Endlich für alle möglich machen, was möglich ist!

Martha Richards ist Psychotherapeutin mit einem Schwerpunkt Hypnotherapie und verfügt über jahrelange immense Erfahrung in der Begleitung schwer traumatisierter geflüchteter Frauen. Mit Victoria - Ankommen und überleben in Deutschland hat sie, gemeinsam mit der italienischen Illustratorin Francesca Cogni, eine beeindruckende Graphic Novel gestaltet, in der deutlich nachgezeichnet wird, welchen Leidensweg diese Frauen nicht nur vor und auf ihrem gefährlichen Weg nach Mitteleuropa durchmachen müssen, sondern auch danach: Erniedrigungen, Verständnislosigkeit und, im schlimmsten Fall, Abschiebung.
Dass, neben Victorias Geschichte, auch die besonderen therapeutischen Interventionen wiedergegeben werden, ist der spezielle Clou dieses Buches. Im aktuellen Interview gibt Martha Richards tiefen Einblick in die Gründe, die das Buch so notwendig machen. Für geflüchtete Frauen (und Männer) aus Asien und Afrika, so Martha Richards, soll endlich möglich gemacht werden, was ganz offensichtlich möglich ist: Eine würdige Behandlung unter Beachtung der Menschenrechte, damit auch sie sagen können: "Danke für alles, das hat etwas verändert in meinem Leben."


Ohler Hallo, liebe Martha Richards, und herzlich willkommen beim Gespräch mit dem Carl-Auer Verlag.


Richards Hallo Herr Ohler!


Ohler Ich freue mich sehr, dass Sie sich Zeit nehmen, ein Gespräch zu führen mit uns über diese wichtigen Themen, die Sie vorzubringen haben. Zunächst einmal Chapeau zu einem Projekt und danke dafür, das Sie zusammen mit der italienischen Illustratorin Francesca Cogni realisiert haben und das jetzt im Carl-Auer Verlag veröffentlicht ist. Es ist eine Graphic Novel. Eine ganz besondere. Es geht in dieser Graphic Novel um Victoria, eine junge, geflüchtete Frau aus Afrika, die einen furchtbaren Leidensweg hinter sich hat und für die mit ihrer Ankunft in Europa, speziell in Deutschland, so viel Hoffnung verbunden ist. Aber es beginnt damit auch ein neuer Leidensweg. Viele Menschen wissen das wohl nicht, viele wollen es vielleicht auch nicht wissen. Sie haben selbst viel Erfahrung mit der Betreuung geflüchteter Frauen und dem, was ihnen hier geschieht. Ganz direkt gefragt: Was ist da los und warum ist das so?


Richards Ich würde sagen, los ist, dass sie sehr viel schlechter aufgenommen und versorgt werden, als viele sich das vorstellen können, und dass die gängige Abschiebepraxis inhuman und auch nicht immer rechtskonform ist. Warum es so ist, ist schwer zu sagen. Was ich mich an der Stelle frage ist auch: Warum ist es so anders jetzt mit den ukrainischen Geflüchteten? Denen ist das natürlich absolut von Herzen zu gönnen, dass sie so gut behandelt werden. Nun kann man natürlich verschiedene Hypothesen haben: Warum hat dasselbe nicht funktioniert für Menschen, die eine andere Hautfarbe, eine andere Religion haben? Zu der Frage, warum es viele nicht wissen: Ich denke, es ist nicht sehr rühmlich und hat wenig mit Willkommenskultur zu tun, was da bei uns passiert. Von daher vermute ich, die Institutionen werden nicht bekannt machen wollen, dass es teilweise so schlecht läuft. Aber vielleicht ist es auch etwas, was auch die Empfänger der Botschaft nicht unbedingt wissen wollen? Ich hatte zum Beispiel jetzt, nachdem das Buch ganz aktuell erschienen ist, schon erste Rückmeldungen bekommen von Leuten, die mir gesagt haben, sie hätten die ganze Zeit geweint, während sie es gelesen oder angeschaut haben, und sie hätten sich so geschämt. Wobei das Menschen waren, die nicht in einer Institution tätig sind oder die auch gar keine Entscheidungen zu treffen haben, sondern Leute aus ganz anderen Arbeitsbereichen. Trotzdem schämen sie sich, dass so etwas wie nächtliche Abschiebungen von Schwangeren oder alles weitere, was im Buch beschrieben ist, hier bei uns passiert.


