Brief 2 - Kunterbunte Ordnung - von Bardia

Sehr geehrte Leserin, liebe Andrea!


Watzlawick sei Dank, wissen wir, dass auch Lösungen zum Problem werden können. Wenn dem so ist, sollten wir einen Gang höher schalten, in die Lösungswelt 2. Ordnung. Aber wie finden wir in diese Welt? Ein bisschen geht es uns dabei allen wie Harry Potter, der auf seinem Weg in die Zauberschule aufgefordert ist, das Gleis 9 ¾ zu finden. Er muss dafür mutig in eine nicht sichtbare Welt springen. Es ist eine Welt von Überraschungen, Paradoxien, Absurditäten, dafür wunder-voller Lebendigkeit.


Lebendigkeit ist übrigens das Gegenteil von „Funktionieren“, das ja Maschinen auszeichnet. Wer nur noch funktioniert, fühlt sich nicht mehr lebendig. In der Welt des Funktionierens ist alles eindeutig und logisch, in der lebendigen Welt alles vieldeutig und überraschend. Die Welt des Funktionierens ist berechenbar und kompliziert, die Welt der Lebendigkeit unberechenbar und komplex.


KinderheldInnen, wie Harry Potter, Pippi Langstrumpf, Alice im Wunderland oder Andreas Nichte Luise leben in Lösungswelten 1. bis kunterbunter Ordnung. Eine meiner zwei Töchter, Luisa, ist selbstverständlich auch so eine! In diesen Tagen ist es leicht, Sorgen zu haben! Krankheit, Tod, Diktatur, Armut – welches Unglück schwirrt in ihrem Kopf? Natürlich machen wir Eltern uns auch allerlei Sorgen um die armen Kinder: Werden sie schwerkrank, sind die Nachrichten zu schlimm, ersticken sie hinter der Maske, verliert mein Kind den Anschluss an die Klassengemeinschaft, versiegt der Wissensdurst, sind sie Teil einer Lost Corona-Generation? Heute (Anmerkung: zu einer Zeit als der Schulbesuch gut möglich war) kam also meine Luisa von der Schule nach Hause und ermöglichte mir einen Einblick in die Ambiguitätstoleranz eines Kindes. Sie sagte nichts, ich entdeckte nur ihre Hand, auf der dieses Tintentatoo zu sehen war:



Humor ist, wenn man trotzdem noch miteinander lacht. Das alles ist auch für uns „Erwachsene“ eine gute Nachricht! Das heißt nämlich, dass wir nur etwas in uns aktivieren müssen, was wir alle schon mal konnten: dem Unlogischen, dem „trotzdem“, also dem Wunder, seine Wirkung ermöglichen. Pablo Picasso schrieb dazu passend: „Jedes Kind ist ein Künstler. Das Problem ist nur, ein Künstler zu bleiben, während man erwachsen wird. Man braucht sehr lange, um jung zu werden.“


Wie wahr, wie wahr! In den bisher mehr als 20 Jahren Psychoprofessionalität kam ich erst kürzlich drauf: „Mein größtes Talent ist mein Nicht-Wissen!“


Die frühen MeisterInnen ihres Psycho-Fachs, zu denen ich auch Paul Watzlawick zähle, hatten es womöglich leichter, weil sie nicht so viele Vorbilder hatten und nicht der Versuchung erlagen es besonders richtig machen zu wollen. Sie lernten von ihren KlientInnen intuitiv wie Kinder. Wir dagegen, wir SchülerInnen dieser MeisterInnen, suchen doch immer nach ihren Rezepten, wie man es wirklich richtig macht. Wir wollen richtig coachen, behandeln, therapieren, beraten etc. Endlos besuchen wir Fortbildungen für dieses Ziel! Bitte, man segne mich mit dem Zertifikat, das mich Gleis 9 ¾ finden lässt!


Doch es dünkt mir in den letzten Jahren, genau diese Suche nach Rezepten führt aufs falsche Gleis. Während die MeisterInnen durch das sich überraschend eröffnende Kaninchenloch ins Wunderland der Psychen und Sozialsysteme schlüpften, suchen wir heute nach dem Fahrplan!


Paul Watzlawick sitzt mir bis heute in meiner Arbeit regelmäßig auf der Schulter und flüstert mir zu: „Suche nicht nach einem Rezept, halte dich an ein Prinzip: „Mache nur nicht „zu viel vom Selben“!“


Dann ertappe mich dennoch, wie ich immer wieder die gleichen Fragen und Geschichten bei meinen KlientInnen hervorkrame. Weit entfernt bin ich von meinem Ideal – von Milton Erickson inspiriert – doch für jeden Menschen eine eigene Behandlung zu erfinden. Doch zum Glück, KlientInnen funktionieren nicht, sie ticken so selten richtig, sie entführen mich in ihr Wunderland, in dem das „individuell Logische“ regiert. Picasso hatte recht, es dauerte eine Weile. Es brauchte offenbar die Zeit in all den Kursen und Büchern, um das eigene Nicht-Wissen tolerieren zu können. Heute lädt mich mein Nicht-Wissen immer öfters zum Beobachten, Experimentieren, Spielen und Wundern ein ... dieses erworbene „Nix-Wissen“ ist der erste Schritt Richtung Gleis 9 ¾, das Schlupfloch ins Wunderland, der Eintritt in die Villa Kunterbunt... Dieses Gefühl am Ende des angesammelten Wissens zu sein, ist ein guter Anfang.


 


Bardia Monshi
Dr. Bardia Monshi

ist Gründer und Geschäftsführer des iVip - Institut für Vitalpsychologie in Wien. Seit 1999 als Psychologe, hypno-systemischer Coach, Trainer, Speaker und Autor tätig. Er ist ausgebildeter klinischer- und Gesundheitspsychologe und seit 2002 zertifizierter Arbeits- & Organisationspsychologe; Er arbeitet mit multinationalen Konzernen und Olympiasiegern; und ist selbst Kletterer ;)




Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/