankheitssymptome. Massiv gefährdet sind vor allem ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Diesen sollte Schutz und Unterstützung angeboten werden. Pflege- und Altenheime sowie Krankenhäuser müssen selbstverständlich personell und strukturell entsprechend ausgestattet sein. Die dafür notwendigen finanziellen Ressourcen sind zur Verfügung zu stellen. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob es gerechtfertigt ist, für diesen Schutz die gesamte Gesellschaft durch massive freiheitseinschränkende Maßnahmen still zu stellen, wie dies im Frühjahr geschehen ist.


Wenn sowohl die Politik als auch die Medien verhindern wollen, dass sich der Corona-Diskurs noch weiter spaltet, dann wird es Zeit, dass den bisher verdrängten und ausgeschlossenen Stimmen öffentlichkeitswirksam Gehör geschenkt wird. Erst so kann das beginnen, was in herausfordernden gesellschaftlichen Krisensituationen notwendig ist, damit passende und nachhaltig wirksame Lösungen gefunden werden: unterschiedsgesättigte Diskurse. Das sind gekonnt moderierte Gespräche, etwa in Form von Runden Tischen oder in entsprechend dafür eingerichteten Räten, die die Diversität von Experten unterschiedlicher Disziplinen und Positionen zusammenführen. Nur so kann eine kollektive, gemeinschaftliche Intelligenz entstehen, die bessere Lösungen kreiert als Gremien, die von vorn herein mit Meinungsgleichen besetzt sind. Und schließlich wäre eine solche von Unterschiedlichkeit ausgehende Diskussion die beste Basis dafür, dass der gespaltene gesellschaftliche Diskurs sachlich wie emotional wieder zusammengeführt wird.