Ohler Das kann man ja in der Graphic Novel dann auch genau nachlesen, was da passiert. Wir müssen da nicht ins Detail gehen, aber das finde ich eine schöne Rückmeldung, die Sie jetzt geben, dass offenbar was getroffen ist, das wirklich wichtig und und von dem zu wünschen ist, dass es bekannt wird, gesehen wird, und dann nicht nur angeklagt, sondern dran gearbeitet. Eine Fragebündel: Für wen haben Sie diese Graphic Novel gemacht? Für wen kann sie hilfreich sein? Warum überhaupt als Graphic Novel? Und warum ist es so wichtig, sich diesem Thema zu widmen, ja: zu stellen? Was könnte anders werden, wenn die Graphic Novel ihre Wirkung entfaltet, die wir alle erhoffen? Fünf Fragen in einer.


Richards Ich fange mal hinten an. Warum ist es so wichtig? Ich glaube, es ist eine Frage der Menschlichkeit, sich dem zu stellen. Und ich glaube, wenn man sich dem stellt, zu sehen, was da alles schief läuft, dann wird es hoffentlich für manche auch Konsequenzen haben. Vielleicht in der Form, sich da zum Beispiel selber mehr zu engagieren. Es wäre auch mein großer Wunsch, dass sich auf politischer und gesellschaftlicher Ebene an der Stelle etwas verändert. Gerade aktuell vor dem Hintergrund, dass man bei Geflüchteten aus der Ukraine sagt: Da geht doch was, das kriegen wir hin- nur eben vorher bei Syrern oder Menschen aus Westafrika, da ging so vieles nicht: Die Kinder konnten nicht zügig eigeschult werden, Wohnungen konnten nicht zur Verfügung gestellt werden und viele wurden und werden zurück in Krisengebiete geschickt. Nun geht so vieles mehr und das ist sehr schön, aber wir sollten dafür aufmerksam sein, dass dieses Mehr nicht nur für die ukrianischen Geflüchteten gelten sollte, sondern endlich auch für alle anderen.
Und für wen die Graphic Novel ist? Und warum mit Bildern? Meine Idee war, damit möglichst viele Menschen zu erreichen: Erstens die Öffentlichkeit und möglicherweise, das wäre meine eher kleine Hoffnung, auch auf der politischen Ebene, Menschen zu erreichen. Auch Helfer und Helferinnen zu erreichen, und natürlich die Geflüchteten selbst. Für Menschen, die Schlimmes erlebt haben, ist es ja immens wichtig, dass es ein Gegenüber gibt, das Zeugnis ablegt von dem Schrecklichen und sagt: „Ja, das ist schecklich, was dir passiert ist“. Leider erleben die Menschen aber bei den Anhörungen des BAMF genau das Gegenteil, da ist die Antwort eher: „ War doch nicht so schlimm, geh zurück dorthin, wo dir das alles passiert ist.“ Deshalb wollte ich den Geflüchteten in diesem Buch eine Stimme geben und auch eine Antwort in dem Sinn, dass gesehen wird, was sie alles überlebt haben. Und weil es da natürlich teilweise eine Sprachbarriere gibt, bin ich auf die Idee mit der Graphic Novel gekommen; weil die Kombination aus Wort und Bild leichter eingängig ist, solange jemand die deutsche Sprache noch nicht so gut beherrscht. Und ansonsten ist die Graphic Novel natürlich auch gedacht für Psychotherapeuten oder andere Menschen in helfenden Berufen, die sich dort Anregungen holen können: Alle Interventionen sind ja im Wortlaut wiedergegeben für diejenigen, die selber psychotherapeutisch arbeiten, aber sie sind auch für Helfende geeignet, die vielleicht ehrenamtlich tätig sind, und auch zum direkten Gebrauch durch die Geflüchteten selbst. Deswegen stehen die Interventionen in insgesamt neun Sprachen zur Verfügung, so, dass sie direkt zu nutzen sind für Geflüchtete, die noch nicht so gut Deutsch sprechen. Von daher ist ein ziemlich weites Spektrum an möglichen Leserinnen und Lesern zu erreichen.


Ohler Sehr schön! Wir kommen nachher noch mal auf die unterschiedlichen Sprachen zurück, wenn wir über die Interventionen sprechen. Sie haben schon eine leichte Andeutung dazu gemacht. Aber inwiefern ist die Geschichte von Victoria – das ist die Protagonistin dieser Geschichte „Victoria. Ankommen und überleben in Deutschland“ – inwiefern also ist die Geschichte von Victoria typisch oder paradigmatisch, wie man sagen könnte, für die Geschichte von Frauen, die als Geflüchtete zu uns kommen? Sie haben den Unterschied in der Behandlung der ukrainischen Flüchtlingen aufgetan, was ja nicht an den Geflüchteten liegt. Aber inwiefern hat Victorias Geschichte etwas typisches oder paradigmatisches für geflüchtete Frauen aus anderen Regionen?


Richards Ich denke, sie ist paradigmatisch insofern, als alles, was in der Graphic Novel erzählt wird, tatsächlich wahr ist und genauso passiert ist. Es ist nichts Fiktives dabei. Und die Geschichte ist tatsächlich etwas, was ich immer wieder bei ganz, ganz vielen meiner Klienten und Klientinnen erlebe, eben genau so, und zwar schon seit vielen Jahren. Und ich habe dasselbe wiederum von anderen Kollegen und Kolleginnen, die in diesem Bereich arbeiten, auch immer wieder gehört. Von daher ist es sicherlich kein Einzelschicksal, sondern eines, wie es immer wieder gab und leider weiter gibt.


Ohler Womit man fast rechnen muss, sozusagen, bevor man sich verrechnet?


Richards Genau. Leider ja. Wobei ich mir schon vorstellen kann, dass es Ausnahmen gibt, wo es anders ist. Dass sich auch mit der Zeit Dinge verändern. Natürlich. Aber es gibt sicher sehr, sehr, sehr viele Geflüchtete in Deutschland, die ganz genau diese Erfahrungen gemacht haben. Da bin ich leider sehr sicher.


Ohler Sie sind Therapeutin und haben einen Schwerpunkt, unter vielen. Sie haben ein breites Spektrum, aber einer ihrer Schwerpunkte ist Hypnotherapie. Und in der Graphic Novel finden sich auch ausführliche Anleitungen, verschiedene therapeutische Interventionen, wie wir das vorhin schon erwähnt haben, für die Arbeit mit geflüchteten Frauen. Für diejenigen Leserinnen und Leser, die damit nicht so vertraut sind: Was sind die Besonderheiten und Stärken von Hypnotherapie? Und warum sind sie so wichtig gerade in diesem Arbeitsfeld mit geflüchteten Frauen?


Richards Die Hypnotherapie hat viele Stärken, aber die Stärke, die ich an der Stelle sehr wichtig finde, ist, dass Hypnotherapie es erlaubt, sich sehr intensiv Dinge vorzustellen. Und das ist etwas, was viele Klienten und Klientinnen gut brauchen können. Auch dieses wirklich Reingehen in bestimmte Gefühle, das weit darüber hinausgeht, zum Beispiel Verhaltenstherapie-Tools an die Hand zu kriegen, mit denen jemand wieder handlungsfähig wird, was natürlich total nützlich ist, aber noch mal etwas anderes als etwas wirklich Neues zu fühlen und zu spüren, da ändert sich etwas von innen heraus. Und es ist auch etwas anderes als ein tiefenpsychologisches Verfahren, das Verstehen ermöglicht, was natürlich auch sehr wertvoll ist, aber nicht unbedingt dazu führt, dass man später im Handeln etwas anderes machen kann. Und da bietet, finde ich, die Hypnotherapie durch die Trancezustände etwas, wo viele sagen, sie haben tatsächlich etwas anderes erlebt und etwas anderes empfunden; es fühlt sich echt an, was sie im Trancezustand erleben. Das kann zum Beispiel bedeuten, in die Vergangenheit zu gehen und eine Art Neukonstruktion der Vergangenheit zu machen, was für viele ganz, ganz hilfreich ist. Oder, wie es in der Graphic Novel vorkommt, in die Zukunft zu gehen, sich Hineinzufühlen und es tatsächlich erlebbar machen, wie eine gute Zukunft aussehen könnte.
Da gibt es eine ganz interessante historische Geschichte dazu. Und zwar von Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse. Frankl war ja selber im KZ gewesen und hat später erzählt, was ihm geholfen hatte zu überleben. Er hatte sich in den schlimmsten Zeiten, als er misshandelt wurde, als er gehungert und gefroren hat, um sein Leben und um das Leben seiner Familie fürchten musste, als um ihn herum gestorben wurde… da hat er sich vorgestellt, wie das sein wird, wenn er eines Tages als anerkannter Wissenschaftler in einem hell erleuchteten Saal, in guter Kleidung und mit gutem Essen im Bauch vor einem interessierten Publikum, das ihn wertschätzt und ihm applaudieren wird, wie er diesem Publikum erzählen wird, was er damals im Konzentrationslager erlebt hat. Er meinte, das war etwas, was ihm ganz entscheidend beim Überleben geholfen hat. Und genau so etwas kommt auch in der Graphic Novel vor, wenn Victoria in eine Trance hineingeht: Wie kann die Zukunft gut aussehen? Wie kann es dann anders sein? Und da ist wiederum die Hypnotherapie sehr stark. Sich wirklich intensiv Hineinleben in so eine gute Zukunft und aus diesen Bildern etwas für die schwere Gegenwart mitnehmen, das ist etwas, was mit Hypnotherapie besonders gut gelingt.


Ohler Da sind ja mittlerweile auch viele, viele Erfahrungen da, auch in anderen Kontexten, nicht nur im Kontext der Arbeit mit Geflüchteten. Aber eben gerade da, durch Ihre Arbeit, gibt es viel Erfahrung, die man dann auch nachvollziehen kann in der Graphic Novel.


Richards Ja. Wobei man vielleicht an der Stelle noch dazu sagen muss: Bei Viktor Frankl hat der Teil, dass er dann Vorträge gehalten hat und ein berühmter und anerkannter Mann war, am Ende gestimmt, er hat aber auch Vorstellungen gehabt vom Wiedersehen mit seiner Frau, die zu dem Zeitpunkt schon tot war, was er wiederum nicht wusste. Und das gibt es natürlich auch bei Victoria, und so sieht es leider aus in der Realität: Es ist nicht so, dass das, was jemand sich da vorstellt, später auch so eintritt. Aber es ist im Moment der Krise eine große Hilfe und das allein ist schon viel und hilft beim Überleben.


Ohler Also es ist nicht magisch in dem Sinn, aber sehr hilfreich.


Richards Magie wäre schön. Aber manchmal ist magisch daran, dass die Leute sagen, sie können wirklich sehr viel Kraft daraus schöpfen. Gerade diese Zeitprogression in die Zukunft ist etwas, wo mir ganz oft zurückgemeldet wurde: „Ja, so stelle ich mir das vor und das hilft mir sehr.“ Und wenn das Klientinnen und Klienten sind, die in der Schule etwas übers Dritte Reich gelernt haben, dann erzähle ich, dass es da mit Viktor Frankl ein großes Vorbild gibt, – genau diese Geschichte, um zu zeigen, das hat anderen auch schon beim Überleben geholfen.


Ohler Kurz zu einem, vielleicht, Reizwort. Vielleicht, weil es in dem Zusammenhang auch von vielen verwendet wird: Trauma. Also kann man sagen, dass alle Geflüchteten mehr oder weniger das sind, was man traumatisiert nennt? Beziehungsweise: Woran kann man erkennen, ein bisschen trennschärfer, ob es sich um eine Traumatisierung handelt? Was nützt diese Begrifflichkeit? Was muss man dann unterschiedlich machen? Oder ist es tatsächlich so, dass man sagen muss: Die da ankommen, die sind traumatisiert?


Richards Nein, das würde ich nicht sagen, dass alle automatisch traumatisiert sind, aber sehr viele. Die allermeisten haben traumatische Erfahrungen gemacht, wenn auch nicht alle, aber wirklich sehr, sehr viele. Die Definition einer traumatischen Erfahrung ist, dass es ein katastrophales Erlebnis einer aussergewöhnlichen Bedrohung gab, das die allermeisten Menschen in tiefe Verzweiflung stürzen würde. Das können Naturgewalten bei Erdbeben sein, auch Unfälle oder Entführungen zum Beispiel, Kriegshandlungen natürlich oder eben schlimme Gewalterfahrungen, wie Folter, sexualisierte Gewalt, oder das Erleben vom Sterben anderer, zum Beispiel bei der Überfahrt übers Mittelmeer Mitreisende ertrinken zu sehen. Das ist die Grundvoraussetzung; es kann eine Traumatisierung vorliegen, wenn ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat. Und da würde ich sagen, bei sehr vielen Geflüchteten trifft das zu, bei den Frauen sehr oft die sexualisierte Gewalt. Wirklich schreckliche, schreckliche Dinge, die die Leute da erlebt haben. Die Gefängnisse in Libyen, die Überfahrt übers Mittelmeer, die Durchquerung der Sahara, wo auch viele Mitreisende ums Leben kommen... Ob dann wiederum eine Traumatisierung tatsächlich die Folge ist, ist unterschiedlich. Da bin ich auch teilweise überrascht, dass es Leute gibt, die wirklich ganz schreckliche Sachen erlebt haben, aber eben in der Folge trotzdem nicht unter Schlafstörungen und Alpträumen, Flashbacks, Schreckhaftigkeit, Panik, Vermeidungsverhalten, depressiven Symptomen usw. leiden, was dann eben die Merkmale der Traumatisierung wären. Menschen können Traumatisches erlebt haben und trotzdem nicht traumatisiert sein. Wobei das schon die Minderheit ist. Und wenn das Trauma von Menschenhand gemacht ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, hinterher traumatisiert zu sein, wesentlich höher als zum Beispiel bei einer Naturkatastrophe oder bei einem Unfall, für den niemand etwas konnte. Und meistens ist es ja bei den Geflüchteten so, dass es eben keine Naturkatastrophe war, sondern von Menschen gemacht. Und dann ist ein zweiter wichtiger Faktor: Kam das immer wieder vor? Oder kam es einmal vor? Wenn eine Person, in Anführungszeichen, "nur" einmal vergewaltigt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Traumatisierung wesentlich geringer, als wenn es immer wieder oder womöglich von Kindheit an immer wieder passiert ist. Was bei Frauen sehr häufig der Fall ist, wenn sie schon früh Waisen waren, dann in Familien kamen, wo sie manchmal wie Sklavinnen gehalten wurden, Genitalverstümmelung kommt dazu, und eben ganz häufig früher sexueller Missbrauch und danach viele weitere, häufig sexualisierte Gewalterfahrungen und dann das ganze Fluchterleben. Also da kommt schon wahnsinnig viel zusammen. Wobei ich trotzdem immer wieder extrem erstaunt bin, wie resilient die Menschen dann wiederum sein können. Das ist für mich auch das sehr, sehr Schöne daran, zu sehen: wie stark Menschen sind. Deshalb mag ich auch den Begriff „Opfer“ für diese Menschen nicht. Ich finde, sie sind vor allem Überlebende.


Ohler Großartig. Sie haben vorhin schon ganz kurz von diesen Tranceanleitungen oder von diesen Übungssequenzen in dieser Graphic Novel gesprochen, die aber schön in die Geschichte eingebettet sind, dass man merkt, wo braucht man das, in welchen Verläufen, und welche Ideen braucht es da. Außer in deutscher Sprache gibt es diese jetzt in einer Edition in acht weiteren Sprachen, also unter anderem zum Beispiel Farsi, Ukrainisch, Türkisch, wo immer Menschen herkommen, entweder auf einem Umweg oder direkt, die diese Erfahrungen gemacht haben. Das ist wahrscheinlich für Menschen gedacht, die in diesen Sprachen dann diese Anleitungen nutzen. Gegebenenfalls auch für die Frauen selbst?


Richards Auf jeden Fall. Sofern es Leute sind, die mit schriftlichen Anleitungen etwas anfangen können, was für viele der Fall ist, ist es auch direkt für Klientinnen und Klienten nutzbar. Nicht nur für Geflüchtete. Ich habe die schöne Erfahrung gemacht, dass zum Beispiel auch die Übersetzer und Übersetzerinnen die Texte teilweise für sich genutzt haben und sie rückgemeldet haben, wie hilfreich sie die Interventionen fanden. Einfach nützlich für Menschen, die schwierige Erfahrungen gemacht haben.


Ohler Noch mal ganz allgemein aufgespannt: Wir sind ja in sehr besonderen Zeiten, um es etwas untertrieben zu sagen.. Gibt es sonst noch etwas, wo Sie sagen würden, das ist Ihnen aufgefallen? Vielleicht in den letzten zwei Monaten und dann in den letzten zwei Jahren, besonders in Ihrer Praxis? Welche besonderen Kompetenzen sollte professionelle therapeutische Hilfe im Gepäck haben? Und was brauchen vielleicht auch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer ganz besonders, um ihre Stärken noch mehr ausdrücken zu können? Und vielleicht als Drittes: Gibt es irgendeinen kleinen Tipp, den Sie dabei haben?


Richards Ich würde sagen, der kleine große Tipp ist Beziehung, Beziehung, Beziehung. Und das kann man auch auf die Corona-Zeit ziemlich gut anwenden. Beziehung ist etwas, das vielen Menschen leider gefehlt hat. Denen, die schon immer hier gelebt haben, genauso wie den geflüchteten Menschen. Wir arbetien ja oft im Setting der Arbeit mit Geflüchteten unter ziemlichen Zeitdruck, können deshalb nur kurze Interventionen machen. Eine kurze Sitzung, dann sind Leute oft schon wieder weg. Aber die Beziehung ist das, was es ausmacht, und Beziehung herzustellen geht nicht immer, aber immer wieder mal sogar auf die Schnelle. Ich glaube, das ist das Allerwichtigste. Und ich denke, das gilt für die professionellen Helfer genauso wie für die Ehrenamtlichen, dass wir damit schon ganz, ganz viel helfen können. Mit einem ehrlichen, liebevollen, empathischen Beziehungsangebot. Ich werde oft gefragt: Wie hältst du das denn alles aus? Diese ganzen schlimmen Geschichten, die du da hörst bei der Arbeit… Ich finde, es ist nicht mal so schwer, das auszuhalten, weil so viel zurückkommt, weil es einfach auch schöne therapeutische Beziehungen sind, selbst wenn die vielleicht nur ein einziges Mal 50 Minuten dauern. Von daher kriegt man da auch ganz, ganz viel zurück. Ich finde, man braucht auch nicht mal extra viel Erfahrung, um etwas Gutes bewirken zu können, weil es um dieses Beziehungsangebot geht. Das kann genauso jemand machen, der völlig unerfahren ist in dem Bereich ist. Meine Erfahrung war eigentlich immer: Es braucht erstaunlich wenig, aber dieses Wenige ist wirklich sehr, sehr wichtig. Und das gilt tatsächlich gerade auch für die Corona-Zeit. Ich denke, das ist genau die Erfahrung, die viele gemacht haben, dass diejenigen, die gut eingebettet waren in ihren Beziehungen, einigermaßen heil durch die Pandemiezeit gekommen sind, und für diejenigen, bei denen das vielleicht schon vorher so ein bisschen gefehlt hat, es dann im Lockdown manchmal ganz weggebrochen ist. Das sind die, die jetzt die Kliniken füllen, gerade auch bei den Kindern und Jugendlichen zum Beispiel.


Ohler Ich finde den Tipp sehr ermutigend. Wenn ich mir vorstelle, wer das liest, es geht auch um die Beziehung, könnte sich sagen, ich mach dieses Angebot. Eigentlich kann ich es ja.


Richards Genau, denn das ist ja etwas, was menschlichen Wesen eigentlich in die Wiege gelegt ist, nämlich beziehungsfähig zu sein.


Ohler Die abschließende Frage auch an sie, Martha. Wir haben uns verabredet für das Gespräch, und dann werden Fragen kommen. Und da haben Sie vielleicht die Vorstellung gehabt, etwas Bestimmtes gefragt zu werden. Jetzt kam das aber leider nicht vor. Oder es ist Ihnen im Verlauf unseres Gesprächs was eingefallen, Sie haben es zur Seite gelegt, und jetzt liegt es da noch. Gibt es irgendetwas, wo Sie sagen würden, das würde ich gerne noch abschließend thematisieren, oder vielleicht noch in ein Statement bringen?


Richards Ich glaube, mir ist es schon gelungen, zwei Dinge, die mir wirklich sehr wichtig waren, einzubringen. Das eine ist das, was die ukrainischen Flüchtlinge betrifft. Das ist der Bogen zur allerersten Frage: Warum ist es so schwer, sich der traurigen Realität zu stellen, dass mit Geflüchteten in Deutschland oft nicht besonders gut und teilweise erschreckend schlecht umgegangen wird? Es ist ja auch tatsächlich schwierig, wenn da so viele Menschen kommen und wir wissen gar nicht, wie die alle versorgt werden sollen, was sollen wir dann tun? Aber kann dann die Antwort sein: Dann sollen die halt wieder gehen, oder sollen sie mehr schlecht als recht versorgt werden, wie es lange Zeit mit vielen Geflüchteten gemacht wurde? Aber so wird es jetzt mit Geflüchteten aus der Ukraine nicht mehr gemacht. Auch wenn wir auch da im Grunde gar nicht so genau wissen, wie soll das eigentlich gehen, wenn da so viele kommen, werden wir diese Vielen gut versorgen können? Aber da ist es doch jetzt irgendwie ganz gut gelungen, zu sagen, wir haben zwar nicht so richtig eine Antwort, wie das gehen soll, aber wir machen es trotzdem; diese Menschen sollen hier bleiben und gut versorgt werden, solange sie es brauchen. Das wäre mein Wunsch, dass wir diesen zum Glück viel besseren Umgang, den wir jetzt mit ukrainischen Geflüchteten hinbekommen, übertragen könnten auf die, die andere Religionen, andere Hautfarben haben.
Und dann ist mir noch wichtig meine Botschaft , dass es tatsächlich leicht ist und wirklich viel Freude macht, mit Geflüchteten zu arbeiten, weil man an der Stelle ein Gefühl von Sinnhaftigkeit bekommt. Ich denke, das ist das, was Menschen anstreben. Wir wollen gerne Dinge tun, die uns sinnvoll erscheinen. Und mir kommt diese Arbeit extrem sinnvoll vor. Ich finde auch, dass freundlicherweise die Geflüchteten –nicht alle, aber viele – das sehr schön zurückspiegeln. Das sieht man auf der letzten Seite in der Graphic Novel. Da ist dieser kleine Brief, den Victoria an ihre Therapeutin schreibt: Mach's gut, pass gut auf Dich auf und danke für alles, das hat etwas verändert in meinem Leben. Und auch dieser Brief ist tatsächlich original. Solche Rückmeldungen habe ich ganz oft bekommen. Es ist schön, wenn Leute sagen, das, was du gemacht hast, macht Sinn und hatte einen wirklichen Nutzen für mich. Und auch, wenn wir bei dieser Arbeit viel Schlimmes zu hören und zu sehen bekommen, ist es dadurch eine sehr schöne Arbeit.


Ohler Großartig. Vielen Dank für dieses sehr spannende Gespräch.


Richards Danke schön.